DREI

Einige Tage danach

Regin zu schlagen war nur ein kleiner Akt des Aufbegehrens, doch ich merke seitdem, dass ich mich verändere. Wo ich früher noch voller Angst mit gesenktem Kopf durch die Flure gelaufen bin, schreite ich heute mit weit ausholenden, selbstbewussten Schritten dahin. Zwar bin ich immer noch die Außenseiterin und das Opfer unter all den hoch Angesehenen, was mich Regin und seine Gruppe nicht vergessen lassen, aber ich lasse mich nicht mehr so einschüchtern wie früher.

Die meiste Zeit des Tages verbringe ich wie gehabt in der Bibliothek des Internats, die so riesig ist, dass ich Zweifel habe, jemals das volle Potential der Ansammlung von Büchern auszuschöpfen, was mich dazu antreibt, es nur noch mehr zu wollen und auch zu versuchen.

Mit gerunzelter Stirn versuche ich aus der Matheaufgabe schlau zu werden, die wir als Hausaufgabe aufbekommen haben. Sonst habe ich eigentlich nie Schwierigkeiten, etwas auszurechnen, doch hinter dieser Formel steckt scheinbar keine Logik. Und Dinge, die nicht logisch sind, finde ich schrecklich, denn das kopiere ich immer sofort auf mein eigenes Leben, das auch keinem bestimmten Muster folgt. Die einzige tagtägliche Situation ist die Demütigung, die ich über mich ergehen lassen muss.

Seit drei Jahren suche ich nach Gründen, weshalb ich hier bin, weshalb man mein Dorf niederbrannte und meine Eltern gefangen nahm, doch man verbietet mir den Mund, lässt mich verstummen und ermahnt mich.

Mittlerweile habe ich festgestellt, dass Antworten das höchste Gut in diesem Internat sind, denn davon gibt es kaum welche.

Die schwere Tür fällt zu und ich zucke zusammen. Selbst das leiseste Geräusch bleibt mir nicht verborgen, es scheint, als würde ich jedes Ereignis, das um mich herum geschieht, in mich aufsaugen. Meine Muskeln spannen sich an in der Erwartung, eine unangenehme Überraschung zu erleben, doch es ist nur Dolores, die Bibliothekarin, die meine Liebe zu Büchern teilt. Mehr weiß ich auch schon nicht mehr über sie, obwohl sie es – das glaube ich zumindest – gerne ändern würde.

Sie kommt auf mich zu, einen Stapel Bücher unterm Arm. Dolores ist vielleicht vier Jahre älter als ich, also ungefähr zwanzig Jahre alt. Sie ist hübsch und modebewusst, was mich immer wieder dazu veranlasst, mich zu wundern, wieso es sie ausgerechnet hierher verschlagen hat, besonders, weil ich manchmal den Eindruck habe, es würde ihr hier nicht einmal gefallen. Sie wäre jedenfalls nicht die erste, die nicht sonderlich begeistert davon ist hierzusein.

»Hallo, Faith«, sagt sie und lächelt mich breit an. Ich nicke nur kurz, sehe sie jedoch nicht an, sondern blicke auf meine verzwickte Aufgabe. Was ich mittlerweile noch mehr hasse als vollkommen ignoriert zu werden, ist es, angesprochen zu werden. Meine Abneigung, Freundschaften einzugehen, mag manchen absurd erscheinen, aber bis jetzt habe ich noch keine Person in diesem Gebäude kennengelernt, die dafür geeignet zu sein scheint, mich zu verstehen oder vertrauenswürdig genug ist, um ihr meine Gefühle offen darzulegen.

Ächzend lässt Dolores den Stapel Bücher auf den Tisch fallen und nun blicke ich doch auf. Neugierig betrachte ich auf die unbekannten Einbände und frage mit kaum überhörbarer Verwunderung: »Sind die neu?«

»Ja«, antwortet Dolores stolz und lacht. »Der Direktor hat mir eine jährliche Summe zugestanden, mit der ich einige Bücher besorgen kann.«

»Das ist wunderbar«, murmle ich und fühle trotz des ganzen unwirklichen Gehabes ein Gefühl von Dankbarkeit dem Mann gegenüber, der den Titel des Direktors trägt.

