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Ellenor schloss genüsslich ihre Augen und atmete ihren Lieblingsgeruch ein. Der Geruch von Büchern. Es waren hauptsächlich alte Bücher, denn in den Genuss von neuen Büchern kam man nur sehr selten. Es war schon überraschend, dass sich diese Bücher überhaupt noch hier befanden. Ein trauriges Seufzen entwich ihr. Bücher waren ihre Schlüssel in andere Welten, ihre Fluchtmöglichkeiten, um in einer anderen Welt zu leben, zumindest kurzzeitig. Die Welten, in die sie so gerne eintauchte, waren ihre einzige Rettung vor der sonst so bitteren Realität. Doch es gab hier nicht sehr viele dieser Schlüssel. So sehr sich Ellenor auch wünschte, es wäre anders. Sie war allerdings froh, dass es überhaupt welche gab, auch wenn die meisten dem Verfall schon sehr nahestanden.
Allerdings gab es auch keine Möglichkeit, neue herzustellen. Es lag noch nicht einmal an den Ressourcen -davon hatten sie genug. Es lag ganz einfach daran, dass die wenigsten schreiben, geschweige denn lesen konnten. Ellenor strich sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hinter ihr Ohr, während sie mit schallenden Schritten durch den breiten gang lief.
Das System hier war ungerecht, aber andererseits... Wenn hier alle lesen und schreiben könnten -was bisher nur den Reichen vorbehalten war, man bedenke schließlich die Unterrichtskosten-, dann wären hier alle Bücher schon längst komplett verfallen. Dadurch, dass nur so wenige lesen konnten, wollte Ellenor wenigstens den Kindern eine Freude bereiten und las ihnen nachmittags häufig in der Bibliothek vor. Und sie freute sich jedes Mal aufs Neue, die leuchtenden Kinderauen zusehen, wenn sie ihnen Geschichten vorlas, sei es auch nur, dass der hundertfünfundzwansigste Ritter die hundertfünfundzwansigste Prinzessin rettete. Es war egal.
Aber das Vorlesen bereitete den Kindern nicht nur Freude, sondern es stärkte auch das Gemeinschaftsgefühl untereinander. Die Kinder wuchsen in einer Gemeinschaft auf, wobei Ellenor das Möglichste versuchte, die selbstischen Grundsätze von den Kindern fernzuhalten. Sie sollten nicht so hoffnungslos verloren, wie ihre Eltern, enden. Ellenor schaute sich um. Noch war das riesige Gebäude leer, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis das Lachen der Kinder durch die Gänge fegte. Bei diesem Gedanken umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Das war die schönste Zeit des Tages.
Sie lief den Rest des Ganges bis ganz nach hinten. In der Mitte stand ein Brunnen, damit man zwischendurch etwas trinken konnte. Rechts und links an den Wänden waren Kamine eingemauert, um sich vor der dauernden Kälte zu schützen. Vor den Kaminen standen ein Sofa, zwei Sessel und ein Tisch. Ellenor saß gerne hier hinten. Vorne hielten sich ab und an andere Leute auf. Sie mochte die Gesellschaft anderer Menschen nur beschränkt. Abgesehen davon, stand hier hinten das Regal mit den Kinder- und Märchenbüchern. Es wäre ihr einfach zu umständlich ständig durch die ganze Bibliothek zu marschieren.
Sie lief eilig auf das Regal zu und zog ein beliebiges Buch heraus. Es war ein einfaches Märchenbuch, doch Titel und Autor waren schon lang nicht mehr zu erkennen. Ellenor strich über den linden Einband. Er war braun und wenn man genau hinsah, erkannte man außer den vielen Kratzern noch leichte Umrisse von dem, was vorher zusehen war, doch sie wusste nicht wie der Einband einst aussah.
Ein lautes Quietschen ertönte und darauf folgte das Lachen der Kinder. Ellenor musste einfach grinsen und setzte sich in einen Sessel. Der Kamin knisterte bereits vor sich hin. Es knackte und Ellenor warf einen weiteren Holzscheit, von dem Stapel neben dem Kamin, in das wärmende Feuer. Kurz darauf folgte ein freudiges Quieken. Abigail, eines der vielen Kinder, warf sich um Ellenors Hals und umarmte sie, so fest es ihre schmalen Arme zu ließen. „Was lesen wir heute?" fragte die Kleine aufgeregt und schaute Ellenor mit ihren großen Augen an.
„... und sie waren bis ans Ende ihrer Tage glücklich" beendete Ellenor das Märchen und schaute zu den Kindern. Das Grinsen lag immer noch auf ihren Lippen und wurde nur breiter, als sie sah, wie die Kleinen das Märchen nachspielten. War sie auch so aufgedreht, als sie noch klein war? Sie wusste die Antwort nicht, doch das war nicht schlimm. Es bereitete ihr viel mehr Freude, die Kinder glücklich spielen zusehen, als sich selbst damals. Ellenor liebte die Kinder über alles.
Es machte sie traurig, wie selbstsüchtig ihre Eltern, egal ob arm oder reich, waren. Sie seufzte. Wenn sie einmal Kinder haben würde, dann würde sie sie hüten, als wären sie ihr größter Schatz, was sie dann auch tatsächlich wären. Aber erst einmal musste sie einen anständigen Mann finden, den sie auch liebte. Und umgedreht, das verstand sich von selbst.
Ellenor seufzte erneut. Für sie sah es so aus, als würde sie ihr Glück nicht in diesem Dorf finden, aber sie kam auch nicht hier weg. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, womöglich niemals glücklich zu werden. Doch sie wischte die Tränen weg und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Sie konnte nicht für die Kleinen da sein, wenn sie hier Trübsal blies. Das funktionierte nicht. Also atmete sie einmal tief durch und beobachtete sie. Die Mädchen wollten alle die Prinzessin sein, während die Jungs sich darum stritten, wer der Ritter war und wen sie nicht retten wollten. Ellenor überlegte, doch ihr vielen nur wenige Lösungen ein.
„Elli?" fragte da plötzlich eine seichte Kinderstimme. Ellenor drehte ihren Kopf zu dem kleinen Mädchen und strich ihm eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was liegt dir auf dem Herzen, meine Kleine?" fragte sie sanft und lächelte sie an. „Würdest du bitte die Prinzessin sein? Die anderen können sich nicht einigen. Und ich will die böse Königin sein" Jennys braunes Haar viel ihr wieder ins Gesicht und verdeckten ihre großen Kulleraugen. Ellenor strich ihr das Haar erneut aus dem Gesicht. „Ich bin aber nicht so schön, wie eine Prinzessin, wie ihr. Wieso schlägst du ihnen nicht vor, dass sie alle die Prinzessin sein können und die Jungs alle die Ritter sind und sich aussuchen, wen sie retten wollen. Das macht bestimmt mehr Spaß. Sonst kann doch irgendjemand nicht mitspielen" Die Augen des Mädchens wurden noch größer und nickend rannte sie wieder zu den anderen.
Das Einzige, was Ellenor hörte, waren die begeisterten Laute der Kinder. Es machte ihr spaß, die Kinder spielen zusehen. Wenigstens gab es die Kleinen. Sie hatten Freude und waren wahrscheinlich die Einzigen, die wirklich glücklich waren. Doch es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie nicht mehr so freudig durch das Dorf hüpfen und überall gute Laune verbreiten.
Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen. Hinterlasst gerne Votes und Kommentare.
Eure Bensheegirl
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