Bücher, Steine und eine Nuss

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          Ana lag in ihrer Hängematte und starrte die Nuss an, die mit ihren Händen zitterte. Konzentrieren war schwieriger als jemals zuvor. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Wer hatte Kaliah verschwinden lassen?

Von vorne.
Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Was hatte sie herausgefunden? Ihr Blick huschte zur Seite und fiel auf den jungen Jägernovizen. Er war ebenfalls noch wach. Sie könnte ihn fragen, aber...

Zu gefährlich. Was, wenn die Jägergilde den Weltenwandler geschickt hatte? Denn geschickt worden war er definitiv. Er hatte so wenig zufrieden mit seiner Aufgabe ausgesehen, dass Ana keine andere Erklärung einfallen wollte.
Langsam kehrte Ana wieder zu ihrer Nuss zurück. Drei Sekunden. Fünf Sekunden. Zehn.

Salem seufzte.

Ana seufzte innerlich.
So würde das nichts werden. Das Zittern unterbindend, ballte sie ihre Finger zur Faust. Kaliah war schon eine Weile fort und sie hatte jetzt gerade genug andere Probleme, um die sie sich Sorgen machen musste. Sie schwang die Beine aus ihrer Hängematte, ließ die Nuss in ihrer Rocktasche beim Monokular und dem Otter verschwinden und schlich zu ihm hinüber.

„Bist du okay?" Sie setzte sich neben Salem auf die Hängematte und war insgeheim mächtig stolz, dass weder sie noch er auf dem Boden landeten.

Salem hatte ein kleines braunes Buch im Schoß, das das Wappen eines zweiköpfigen Drachen trug. Er hatte im Licht der Öllampe zwischen ihnen versucht es zu lesen, sich abzulenken, aber seine zusammengeschobenen Augenbrauen und die schmale Linie seiner Lippen verrieten mehr von seinen Gedanken, als er vermutlich zulassen wollte.

Gabby und Lucah lagen wenige Schritte von ihnen entfernt in seicht schwankenden Hängematten, nachdem Salem verkündet hatte, dass er die erste Wache übernehmen würde. Jetzt war er allerdings so in seinen brütenden Gedanken versunken, dass Ana sicher war, Adriel hätte sich mit einem ganzen Heer an sie heranschleichen können.

„Du siehst nicht sonderlich okay aus", gab sie sich schließlich selbst die Antwort.

„Ich fühle mich auch nicht okay und ich weiß noch nicht einmal, was okay heißt", brummte Salem zurück und klappte geräuschvoll das Buch zu.

Ana seufzte und nahm es ihm vorsichtig aus den Händen. Salz und das gleichmäßige Rauschen der Wellen unter ihnen füllte die Luft mit einem Schlaflied, aber dank der Erinnerung war sie hellwach.
„Ist es wegen Gabby-..."

„Nein."

„Wegen mir-..."

Salem warf ihr einen genervten Blick zu. „Nein, warum sollte ich wegen dir-...", er zögerte kurz, „Doch, vielleicht ist es wegen dir. Das hier ist deine Idee."

Ana zeigte keine Reaktion. Es war immer wegen ihr. Der Schulleiter hatte das gewusst. Ihre Mitschüler hatten das gewusst. Und auch wenn Judy oder Marcus es nie ausgesprochen hatten, auch sie hatten es gewusst. Sie hatte genug Gelegenheiten gehabt, sich daran zu gewöhnen.
„Du musst nicht mitkommen. Ich würde verstehen, wenn du am Festland in eine vollkommen andere Richtung gehen oder Adriel verständigen würdest."

Irgendjemand hatte diese Kaliah verschwinden lassen. Wer wusste, was sie mit einem flüchtigen Jägernovizen anstellen würden.

„Was?", Salems Ausdruck wechselte von ärgerlich zu ungläubig, „Ich werde euch jetzt nicht einfach ausliefern und dann ein gemütliches Leben weiterführen. Hattest du noch nie Freunde?"

Dieses Mal zuckte Ana unter dem blinden Treffer doch zusammen. Cassy war ihre Freundin gewesen. Aber hier? Sie starrte an ihren Fingern und dem Buch vorbei auf den unebenen Boden. Sie hatte keine Freunde hier gehabt.

Bot er ihr an, ihr Freund zu sein? Das war eine uninformiert schlechte Idee.

Sie zwang ein unverbindliches Lächeln auf ihr Gesicht und ein kleines Schulterzucken, das die Schärfe der folgenden Worte abmildern sollte. Leider bekam ihre Stimme das Memo nicht und sabotierte alles durch Höhe und Quietschgehalt.
„Nicht viele."