»Oh ja, das ist es«, stimmt Dolores mir zu, dann hält sie inne. »Hättest ... Hättest du Lust, mir beim Katalogisieren behilflich zu sein?« Ich merke sehr wohl, wie zögerlich diese Worte kommen und weiß, dass sie nicht wirklich denkt, dass ich auf das Angebot eingehe, doch zu meiner eigenen Überraschung nicke ich langsam.

Beinahe erleichtert, das Mathematikbuch für einige Zeit schließen zu können, schlage ich es zu und befördere es zurück in meine Tasche, wo es eingeklemmt zwischen Geschichts- und Sozialkundebüchern darauf warten wird, bis ich es wieder hervorhole, um die Aufgabe doch noch einmal zu überfliegen, weil ich es einfach nicht aushalte, etwas nur halb fertiggestellt zu haben.

Ich begleite die Bibliothekarin in den kleinen angrenzenden Raum, wo sich auf einem robusten Sekretär Stapel von Formularen und anderweitigem Papierkram häufen. Aufmerksam beobachte ich, wie Dolores ein dickes, in Leder gebundenes Buch aus dem Regal nimmt und es irgendwo in der Mitte aufschlägt.

»Hier sind alle Bücher verzeichnet, die das Internat jemals als sein Eigen bezeichnet hat. Natürlich sind viele schon wegen ihres fortgeschrittenen Zerfalls oder wegen ihres unerlaubten Inhalts entfernt worden. Aber die Anzahl ist überwältigend«, erklärt sie. Neugierig beuge ich mich vor und blicke auf die aufgeschlagene Seite, die noch zu drei Vierteln leer ist und darauf wartet, dass jemand sie beschreibt.

»Kannst du die Bücher schon einmal nach den Autoren ordnen, dann haben wir es später leichter, alles zu nummerieren und es entsteht keine Unordnung. Bei Gott, die habe ich hier sowieso schon im Überfluss«, meint sie mit gerümpfter Nase und schüttelt den Kopf. »Ich muss noch schnell die zweite Ladung holen.«

»Klar«, willige ich ohne Zögern ein und kaum hat sie mir den Rücken zugewandt, mache ich mich an die Arbeit. Erstaunt merke ich, dass auch Bücher dabei sind, die uns normalerweise untersagt sind zu lesen. Die Regierung hat eigentlich beschlossen, Inhalte mit zweifelhaftem Lehrpotential entfernen zu lassen, doch hier vor mir stapeln sich Action-, Fantasy- und Science-Fiction-Romane.

Mit fahrigen Fingern greife ich nach einem Buch, dessen Covergestaltung mich besonders anspricht, als ein Blatt, das darunter gelegen hat, meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist ein kurz gehaltener Schrieb, beinahe wie eine E-Mail aufgebaut.

Ich nehme das Blatt in die Hand und überfliege den Text kurz, dann lese ich ihn noch einmal genauer durch. Verwirrt über das, was ich gelesen habe, runzle ich die Stirn, bis ich höre, dass Dolores sich mir wieder nähert. Schnell schiebe ich den Brief zwischen einige lose Blätter und nehme stattdessen einen Roman zur Hand.

»Und, hast du etwas gefunden, das dich interessiert?«, will sie wissen und ihre Augen blitzen voller Tatendrang.

»Ja, allerdings«, murmle ich und lege das Buch wieder beiseite, um es durch einen einfachen Stift zu ersetzen. »Allerdings.« Noch einmal schweifen meine Gedanken zu dem Blatt ab, dann ermahne ich mich zur Konzentration und gebe mein Bestes.

† † †

Der Nachmittag ist bereits fortgeschritten und draußen senkt sich die Sonne schon dem Horizont entgegen, ihr wunderschönes Farbenspiel leuchtet am Himmel wie ein Regenbogen.

