ZWEI
Jahr 2061
Meine Bücher fest an mich gedrückt streife ich durch die verlassenen Gänge und schüttle die unangenehmen Erinnerungen ab. Wieder einmal bin ich zu spät dran, alle anderen Schüler sitzen längst in den Klassenzimmern. Die ganze Nacht bin ich wach gelegen und habe mich mit den Albträumen herumschlagen müssen, die mich andauernd heimsuchen.
Ein Grölen dringt an mein Ohr und ich senke den Kopf, sodass mir die Haare vor das Gesicht fallen. Natürlich hat Regin nur auf so einen Moment gewartet, um mir abermals aufzulauern und mich zu bedrohen, wenn niemand es sieht.
Kurz überlege ich, umzudrehen und einen Umweg zu machen, doch ich weiß, dass es längst zu spät ist, denn in diesem Moment biegt mein größter Rivale um die Ecke und bleibt mit verschränkten Armen und an die Wand gelehnt stehen. Sein braunes Haar fällt ihm sanft in die Augen, die mich beinahe mitleidig ansehen. Würde ich sein wahres Wesen nicht kennen, könnte ich ihn für nett halten.
»Faith«, meint er und kommt näher. »Wie kommt es, dass du zwanzig Minuten nach Unterrichtsbeginn immer noch in den Fluren herumlungerst?« Hinter ihm tauchen seine Gangfreunde auf und ich seufze. Es wird bestimmt wieder schmerzhaft werden.
»Dann sollte ich jetzt wohl in meinen Raum gehen, um dort eine Abreibung vom Lehrer zu bekommen«, murmle ich und versuche, mich durch den Spalt zwischen ihm und der Wand zu quetschen, doch er stößt mich zurück.
»Sieh es doch endlich ein«, knurrt er, »du gehörst einfach nicht hierher und langsam regt es mich auf, dass du immer so tust, als wärst du etwas Besseres.«
Erschrocken zucke ich zurück. »Ich tue nicht so, als wäre ich etwas Besseres«, hauche ich ängstlich und halte meinen Kopf weiterhin gesenkt.
»Natürlich tust du das«, entgegnet er wütend und rückt mir noch weiter auf die Pelle. »Du bist dir zu schön, mit irgendjemandem einfach nur zu reden, es sei denn, du hast keine andere Wahl. Du verziehst dich in dein Zimmer und willst niemanden sehen. Du bist die hochnäsigste Person, die ich kenne.«
Kopfschüttelnd weiche ich weiter vor ihm zurück. »Du irrst. Das hat gar nichts damit zu tun«, flüstere ich mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen. Tatsächlich habe ich nur Angst, abermals alleingelassen zu werden, nachdem ich endlich jemandem mein Vertrauen geschenkt habe. Diesen Schmerz des Verlustes will ich niemals mehr verspüren.
Es ist jetzt gute drei Jahre her, dass man mein Dorf bis auf die Grundfesten niederbrannte, meine Freunde tötete und mir meine Familie nahm. Ich weiß weder, wo meine Eltern sich aufhalten, noch, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Auch der Grund für das Geschehene ist mir bis jetzt noch nicht genannt worden und wahrscheinlich werde ich es auch nie erfahren.
Stattdessen sitze ich in diesem Internat zwischen verwöhnten Kindern fest, die nicht wissen, was abgrundtiefe Verzweiflung ist und was endloses Grauen überhaupt bedeutet. Sie haben nie über die Leiche eines Freundes steigen oder dabei zusehen müssen, wie die eigene Mutter angeschossen wird. Und sie wissen nicht, wie tief diese Erlebnisse gehen, was sie in einem anrichten und auslösen.
»Ach ja? Was hat denn damit zu tun?«, will Regin wissen und ein fieses Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. Ich schließe die Augen und ziehe mich an einen Ort zurück, an dem weder er noch Sold noch irgendjemand anderes existiert.
Ein Schlag lässt mich wieder aufschrecken und ich sehe direkt in Regins grünen Augen, die mich finster anfunkeln. »Ich habe mit dir geredet, nun gib mir gefälligst eine Antwort!«, fordert er und hinter ihm jubeln seine Anhänger.