Salems blonde Augenbrauen zogen sich zusammen und er musterte sie so lange, bis Ana zu zappeln begann.
„Warum nicht?"

‚Sie hat ihrem Psychiater ein Ohr abgebissen.'

‚Das Kind ist gefährlich.'

‚Bitte keine weiteren Eskapaden, nach denen ich mich rechtfertigen muss, mit dir gesehen zu werden.' Die Stimmen brauchten keine Einladungen, waren immer noch genauso klar wie an dem Tag, als Ana sie vernommen hatte. Sie überlappten, sprachen durcheinander und wiederholten sich. Füllten Anas Sicht mit Text.

‚Du würdest denken, ich bin verrückt.'

Es war das erste Mal, das Ana sich selbst in ihren Erinnerungen hörte. Ihre hohe Stimme brachte alle anderen zum Schweigen. Stoppte den Strudel, der sich in ihr auftat und hallte leise nach. Als wäre sie plötzlich alleine in ihrem Kopf.

Nur Adriels Antwort füllte diese Leere.
‚Nein, aber du machst mich mit deinen Geheimnissen verrückt.'

Ana blinzelte. Fühlte sich, als hätte sie Druck auf den Ohren.
Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu ihrer Entscheidung durchzuringen und noch länger, um sie schließlich auszusprechen.
„Ich bin...", die Worte waren so groß und sperrig, dass sie mehrfach Schlucken musste, um ihnen Platz zu machen, „... Ich bin nicht die zuverlässigste Person, mit der man unterwegs sein kann." Es war die netteste Umschreibung, die sie für sich selbst finden konnte. Aber nicht ausreichend: „Manchmal... sehe ich Dinge", sie holte noch einmal sehr tief Luft, „Manchmal passieren Dinge."

Es war, als hätten die Worte ein Stück von ihr mit aus ihrem Köper geholt. Aber Salem verdiente die Wahrheit, die Adriel so schmerzhaft erkämpft hatte. Er hatte ihr geholfen und er verdiente es, jeden Grund zu wissen, warum er es besser nicht tat.
Ana schloss die Augen.

Und sah nicht, wie Salem mit den Schultern zuckte.
„Nennt sich Magie. Vielleicht hatte das Monokular doch recht."

Seine trockene Antwort ließ Ana ein Auge wieder öffnen.
„In meiner Welt nennt man das Wahnsinn." Ihr Griff um das Buch wurde fester, bis ihre Knöchel weiß wurden. Sie könnte es dabei belassen. Magie war so eine nette Ausrede für all das. Aber in ihrer Welt hatte es keine Magie gegeben. Dafür aber sehr wohl merkwürdige Träume. "Und es wird schlimmer."

Dieses Mal hob Salem den Kopf und sah sie von der Seite an.
„Du glaubst, Gabbys Auftauchen ist vielleicht deine Schuld", eine steile Falte bildete sich zwischen Salems Augenbrauen und er musterte sie von der Seite, „Und dass Lady DeCries das genauso sehen würde."

Neben ihm versuchte Ana sich so klein wie möglich zu machen. Alles in ihr schrie danach, aus der Konversation zu fliehen. Hoch an Deck zu gehen und zu vergessen, dass sie irgendetwas in die Richtung angesprochen hatte.
„Ich habe zuletzt versehentlich Adriels Schiff angezündet. Davor waren es nur Träume, die blaue Flecken hinterlassen haben und Bilder, die sonst niemand sah."

Neben ihr entspannte sich Salems Haltung merklich. Mit beiden Händen fuhr er sich erst über das Gesicht und dann durch die Haare, um die einsetzende Müdigkeit in Schach zu halten.
„Achso", Salem zog das Wort in die Länge und nickte verständig, als hätte Ana gerade erklärt, warum man nachts nichts sah, „Traumwandeln. Das haben viele Träger nach ihrer Weltenreise. Ich habe darüber ein Buch gelesen. Es entsteht dadurch, dass eure Seele geteilt wird und sich ein Teil noch immer in eurer alten Welt befindet. Wusstest du, dass daher die Trägerkrankheit kommt und-...", er stoppte, sammelte sich kurz und fuhr dann fort: „Und Weltenwandler wirst du immer anlocken. Du bist am Ende halt eine Trägerin."

Er sprach so selbstverständlich, dass er ihre großen Augen erst gar nicht bemerkte. Und als er sich doch wieder zu ihr umdrehte, zuckte er entsprechend zusammen.
„Was denn? Haben sie dir davon nicht in der Trägergilde erzählt?"