Müde mache ich mich für das Abendessen bereit und versuche, meinen Unmut unter Kontrolle zu bringen. Nachdem ich stundenlang über Mathe gehockt und auf keinen grünen Zweig gekommen bin, hatte es mit meiner Geduld ein Ende.

Zum wiederholten Mal fällt mir auf, wie trostlos mein Zimmer wirkt. Außer einem Bett, einem Schrank für Kleidung und einem Schreibtisch, auf dem sich Hefte und Schulbücher türmen, ist der kleine Raum leer. Keine Fotos von vergangenen glücklichen Erlebnissen mit meinen Eltern oder im Internat, keine Gegenstände, die ich mein Eigen nennen könnte. Andere Kinder bekommen von ihren Verwandten Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten, aber ich nicht. Wahrscheinlich sitzen meine Eltern hinter Gittern oder können sich aufgrund einer Löschung an gar nichts mehr erinnern, weil sie eines Verbrechens beschuldigt werden. Ich kenne sie nicht gut genug, um sagen zu können, ob sie das Verbrechen auch wirklich begangen haben. Mein ganzes Leben war bis jetzt eine einzige Lüge, sowohl vor dem Internat als auch jetzt, nur, dass ich nun auch noch in einem Gebäude festsitze, das für mich schon lange zum Gefängnis geworden ist.

Seufzend ziehe ich die Tür auf und trete in den Flur hinaus. Das Licht ist schummrig und kaum hell genug, um mir den Weg zu leuchten, doch nach dem dreijährigen Aufenthalt hier kenne ich mich gut genug aus, um nicht irgendwo anzurennen.

Von draußen dringt ein Donnern durch die Wände und eine Lampe über mir fängt an zu flackern. Ein Blitz folgt und ich beobachte, wie er grell leuchtend durch den Himmel zuckt. Am Fenster stehend gönne ich mir noch eine kleine Gnadenfrist, bevor ich zum alltägliche Treffen aller Schüler runtergehen muss, das jeden Nachmittag stattfindet. Der Lärm dort ist kaum auszuhalten und ich kann auch nicht behaupten, dass ich mich darauf freue, Regins Visage wiederzusehen. Er ist noch schlimmer geworden seit dem letzten Vorfall und nutzt jede Sekunde, um mich in Bedrängung zu bringen. Zumindest greift er mich nicht mehr körperlich an, da er Angst hat, man könnte ihn beobachten und sein kleines Geheimnis aufdecken. Er glaubt mir nicht, dass ich ihn nicht verpetzt habe, was mir jedoch ganz und gar nichts ausmacht. So habe ich zumindest keine blauen Flecken mehr, die es zu vertuschen gilt.

Ein weiteres Donnern lässt mich aufschrecken und lenkt meinen Blick in den Himmel, wo sich eine schwarze Wolkendecke gebildet hat. Die ersten Regentropfen trommeln schon auf das Dach des Internats. Ein typisches Sommergewitter – bis ich im Bett bin, wird es bestimmt schon wieder vorüber sein.

Endlich wende ich mich ab und gehe langsam die Stufen hinunter, doch als ich nicht weit vor mir Stimmen flüstern höre, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Mein Herz beginnt schneller zu pochen und mein Instinkt rät mir, mich wieder auf mein Zimmer zu begeben oder genau das Gegenteil zu tun und Lärm zu machen, solange ich nur nicht in Versuchung gerate, zu lauschen.

Nicht weit unter mir erkenne ich zwei Männer und einen davon kann ich als den Direktor identifizieren. Aber meine Neugierde siegt und ich begebe mich Stufe für Stufe hinunter, statt auf meinen Verstand zu hören.

Man hat mich bis jetzt noch nicht bemerkt, sei es wegen meiner Geschicklichkeit, leise zu sein, oder, weil das Licht immer noch sehr schwach ist. Jedenfalls folge ich den beiden in einem Abstand von zehn Metern und husche in dunklen Schatten umher, darauf bedacht, auf keine der knarrenden Dielen zutreten.

