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Während sich Ellenor auf dem Weg zu ihrem Großvater immer weiter beruhigte, blies der Wind ihre schlechten Gefühle weg. Ihr Kopf war nicht länger vernebelt und sie konnte wieder klar denken. Sie atmete erleichtert auf. Endlich hatte sie ihre Ruhe und konnte sich entspannen. Darüber nachdenken, wie es jetzt wohl weitergehen würde, wollte sie lieber nicht. Das würde sie nur wieder zu irgendeiner Wand führen, was nicht wirklich hilfreich wäre. Sie zog ihren Umhang enger um sich und war überrascht, wie warm er doch hielt. Sie sollte ihn öfter tragen, damit könnte sie sich einige Erkältungen sparen. Doch so warm Ellenors Umhang auch hielt, die Kälte in ihrem inneren konnte er nicht vertreiben. Auch der Wind konnte das nicht. Sie seufzte auf. Warum ausgerechnet sie? Konnte nicht irgendjemand anderes Bürgermeister werden? Sie musste sich verdammt noch einmal vermählen! Sollte sie ihren Mann etwa umbringen, wenn sie ein Kind gebar, damit sie dann der Einsamkeit erliegen könnte? Sie würde sich mit jemanden vermählen müssen, der sie nicht liebte und den sie nicht liebte. „Am Ende werde ich mich noch mit Bradley vermählen müssen!" stieß sie hysterisch auf und lachte so verzweifelt, dass es den wenigen Menschen, die noch auf der Straße waren, einen gehörigen Schrecken einjagte. Doch das war im Moment nicht wichtig. Vielleicht würde sie sich wirklich mit ihm vermählen müssen. Erneut traten Tränen in ihre Augen. Das wäre das Schlimmste, was ihr jemals passieren konnte. Wie sollte sie das überstehen? Verlassen von allen und komplett allein? Wie sollte sie in diesem Leben auch nur noch einen einzigen Tag durchhalten? Eine Träne rollte aus ihrem Auge und fiel unglaublich langsam zu Boden. Doch nicht einmal ihre Träne war allein, denn Sekunden später folgten ihr schon weitere. Sie schniefte einmal auf. „Ich sollte mich wirklich beeilen zu Großvater zu kommen. Dann wäre ich nicht mehr allein." murmelte sie vor sich hin. Die Tatsache, dass sie mit ihrem Großvater nie allein war, traf nicht ausschließlich auf das Räumliche zu. Ihr Altvorderer war ihr auch immer ein seelischer Trost. Immer, wenn sie wieder traurig war, weil ihre Mutter so kalt zu ihr war, ging sie zu ihm und er empfing sie immer mit offenen Armen. Er war immer für sie da. Wie auch Nolan, war ihr Großvater ihr bester Freund. Ohne ihren Großvater wäre Ellenor womöglich sogar tot, doch das war nicht wichtig, denn er war da und sie ebenfalls.

Ellenor brachte ihre Atmung unter Kontrolle und trat langsam den Heimweg an. Den Weg zu ihrem Großvater. Dort war ihr wirkliches zu Hause und nicht bei ihrer Mutter, die sie nach Strich und Faden ignorierte und anlog. Darüber sollte sich Ellenor jedoch keine Gedanken machen, sondern lieber überlegen, wie sie das Problem mit der Vermählung gelöst bekam. Das würde eine Herausforderung werden. Sie könnte... Ja, sie könnte Nolan fragen. Da er den Jungen zugetan war, würde er sich niemals vermählen können und er müsste nur ein Kind mit Ellenor zeugen. Danach könnte er sich wieder komplett Julian zuwenden. Das war die beste Lösung. Sie mochte Nolan zwar nur als Freund, aber es war besser, als sich mit jemanden zu vermählen, für den sie überhaupt keine Sympathie empfand. Sie würde in ein paar Tagen mit ihm darüber reden, aber erst einmal musste sie selbst erstmal lernen, mit diesem Gedanken – oder dieser Tatsache – zu leben.