Auf einmal kocht in mir der angestaute Zorn von drei Jahren hoch und ich explodiere. Rasend schnell hole ich aus und gebe ihm einen Kinnhaken, der ihn einige Schritte zurücktaumeln lässt. »Lass mich gefälligst in Ruhe, Regin, sonst wird es dich teuer zu stehen kommen!«
Teils bin ich selbst über meine Reaktion entsetzt. In all den Stunden der Selbstverteidigung, in denen ich bis jetzt unterrichtet wurde, habe ich es niemals geschafft, einen richtigen Schlag auszuteilen, weil Gewalt mich nur wieder an vergangene Zeiten erinnert, doch nun habe ich es endlich geschafft. Ein befreites Gefühl steigt in mir auf und ich löse mich von der Wand. Hoch aufgerichtet und die Hände in die Seiten gestemmt blicke ich auf meinen Gegner hinab. Nicht länger ist es die Angst, die mich kontrolliert und zwingt, mich zu verstecken, sondern die Wut, die mich dazu bringt, endlich zu handeln.
Keuchend richtet Regin sich auf und funkelt mich an, dann stürzt er sich mit einem unterdrückten Brüllen auf mich. Ich versuche, mich so gut wie möglich vor den Schlägen zu schützen, die auf mich niederprasseln, doch da seine Freunde zu ihm halten und ebenfalls gegen mich kämpfen, stehen meine Chancen mehr als schlecht.
Leider haben sie keine Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ihre Eltern sind einflussreiche Persönlichkeiten in der Regierung -einer der Gründe, weshalb ich sie nicht ausstehen kann - und schaffen es immer, ihre Kinder vor Anschuldigungen zu schützen.
»Du gehörst nicht hierher, Evans! Kehr dorthin zurück, woher du gekommen bist!«, zischt Regin mir ins Ohr, dann schubst er mich brutal gegen die Wand. Vor meinen Augen verschwimmt alles, mein Körper fühlt sich an, als wäre ich eine Treppe heruntergefallen, von einem Zug erfasst und am Ende vor einem Auto überfahren worden.
Als ich wieder klar sehe, sind die anderen verschwunden.
Möglicherweise hätte ich ihn einfach weiter mit Beleidigungen um sich schmeißen lassen sollen, statt ihm die Stirn zu bieten und ihn damit so sehr zu reizen, dass er mich krankenhausreif schlägt. Doch trotz der Schmerzen kann ich nicht umhin, bei der Erinnerung, wie ich mich gewehrt habe, zu lächeln. Endlich einmal alle Vorsicht fahren zu lassen, fühlt sich unglaublich gut an, auch wenn ich dafür zweifellos noch werde bezahlen müssen... Regin lässt niemals eines seiner Opfer davonkommen, schon gar nicht, wenn es ihn bloßgestellt hat.
Vorsichtig erhebe ich mich und sammle meine Bücher und den Inhalt meiner Tasche ein, dann begebe ich mich stöhnend zur Toilette, wo ich mit zweifelhaftem Erfolg die Blessuren zu verbergen versuche, was angesichts der aufgeplatzten Lippen, des blauen Auges, einigen kleineren Platzwunden und unzähligen blauen Flecken, die sich bereits ausbilden, nur teilweise gelingt. Schließlich mache ich mich mit einem unguten Gefühl im Magen auf zum Klassenzimmer, wo der Horror gleich weitergehen wird.
Die Lehrerin dreht sich nicht einmal um, als ich die Tür öffne, doch nachdem ich schon so oft zu spät gekommen bin, weiß sie, dass ich es bin. »Faith Evans«, meint sie mit fester, eindeutig tadelnder Stimme. »Ein weiteres Mal zu spät. Langsam wundert es keinen mehr.«
Schweigend bleibe ich weiterhin stehen und sie wendet sich mir zu. Erschrocken schnappt sie nach Luft und schlägt sich eine Hand vor den Mund. Eigentlich sollte sie sich an diesen Anblick schon gewöhnt haben, immerhin ist er beinahe jede Woche zu sehen. Religon lässt nichts unversucht, um mich vom Internat fliegen zu lassen. »Um Himmels Willen, was ist denn mir dir geschehen?«, ruft die Lehrerin aus und eilt zu mir. Ich zucke die Schultern, als wüsste ich es auch nicht so genau und als würde es mich auch nicht wirklich interessieren, doch davon lässt sie sich nicht irritieren. Nachdem sie der starrenden, sensationsgierigen Klasse einen Arbeitsauftrag erteilt hat, führt sie mich zum Direktor. Mittlerweile kenne ich sein Büro beinahe genauso gut wie mein Zimmer.