Noch immer versucht mein Verstand mich davon zu überzeugen, was für eine Dummheit ich gerade begehe und welche Folgen es haben könnte, den Direktor auszuspionieren. Am Ende ist es eine einfache, nichtssagende und im Grunde unbedeutende Unterredung, für die ich so viel aufs Spiel setze.

Es muss wichtig und vor allem geheim sein, denke ich. Warum sollten sie sonst flüstern?

Meine Neugierde hat mich bis jetzt nur in Schwierigkeiten gebracht, was mir eigentlich zu denken geben sollte, doch anscheinend lerne ich aus meinen Fehlern nicht.

Vor mir halten die Männer inne und der Direktor zieht einen Schlüssel hervor, mit dem er die Tür aufsperrt. Die beiden verschwinden im Büro und schließen hinter sich wieder ab. Ich schleiche dorthin und lege ein Ohr an das dicke Holz, durch das die Stimmen nur sehr gedämpft dringen und kaum noch verständlich sind. Angestrengt lausche ich.

»Wir haben sie gefunden«, sagt der Unbekannte und ich höre, dass er über diesen Umstand sehr erfreut ist.

Der Direktor räuspert sich. »Wann werden sie ankommen?«

»Das hängt von den Komplikationen ab. Der Junge ist sehr aufbrausend und weiß sich zu wehren, aber das Mädchen ist hilflos und verhält sich weitestgehend ruhig. Ash wird sich zügeln, solange er weiß, dass wir seine Schwester in unserer Gewalt haben, daher denke ich, es wird nicht allzu lange dauern. Er wird mit uns kooperieren.«

»Das will ich hoffen«, meint der Direktor. »Ich brauche nicht noch mehr Ärger innerhalb dieser vier Wände. Und die Regierung wäre auch nicht erfreut, zu hören, dass ein ernst zu nehmender Feind ausgerissen ist und nun auf freiem Fuß umherstreift und auf Rache sinnt.«

»Ja, wohl wahr«, stimmt der Fremde zu, »aber ich kann versichern, dass alles glatt laufen wird.« Eine kurze Zeit herrscht Stille, dann fragt der Unbekannte: »Was meinten Sie damit, es gäbe Ärger im Internat?«

»Vor einigen Jahren nahm man hier schon einmal jemanden auf, der ähnlich wie die Geschwister war. Ein Mädchen, das sich bis jetzt noch nicht richtig eingelebt hat, sondern eher zur Einzelgängerin geworden ist.«

»Sie meinen Faith«, mutmaßt die Person und beim Klang meines Namens stockt mir der Atem. »Sie macht Ärger?«

»Nein«, antwortet der Direktor zu meiner Überraschung. »Ich meine, es hat schon etwas mit ihr zu tun, aber tatsächlich ist sie das Opfer. Sie wird von einem Jungen – Regin – bedrängt. Zumindest habe ich das Gefühl, dass es so ist, sagen will sie es mir nicht.«

»Die Kleine ist nicht dumm. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn sie den Mund hält. Würde sie es erzählen, würden Regins Eltern alle Beschuldigungen mit einem Wink abtun. Man würde Faith keinen Glauben schenken, schon gar nicht mit diesen Eltern.«

»Wahrscheinlich«, murmelt der Direktor, »aber das spielt keine Rolle mehr. Die Ergebnisse für den Test stehen. Und wir wissen beide, das System lügt nicht.«

»Der Junge ist mit dabei?« Eine kurze Pause, dann meint der Fremde: »Das wird seinen Eltern nicht gefallen.«

»Erzählen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß. Zum Glück muss ich es ihnen nicht persönlich sagen. Ich hoffe nur, sie kommen nicht auf die irrwitzige Idee, ich hätte das veranlasst.«

Der Fremde, dessen Stimme mir mittlerweile vertraut erscheint, lacht leise. »Bestimmt nicht, immerhin haben sie den Test mit entwickelt. Auch sie müssen sich an die Regeln halten, die sie selbst aufgestellt haben.«