„Nein?", Anas Stimme kam so schrill heraus, dass Lucah sich mit einem protestierenden Laut auf die andere Seite drehte. „Nein?", wiederholte sie leiser, der Schock dumpf auf den Worten. Doch dann sank sie wieder in sich zusammen.
„Ist es noch Traumwandeln, wenn Ad...", sie stockte bei seinem Namen, „Adriel hat mich schon einmal gesehen." An dem Abend, als Salem auch dabei gewesen war. Unsicher tastete sie nach dem Monokular in ihrer Rocktasche. Es war nicht mehr heiß, aber immer noch warm wie eine frische Warnung. Seine glatte Oberfläche suchte sofort den Kontakt zu ihrer Haut, wie eine Katze.

„Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich", etwas lehrmeisterliches schlich sich in Salems Stimme, „Du bist eine Trägerin. Du betrittst physisch eine andere Dimension in deinen Träumen", er zählte die Punkte von seinen Fingern ab, „Und wenn du dabei sogar gesehen wurdest, heißt das, dass du hohe Fluktuation zwischen unterschiedlichen Welten hast."

Anas Gesicht verzog sich.
„Ich weiß, normalerweise ist es andersherum, aber ich habe keine Ahnung, was du gerade gesagt hast."

Salem nickte verständig und hob einen Finger in die Luft. Er öffnete den Mund und-...

„Fluktuation bedeutet bei Weltenwandlern, dass es ihnen besonders leicht fällt zwischen den Welten zu wechseln."

Beide fuhren zu Gabby herum, die sich unter ihrer Decke aufgerichtet hatte und durch das Licht der Öllampe hinweg zu ihnen sah.
„Luftdämonen, die mit der Gabe des Dimensionswechsels geboren sind, haben eine so hohe Fluktuation, dass sie nicht einmal einen Träger oder Schlüssel brauchen. Weltenwandler haben eine niedrigere und Träger die geringste."

Missmutig starrte Salem sie an, stimmte ihr schließlich aber zu.
„Was die Frage birgt, warum du dazu in der Lage warst, eine korporale - das heißt körperliche- Gestalt in unserer Welt anzunehmen", erklärte er Ana, ohne Gabby aus dem Blick zu lassen. Unmerklich streckte er seine Finger zu dem Dolch aus, der neben ihm in der Hängematte lag.

„Das ist nicht die eigentliche Frage", widersprach Gabby, den Blick ernst und Salems empörte Laute ignorierend, „Ist es nicht." Ihre goldenen Augen fanden Ana und brannten zwei Löcher in ihre Haut. „Ich will wissen, warum Ana in Anderthal hineinsehen konnte, bevor sie überhaupt schon einmal hier gewesen ist?"

Anas Mund klappte auf und wieder zu. Sie war wahnsinnig gewesen, bevor sie überhaupt die Welt gewechselt hatte. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper. Sie fühlte sich komisch. Kein einziges Mal hatte sie mir Dr. Neill so offen über ihre Träume reden können. So selbstverständlich. Es fühlte sich fremd an. Unrealistisch in einem Traum, der eine ganze andere Welt erschuf.

Judys Worte wisperten in ihr Ohr: Geh niemals alleine. Du brauchst jemanden als deine Augen und Ohren.

Salem bemerkte es als erster. Vorsichtig berührte er sie an der Schulter, die Geste zurückhaltend und ungewohnt.
„Ich verstehe, warum das in einer Magieignoranten Welt zu Problemen geführt haben muss. Aber es muss dich doch nicht interessieren, ob sie deine Fähigkeiten verstehen oder nicht."

Fähigkeiten.
„Es sind aber keine Fähigkeiten. Sie blockieren mich und dann brauche ich die Hilfe von anderen Menschen, die mich verstehen." Ana hatte ein klein wenig heftiger gesprochen, als sie hatte durchscheinen lassen wollen. Jetzt zog sie die Ohren wieder zwischen die Schultern.

Salem sah sie lange an, ehe er sagte: „Sie haben dich nicht blockiert, als du von der Insel verschwinden wolltest."

Gabby schnaubte. „Vor allem, weil du selbst zu diesen Seelen-...weberinnen (?) willst."

Salems Kopf schnappte zu ihr herum, als hätte sie ihn geohrfeigt, aber Gabby starrte ihn nur weiter an. „Deine Brille beschlägt...", sie machte eine übertriebene Bewegung mit ihren Fingern, um das Wort zu unterstreichen, „...immer, wenn Ana von ihnen spricht. Es ist nicht schwer, zu erraten."

Salems Ausdruck wurde wieder beleidigt, doch das schlechte Gewissen saß ihm im Genick, als er sich zu Ana umdrehte.

„Du brauchst auch etwas von ihnen-... nein!", unterbrach Gabby sich selbst, als eine neue Idee sich hinter ihren Augen bildete. Interessiert lehnte sie sich nach vorne, ihr Kinn auf ihren Handrücken gestützt, während sie den Jägernovizen musterte.