Schnellen Schrittes ging sie zu ihres Großvaters Haus, oder jedenfalls in die Richtung. Sie war während ihres innerlichen Zusammenbruches nämlich ziemlich weit in die falsche Richtung gelaufen und musste dementsprechend die ganze Straße wieder zurücklaufen. Sie seufzte frustriert auf. So viel wollte sie heute eigentlich nicht laufen. Dieser Tag war zum Haare raufen! Überhaupt kein Glück, hatte man heute, aber auch gar keines.

Während Ellenor nun zu ihrem Altvorderen lief, stellte sie überrascht fest, dass sie in die Richtung der Bibliothek gelaufen war, aus welcher sie auch erst vor 1 bis 2 Stunden zurückgekehrt war. Merkwürdig. Obwohl man selbst das Merkwürdige nicht mehr als merkwürdig betiteln konnte. In diesem Dorf war alles merkwürdig, eigenartig, komisch, anders oder wie man es sonst nennen wollte. Also sollte man Dinge die normal waren in diesem Dorf merkwürdig nennen und Dinge, die woanders (wo auch immer oder was auch immer woanders war) merkwürdig waren, hier normal nennen. Es war einfach sehr verdreht. Und das würde sehr wahrscheinlich auch immer so bleiben, aber was sollte sie daran auch ändern können? Nichts. Sie war nicht dazu in der Lage und das war auch nicht schlimm. Sie hoffte einfach nur dem Fluch nicht zu erlegen. Das war alles, was ihr und anderen helfen konnte. Einer musste schließlich Gemeinnützlich bleiben und nicht den eigenen Vorteil im Kopf haben und andere ausnutzen. Und sie würde alles dafür geben, nicht so wie die anderen zu werden. Schluss. Aus. Ende.

Ellenor ging gerade die Veranda zum Hause ihres Großvaters auch, als die Tür auch schon aufgerissen wurde und ihr Großvater zum Vorschein kam. Ein, für die Verhältnisse des Dorfes, uralter Mann, der noch erstaunlich fit für sein Alter war. Mit seinen 73 Jahren hatte er zwar nur noch graue und weiße Haare, aber dafür umso mehr Lachfältchen im Gesicht, die seine Gutmütigkeit und Lebenslust deutlich hervortreten ließen. Ihr Großvater liebte Ellenor über alles und jedes Mal, wenn sie kam, meckerte er, warum das so lange gedauert hatte. Dabei besuchte sie ihn doch jeden zweiten Tag. Und an jedem zweiten Tag wurde die Tür aufgerissen und Ellenor in eine freudige Umarmung gezogen. So auch jetzt. „Ellenor, Liebes. Du hast dich aber lange nicht mehr blicken lassen. Ich fürchtete schon, du kämest nie wieder." Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf Ellenors Gesicht aus und lies die, vom Weinen geröteten, Augen fürs erste in den Hintergrund treten. Sie zog ihren Großvater in eine feste Umarmung. „Ich war doch gestern erst hier, Großvater." murmelte, naja eher krächzte, Ellenor in das Ohr ihres Altvorderen. Sogleich hielt er sie eine Armlänge von sich weg und musterte ihr Gesicht prüfend. Die geröteten Wangen konnte man auf die kalte Luft schieben, doch fiel es schon sehr auf, dass ihre linke Wange sehr viel roter war als ihre Rechte. Und für die geröteten Augen hatte sie erst recht keine Ausrede. Die brauchte sie aber auch nicht. Sie würde ihren Großvater nicht anlügen. Dafür musste schon viel passieren. Und so viel konnte nicht passieren.