»Ich hoffe es. Man ist der Regierung gegenüber schon misstrauisch genug. Eine weitere unfaire Abänderung der Gesetze würde das Fass zum Überlaufen bringen.«

»Dann wollen wir hoffen, dass Regin früh genug ausscheidet. Das wäre das Beste für alle beteiligten Seiten. Sobald der Termin festgelegt ist, werde ich mich wieder melden und man wird jemanden schicken, der die Absolventen des Tests prüfen wird. Jemanden, der in die Köpfe anderer Menschen hineinschauen kann und die Wahrheit erkennt.«

»Wie lange noch ungefähr bis zum Start?«, will der Direktor wissen.

Der Fremde murmelt: »Womöglich in drei Wochen, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Der letzte Test hat vorgestern den Abschluss gefunden, von daher ... Die Übergangsphase vergeht immer sehr schnell.«

»Ja, da haben Sie recht.« Der Direktor hört sich ein wenig säuerlich an, als würde es ihn ärgern, dass alles so schnell vonstatten geht. »Das heißt, die Geschwister werden noch diesmal teilnehmen?«

»Der Junge mit Sicherheit, aber das Mädchen ist noch vergleichsweise jung. Sie könnte Glück haben. Sie haben die Teilnahmeliste, nicht ich. Ich bin nur ein Werkzeug.«

»Sie machen uns alle zu ihren Werkzeugen«, höre ich den Direktor noch sagen, dann rapple ich mich auf und laufe so schnell und leise wie möglich davon, Panik und Schreck sitzen mir noch immer in den Knochen, doch am meisten bin ich verwirrt.

Zuerst der Brief über das verschwundene Mädchen und ein eigenartiges Dorf, der auf Dolores' Tisch lag, nun das Gespräch, in dem es um einen imaginären Test ging, der allem Anschein nach kein Spaß ist. Der Direktor scheint von der Idee dieses Tests kein bisschen angetan zu sein und das sollte mir zu denken geben. Besonders, weil Regin diesen Test würde absolvieren müssen. Und wenn er als Sohn von Regierungsmitgliedern daran teilnehmen muss, werde ich mit hundert Prozent ebenfalls auf der Liste stehen, von der der Direktor gesprochen hat. Was auch immer dieser Test zu bedeuten hat und was er beweisen soll, er verheißt nichts Gutes.

Ich muss diese Liste finden, um Gewissheit zu haben. Und ich muss acht geben, dass ich nicht mit den Geschwistern in eine Schublade gesteckt werde, von denen man nicht allzu viel zu halten scheint. Ich muss schlau sein und mich vorerst bedeckt halten.

† † †

Völlig aufgelöst platze ich schließlich in die Versammlung, doch keinem scheint meine Verspätung aufzufallen, was mich erleichtert aufatmen lässt.

Statt zuzuhören, was der Lehrer für eine Ansprache hält, ziehe ich mich in mich zurück und überlege, was das alles zu bedeuten hat. Das kann kein Zufall sein, etwas wird geschehen, und ich habe kaum mehr Zeit, um herauszufinden, was vor sich geht.

Mir war bis jetzt nicht klar, wie sehr ich an meinem Leben hänge. Eigentlich ist es nicht gerade viel Wert, zumindest vermitteln mir die meisten in diesem Gebäude diesen Eindruck, aber ich will es trotzdem nicht aufgeben.

Du weißt doch gar nicht, ob es tatsächlich darum geht. Vielleicht ist es ein ganz harmloser Test. Eine Lehrerin hat einmal gesagt, es gäbe einen Test, nach dessen Ergebnissen die Arbeitsstellen verteilt werden. Vielleicht mache ich gerade einen riesigen Hype darum und es ist gar nichts Schlimmes, versuche ich mich zu beruhigen, glaube es jedoch keinen Moment lang. Dafür waren die beiden Männer zu angespannt, als sie sich darüber unterhalten haben. Es muss etwas anderes sein, etwas Gefährliches, wenn es so schlimm ist, dass Regin daran teilnimmt.