Ana bemerkte davon nichts. Ihre Gedanken kehrten zu Salems Aussage zurück. War sie gerade dabei, sich selbst zu retten? Sie brauchte Salem und Lucah, um zu den Seelenweberinnen zu gelangen. Doch das hatte nichts mit ihrem Wahnsinn zu tun.
Der Gedanke breitete sich wie warmer Glühwein in ihrem Magen aus.

Gabby starrte Salem so unbewegt an, dass dieser rot wurde.
„Die Seelenweberinnen sind mächtig. Du hast keine Ahnung, was sie alles für einen tun können."

„Nein, nein, das ist es nicht", sie wischte die Antwort einfach aus der Luft, „Es ist aber etwas Persönliches. Etwas, worüber du bisher mit noch niemandem hast sprechen können."

Ana blinzelte sich aus ihren Überlegungen wach und starrte fasziniert von Gabby zu einem immer noch schwer atmenden Salem und dann wieder zurück.
„Du liest Menschen!"

Gabby brach ihren Blickkontakt nicht ab, zuckte stattdessen aber mit den Schultern, „Ich war besser in meiner Geburtswelt."

Salems Finger ballten sich zur Faust. Seine Zähne malten aufeinander, als wolle er Gabby stumm dazu zwingen, die Klappe zu halten. Doch schließlich gewann die Weltenwandlerin.
„Ich glaube, mein Bruder ist bei ihnen."

Ana legte den Kopf schief. Ihre geschnittene Handfläche pulsierte.
„Der, der den Dämonenstein gestohlen hat?"

Salem brachte lediglich ein angespanntes Nicken zustande, ohne seinen vernichtenden Blick von der Weltenwandlerin zu nehmen.

Gabby runzelte die Stirn.
„Dämonensteine lassen dich in beliebige Welten reisen."

Anas Herz machte statt einem Schlag drei. Ruckartig sah sie von Salem zu Gabby und wieder zurück, doch der Jägernovize widersprach nicht.

War das... konnte das möglich sein? War das ihr Weg heim?

„Willst du-...", Ana zögerte, „Willst du den Stein für dich selbst?"
Salem war durch das Vergehen seines Bruders in die meisten Schwierigkeiten erst hineingekommen. Bestimmt könnte er sich durch den Dämonenstein bei seinen Meistern in der Jägergilde wieder freikaufen.

Doch der Novize zuckte lediglich mit den Schultern.
„In erster Linie will ich meinen Bruder wiedersehen. Der Stein ist mir egal. Aber mein Bruder-...Versteht ihr das?"

Ana schloss für einen Herzschlag die Augen. Und wie sie das verstand. Cassys Gesicht tanzte vor ihren geschlossenen Lidern und am liebsten hätte sie die Finger ausgestreckt, um sie nur noch ein einziges Mal in den Arm nehmen zu können. Was musste sie inzwischen denken? Dass ihre große Schwester davongelaufen war, ohne sich von ihr zu verabschieden? Die Bilder wurden abgelöst von Kaliahs Schrei und Ana öffnete ruckartig die Augen. Nicht jetzt.
Vorsichtig griff sie Salems Hand und drückte sie einmal.

„Wenn die Seelenweberinnen einen Dämonenstein haben, dann brauchen wir nur noch Dämonenblut und ich könnte dich zurück in deine Welt bringen." In Gabbys Augen spiegelten sich die Flammen, doch sie sah so ernst drein, dass Anas Herz aufgeregt einen Schlag ausließ.

„Dann sollten wir uns beeilen", murmelte Salem, doch er klang deutlich zufriedener als noch zuvor, „Glaubt ihr, Lucah würde uns helfen, ein paar Pferde für die Reise zu stehlen?"

Ana drehte sich zu dem Stallmeister um und entdeckte gerade noch, wie er sich um eine Antwort drückte, indem er schnell wieder die Augen schloss.
Sie lächelte. Vielleicht wollte er nicht mit ihnen reden, aber er würde ihnen helfen. Und sie hatte endlich einen Plan, sich selbst zu retten.

Sie kehrte zu ihrer eigenen Hängematte zurück und holte ihre Nuss wieder heraus. Magisch oder verrückt? Sie streckte ihre Finger und der Schnitt in ihrer Hand zwickte sie. Schnell ballte sie eine Faust um die Nuss. Wenn sie weit genug kommen würden, bevor Adriel sie fand.

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"Ich bin nicht verrückt. Ich bin magisch." - Gratisausrede für jeden, der den kleinen unscheinbaren Stern oben drückt.

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