Ihr Großvater nahm Ellenors Hand in seine und drückte sie fest, bevor er sie durch die Haustür zog. Er brachte sie ins Wohnzimmer, in welchem er sie auf das Sofa drückte und kurz verschwand, um die Haustür zu schließen. Währenddessen sammelten sich erneut Tränen in Ellenors Augen, die sie zu gerne laufen ließ. Es polterte kurz, dann trat ihr Großvater auch schon in das Wohnzimmer und eilte zu Ellenor, die er sogleich in seine Arme zog. Sie verbarg ihr hübsches Gesicht in seinen Armen und weinte. Weinte bis es keine Tränen mehr zum Weinen gab. Indes strich ihr Großvater ihr beruhigend über den Rücken und lies sie gewähren. Als Ellenor sich halbwegs beruhigt hatte sah ihr Altvorderer sie nur abwartend an und augenblicklich begann Ellenor ihm alles zu erzählen. Von dem Moment an, wo sie das Haus ihrer Mutter betreten hatte bis zu dem Moment, bei dem sie gerade die Veranda hochlief. Ellenor endete schniefend mit ihrer Erzählung und tupfte sich die Nase mit einem Taschentuch, welches sie von ihrem Großvater bekommen hatte, während sie sich ausgeweint hatte. Ihr Großvater sah Ellenor leicht schockiert an. „Ich will ich aber mit niemanden hier vermählen." murmelte Ellenor leise und strich sich über die tränennassen Wangen. In dem Gesicht ihres Großvaters spiegelte sich Verständnis wider. Einen Moment lang, Ellenor war sich nicht einmal sicher, weil es so kurz war, meinte Ellenor sowas wie Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen zusehen. Doch so schnell es auch wieder weg war, wollte sie es auf sich beruhen lassen. „Wir finden eine Lösung, Liebes." Flüsterte er und strich ihr noch einmal tröstend über den Arm.

Jählings klopfte es laut an der Tür und Ellenor zuckte erschrocken zusammen. Wer kam den zu ihrem Großvater? Und dann auch noch nach Sonnenuntergang? Sonst trauten sich die Menschen doch gar nicht vor die Tür, aus Angst, dem ‚Monster' zu begegnen. Was natürlich Schwachsinn war. Als ihr Großvater sich gemächlich hinstellte und langsam zur Tür schritt, als würde er wissen, wer dort geklopft hatte, schaute Ellenor ihn verwirrt an. Sie dachte immer, dass sie und ihre Mutter die Einzigen wären, die ihn besuchten. Das war scheinbar Irrtum.

„Du brauchst immer länger, um die Tür zu öffnen, Thomas." sprach da einer tiefe Männerstimme, die Ellenor einen angenehmen Schauer den Rücken hinunter jagte. Ellenor stutzte. Wie... „Und du, Samuel brauchst immer kürzer, um zu antworten." Wurde ihr Gedankengang jählings von ihrem Großvater, Thomas, unterbrochen. Doch das interessierte Ellenor schon gar nicht mehr, denn in dem Moment, in welchem sie seinen Namen, Samuel, hörte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. So schnell, als wollte es direkt aus ihrer Brust zu ihm springen und nie mehr weggehen. Sie starrte auf die Tür, darauf wartend, dass er endlich aus dem Flur in das Wohnzimmer treten würde und sie ihn endlich sehen konnte. Ellenor stellte sich auf, die Tür keine Sekunde aus den Augen lassend. Und dann trat er durch die Tür und ihr Atem stockte.

In der Tür stand ein Mann, von einer solchen Schönheit, wie sie Ellenor noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Er hatte eine sehr helle Haut, sie schimmerte fast weis. Er trug schwarze Stiefel und eine ebenso schwarze Hose. An seinem Oberkörper befand sich ein lockeres, fast durchsichtiges Leinenhemd, wodurch man seine Brustmuskeln fast sehen konnte. Er hatte einen muskulösen Körperbau, aber keinen, den man bekam, wenn man schwer schleppte, sein Körper wirkte eher athletisch. Wie der eines Kriegers. Ellenors blick wanderte zu seinem Gesicht. Er hatte hohe Wangenknochen, feine, aber doch harte Gesichtszüge und ein kantiges Kinn. Seine Lippen waren schmal und doch voll und Ellenor verspürte den Drang, sie mit ihren eigenen zu versiegeln. Seine Haare waren ebenfalls hell, doch schien ihnen ein goldener Schimmer innezuwohnen. Doch seine Augen raubten Ellenor das letzte Bisschen Verstand. Sie waren braun mit goldenen Sprenkeln, aber das war nicht alles. Sie leuchteten heller als jeder Stern und jeder Mond. Und als seine Augen ihren Körper so verloren im Raum stehen fanden, leuchteten sie so intensiv, als würde er ihr in die Seele schauen können.