Warum sonst sollte man versuchen, den Test so lange vor uns geheim zu halten? In was wird man darin geprüft?

Auf einmal wird es still im Raum und ich sehe hoch, interessiert, was nun geschehen ist. Die Gesichter, in die ich blicke, sind angespannt oder von Neugier erfüllt. Alle Blicke sind auf den vorne stehenden Lehrer gerichtet und ich folge diesem Beispiel.

»Sicherlich haben sich einige schon gefragt, was mit Rose Huntington geschehen ist, einer Schülerin aus dem elften Grad. Vor einem Tag schien sie plötzlich verschwunden zu sein, sie war unauffindbar. Bestimmt haben mache sich Sorgen gemacht, daher hat der Lehrerkreis beschlossen, zu erklären, was tatsächlich geschehen ist. Rose wurde aufgrund ... ihrer Intelligenz für einen hochrangigen Job angenommen und musste schnell dorthin fahren, weshalb sie sich nicht von ihren Freunden verabschieden konnte. Jedoch hat sie ihren am nächsten Stehenden Briefe hinterlassen. Diese wird man bei gegebener Zeit denjenigen zukommen lassen. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen, alles ist in bester Ordnung.« Der Lehrer lächelt herzlich in die Runde und beinahe hätte ich den Eindruck gehabt, er sage die Wahrheit, doch dann sehe ich für einen kurzen Moment einen Schatten über sein Gesicht huschen und weiß, dass er gelogen hat.

Sie lügen alle. Alle lügen immer wieder. Aber ich will endlich, dass sie die Wahrheit sagen, egal, wie schmerzhaft und wie katastrophal sie auch sein mag.

Der Lehrer beendet die Versammlung mit einem Kopfnicken, nachdem er seinen Blick noch einmal über die Menge hat schweifen lassen, dann wendet er sich demonstrativ ab und geht, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.

† † †

Der Tag scheint nicht besser werden zu wollen. Habe ich am Morgen noch gedacht, der bevorstehende Test in Chemie wäre schrecklich, so würde ich jetzt am liebsten in diese Stunde zurück. Manchmal kann Unwissenheit echt ein Segen sein. Dann müsste ich mich jetzt nicht mit den wirren Gedanken herumschlagen, die mir durch den Kopf schwirren, während ich die Gänge durchquere.

Plötzlich höre ich ein leises Geräusch, kaum vernehmbar, aber doch existierend. Unmerklich hebe ich den Kopf und lege ihn zur Seite, ein Ohr genau auf die Stelle gerichtet, wo ich das Geräusch vernommen habe.

Auf einmal rammt mich etwas von hinten und bevor ich einen erschrockenen Schrei ausstoßen kann, legt sich eine Hand fest und unnachgiebig auf meinen Mund und über meine Nase, sodass mir auch die Luft abgeschnitten wird. Vor meinen Augen wird alles dunkel, als man mir etwas über den Kopf stülpt, dann werde ich herumgeschubst und einen Weg entlanggeführt, den ich im Kopf zu verfolgen versuche, jedoch daran scheitere.

Endlich lässt man mich los und schubst mich grob zu Boden. Meine Hände schrammen über rauen Stein und die Handflächen reißen auf. Der Sack wird mir vom Kopf gezogen und blinzelnd mustere ich den Raum. Noch nie zuvor war ich hier. Die Wände sind aus rohem, grauem Stein, nicht verputzt und dreckig, der Boden ist an manchen Stellen feucht und uneben. Leichter Modergeruch hängt in der Luft, was darauf schließen lässt, dass man mich in ein Kellergewölbe geführt hat.