Als ich eintrete, sieht er einige Sekunden später auf und ich spüre seinen Blick auf mir, der mich einer genauen Musterung unterzieht. »Faith«, spricht er meinen Namen aus, als wäre damit alles klar. »Was ist geschehen?«
Locker zucke ich die Schultern. »Bin gestolpert und eine Treppe hinuntergefallen«, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nickend lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und legt die Fingerspitzen aneinander. »Weshalb wundert mich deine Antwort nicht?«, murmelt er sarkastisch. »Ich meine, wenn du es schaffst, gegen eine Wand zu laufen und dir dabei ein blaues Auge zu holen, dann ist Stufen hinunterfallen beinahe einfach zu meistern.« Frustriert seufzt er. »Langsam hast du keine Ausreden mehr parat, Faith. Letzte Woche hattest du eine angebrochene Rippe.«
Bei der Erinnerung daran verziehe ich das Gesicht, antworte jedoch nicht auf die Frage, die spürbar im Raum steht.
»Wenn du mir nicht sagst, wer dir das antut, kann ich dir auch nicht helfen!«, versucht er mich weiterhin zu überzeugen und aus seinen Augen spricht so viel Hilfsbereitschaft, dass ich ihm beinahe geglaubt hätte.
Aber nein, gegen jemanden wie Regin kann man nicht gewinnen, seine Familie hat Geld und ist hoch angesehen, während meine Familie beinahe schon als Abschaum betrachtet wird. Ich bin der niedrige Bauer aus irgendeinem Dorf, das so unwichtig war, dass man es mitsamt seinen Bewohnern niederbrennen konnte, bis nichts mehr übrig war.
In Wahrheit ist alles hier nur Farce. Der Direktor versucht, den Schein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten, will jedoch in Wirklichkeit gar nicht, dass ich ihm alles erzähle. Nach drei Jahren an diesem Ort habe ich das System genau durchschaut.
»Ich bin die Treppe hinuntergefallen«, wiederhole ich nachdrücklich und senke den Kopf, als er mich ein weiteres Mal inspiziert.
»Na gut, du kannst gehen. Lass dich in der Krankenstation versorgen«, entlässt mich der Direktor mit einem Wink.
»Danke, Sir«, verabschiede ich mich knapp und schließe leise die Tür hinter mir. Kaum habe ich das Büro verlassen, lasse ich den distanzierten Gesichtsausdruck fallen und verziehe das Gesicht. Schnell hebe ich das Bein an, das ich beinahe nicht mehr belasten kann, dann humple ich durch die Stockwerke und Gänge, bis ich letztendlich in der Krankenstation ankomme, wo sich einige Schwestern augenblicklich um mich kümmern.
Man untersucht mich und betupft die schlimmeren Verletzungen sanft mit einem Mittel, das die Schwellung zurückgehen lässt. Morgen wird man wahrscheinlich nicht einmal mehr etwas sehen.
Als ich endlich fertig bin, schlurfe ich auf mein Zimmer, um etwas anderes anzuziehen, dann begebe ich mich in den Unterricht. Die zweite Stunde hat natürlich schon lange begonnen und wäre ich nicht Faith Evans, bekäme ich nun einen Tag frei, doch da ich seit einiger Zeit keine Woche mehr überstehe, ohne zusammengeschlagen zu werden, gelten für mich nicht die selben Regeln.
Und Regin wundert sich, weshalb ich mit niemandem reden will?, denke ich sarkastisch und bin selbst überrascht, dass ich so gelassen bleibe, obwohl eine ganze Gruppe über mich hergefallen ist.
Unglaublich!, meine ich und öffne die Tür zum Klassenzimmer mit einem Lächeln auf den Lippen. Mein Blick streift Regin, dessen Gesichtsausdruck sich von Genugtuung in Angst und dann in Wut verwandelt, als er mich sieht. Wahrscheinlich vermutet er jetzt, ich hätte ihn verpetzt, sonst würde ich nicht so aufrecht stehen. Mein Stolz wird mich später mit Sicherheit teuer zu stehen bekommen, doch im Moment genieße ich das einmalige Gefühl der Überlegenheit.
Leise schleiche ich mich zu meinem Platz, damit ich den Lehrer nicht unterbreche. Die ganze Stunde über spüre ich Regins stechende Blicke, doch ich ignoriere sie geflissentlich. Er sollte endlich erkennen, welch ein furchtbares Erlebnis es ist, wenn man Angst haben muss und kein Fluchtweg mehr offen steht. Ich will ihn spüren lassen, was er mir fast drei Jahre lang angetan hat.
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