Dann trafen seine Augen die ihrigen und das Einzige, was noch Platz in ihren Gedanken fand war, dass sie ihn wollte. Er übte eine solche Anziehungskraft auf Ellenor aus, dass sie nur noch in seinen Armen liegen und nie mehr dort wegwollte. Diese Situation kam ihr so seltsam vertraut vor. Das war sie auch. Ellenor erinnerte sich auf einmal an all die Liebesbücher, die sie schon gelesen hatte. Und sie alle sprachen von genau dieser Situation, doch hätte sich Ellenor nie vorstellen können, wie gefühlvoll, intensiv und atemberaubend schön dieser Moment in Wirklichkeit war. Auch das Antlitz Samuels kam ihr so seltsam bekannt vor, doch ihr wollte einfach nicht einfallen, woher. Interessieren tat sie das aber nicht. Sie lenkte all ihre Gedanken darauf, nicht auf der Stelle los zu weinen. Aber nicht vor Trauer, sondern vor Glück, dass sie auf wundersame Weise doch bekam, was sie sich schon immer gewünscht hatte. Und als Ellenor die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte trat sie einen Schritt vor, doch als sich die erste Träne löste, befand sie sich schon in seinen Armen. Vor Glück weinend, vergrub sie ihren Kopf an seiner Brust und schlang die Arme um seine schlanke Mitte. Sie spürte genau, wie seine Muskeln unter ihren Berührungen arbeiteten. Und ein angenehmes Kribbeln jagte durch ihren ganzen Körper, als er sie, so fest wie irgend möglich, an seinen Körper presste und seinen Kopf in ihrer Halsbeuge vergrub. Ellenor hieß das warme Gefühl, welches sich in ihrem Herzen ausbreitete, mit offenen Armen willkommen.

„Was betrübt dein Gemüt, Liebste?" fragte da eine samtig weiche Stimme neben ihrem Ohr, die ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Ellenor seufzte wollig auf und setzte zu einer Antwort an. „Mir ist das Glück in diesem Moment hold." flüsterte sie, ebenso leise wie er. „Weshalb rinnen dir dann Tränen in Bächen über die Wangen?" erwiderte er und strich ihr beruhigend über den Rücken. Unter seiner Berührung entspannte sie sich immer mehr und lies sich noch weiter in seine Arme sinken. „Es sind tränen der Freude. Sie kommen, wenn man sehr glücklich ist. Überaus glücklich." murmelte sie. Auch ihre Hände begannen nun langsam, seinen Rücken zu streicheln und seine Muskeln entspannten sich ebenfalls. „Ich bin auch überaus glücklich." Hauchte er beseelt an ihr Ohr und lies seine Lippen vorsichtig über ihre Ohrmuschel streicheln. Ellenors Beine wurden weich, doch das war nicht schlimm, denn Samuel hielt sie fest und keine Sekunde lang berührte etwas anderes als ihre Füße und der Saum ihres Kleides, den Boden. Vorsichtig nahm er sie hoch und setzte sich mit ihr auf seinem Schoss auf das bequeme Sofa.




Und dann räusperte sich Ellenors Großvater.




Hey Leute,

das ist Kapitel 6. Bisher das Längste und ehrlich gesagt auch mein Lieblingskapitel. Ich hoffe es gefällt euch ebenso gut, wie es mir gefällt. Ich glaube ich könnte mich selber glatt in Samuel verlieben, und das jetzt schon! Naja, kommen wir zu den Fragen.

Die Frage/-en:

Was denkt ihr hat es mit der 'Erkenntnis' von Ellenors Großvater auf sich? Oder war es doch nichts?

Was ist das wohl für eine Verbindung zwischen Ellenor und Samuel?

Wo sie ihn wohl schonmal gesehen hat?

Wie findet ihr Samuel bis jetzt?

Kritik, Kommentare und Votes sind mehr als nur erwünscht.

LG Bensheegirl

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