»Was soll das, Regin?«, frage ich und fixiere den Jungen, der nah an der Tür lehnt und mich aus zusammengekniffenen Augen genau beobachtet, jederzeit bereit, einen Fluchtversuch zu unterbinden oder zu vereiteln. »Du hast doch nicht echt vor, mich zu entführen und hier verhungern zu lassen, oder?«

Er runzelt die Stirn und löst seine verschränkten Arme, sodass sie locker herunterhängen. »Wäre vielleicht keine schlechte Idee, aber nein.« Er kommt langsam auf mich zu und geht vor mir in die Hocke. »Ich will wissen, was du beim Direktor gemacht hast.«

Genervt stöhne ich auf. »Das habe ich dir doch schon erzählt. Ich habe ihm gar nichts erzählt, verstanden? Du kannst ihn fragen, wenn du willst!«

»Ich meinte nicht das vor drei Tagen. Ich meinte heute, als du zu spät zur Versammlung gekommen bist. Du warst beim Direktor, ich hab dich weggehen sehen.«

»Verdammt!«, zische ich wütend. »Du spionierst mir nach?«

Ein schiefes Lächeln blitzt in seinem Gesicht auf und er legt den Kopf schief. »Seine Feinde muss man im Auge behalten. Stimmst du mir da nicht zu, Faith?«

»Ja, allerdings«, knurre ich, immer noch ungläubig, dass er mir tatsächlich gefolgt ist und ich es nicht einmal mitbekommen habe. Ich war nicht nur Jäger, sondern auch Gejagte.

»Nun gut«, meint er gelangweilt und inspiziert seine Fingernägel. »Was hast du nun dort gemacht?«

Da ich weiß, lügen würde kaum etwas bringen, rücke ich am besten gleich mit der Wahrheit heraus. Außerdem würde es sowieso nichts nützen, mich zu weigern, früher oder später würde er es so und so herausfinden. Das ist Regins Spezialgebiet.

»Ich habe ein Gespräch belauscht«, gebe ich zu und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Regins fragender und erwartungsvoller Blick lässt mich fortfahren. »Es ging um ein Geschwisterpaar und um einen Test. Einen Test, den deine Eltern scheinbar entwickelt haben.« Ich blicke zu ihm auf.

Vielleicht täusche ich mich, aber seine Haut scheint eine Spur blasser geworden zu sein, auch wenn er sich sonst nichts anmerken lässt. »Und weiter?«, hakt er nach.

Unsicher druckse ich herum und weigere mich, es auszusprechen, weil ich nicht weiß, wie Regin darauf reagieren wird und der Umstand, nicht zu wissen, wie es weitergeht, macht mir Angst.

»Und weiter?«, wiederholt er und ich gebe nach.

Noch einmal hole ich tief Atem, dann stoße ich hervor: »Du stehst auch auf der Liste.«

»Was?«, stößt er hervor und nun meine ich doch eine Spur Panik in seinen Gesichtszügen ausmachen zu können. »Das ist nicht möglich. Ich stehe doch gar nicht zur Auswahl!« Er springt auf und tigert im Raum auf und ab. »Das können sie doch nicht wirklich tun.«

»Der Direktor hat gesagt, man hat gar keine andere Wahl. Das System würde die Wahrheit kennen, selbst, wenn die Menschen es nicht tun.« Ich stocke und überlege, ob ich ihm eine Frage stellen kann, entscheide mich dann dafür. »Was meinte er damit? Worin besteht dieser Test, Regin?«

Er wirbelt zu mir herum und in seinen Augen flackert etwas, das ich bis jetzt noch niemals gesehen habe. Beinahe mit einem Ausdruck von Entsetzen und gleichzeitig Wahnsinn zu vergleichen. Nichts, was ich jemals wieder sehen will.

»Es bedeutet, ich bin verloren«, haucht er kaum hörbar und sein Blick schweift ab, doch dann fixiert er mich abermals und ganz plötzlich. »Und du bist es auch.«

Ich weiß, es ist ein ewig langes Kapitel geworden und ist leider auch schon das vorletzte Kapitel, das ich auf Lager hab. Nach dem letzten wird es erst mal eine Pause geben und dann schreibe ich so weiter, wie es mir halt gerade passt. Mein Hauptprojekt SEHERFLUCH und die beiden Folgebände will ich aber zuerst mal zu Ende bringen...

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