Kapitel 9.
Es fühlte sich an, als würde ihr jemand hundert Messer von allen Seiten in den Bauch und Rücken rammen.
Scarlett sog verzweifelt möglichst viel Luft ein, aber ihre Lungen schienen mit jedem Schritt weiter zusammen zu schrumpfen.
Als ihr die zurückgelegte Distanz groß genug erschien, blieb sie stehen und sank auf die Knie. Sie hörte keine anderen Schritte, die sie verfolgten, also bemühte sie sich, ruhiger einzuatmen. Dann wieder aus. Immer noch schien ihr Körper die Luft einfach nur abzuweisen, also zwang sie sich, noch länger auszuatmen. Sie saß auf den alten verwitterten Eisenbahnschienen, die quer durch ein Waldstück führten. Hier war schon seit Jahren kein Zug mehr drüber gefahren und ursprünglich hatten die Gleise deshalb entfernt werden sollen. Aber das war dann doch zu teuer geworden und die Bauarbeiten wurden schließlich abgebrochen, weshalb man im Wald an manchen Stellen ein wenig aufpassen musste, dass man nicht versehentlich über die Schienenstücke stolperte.
Ihre Atmung beruhigte sich, das Stechen in ihren Seiten verschwand nicht ganz so schnell.
Sie musste zurück in Richtung Camp gelaufen sein, zumindest war das ihr Plan gewesen, denn im Wald hätte sie sich ziemlich sicher irgendwann verirrt, und das wäre überhaupt nicht praktisch gewesen.
Trotzdem war sie sich gerade nicht ganz sicher, wo sie war. Im dunkeln sahen die Bäume anders aus, und sie orientierte sich normalerweise an der Art, wie die Bäume zueinander standen.
„Scarlett?"
Das war nicht Ashers Stimme, trotzdem fuhr Scarlett erschrocken herum und schrammte dabei mit ihren Schienbeinen scharf über den Boden. Ihre linkes Knie knallte gegen die Schiene und ein dumpfer und doch aggressiver Schmerz schoss durch ihr Bein.
„Scarlett!"
Sie machte sich nicht die Mühe aufzustehen, bevor sie ihr Messer ein zweites Mal innerhalb von zehn Minuten zog und die Klinge aus schnappen ließ. „Damit erübrigt sich dann wohl die Frage, ob alles okay ist.", meinte Grayson.
„Sorry.", sagte Scarlett trocken und klappte das Messer wieder ein. „Und, wieso bist du nicht am Lagerfeuer?"
„Ich wollte ... spazieren gehen.", log Grayson. „Du?"
„Ich eigentlich auch. Aber dann kam ein psychotischer Teenager angerannt und hat mich gewürgt. Ich bin weggerannt und jetzt bin ich hier."
Graysons Mundwinkel zuckten nach unten: „Wer?"
Scarlett seufzte: „Ich musste mein Taschenmesser herausholen, um mir genügend Zeit zum weglaufen zu verschaffen. Er kennt jetzt mein Ass im Ärmel. Wenn er erfährt, dass ich es dir erzählt habe und er mich deshalb wieder angreifen sollte, habe ich keine Geheimwaffen mehr."
„Also Asher.", murmelte Grayson leise. „Hast du noch irgendetwas anderes gegen ihn?"
Scarlett lachte rau auf: „Natürlich, ich habe gegen fast alle noch irgendetwas. Aber du kannst Menschen, die zu Taten bereit sind, nur bedingt mit Worten drohen."
Grayson zögerte, dann setzte er sich neben Scarlett auf die Schiene: „Was hast du noch gegen mich?"
Scarlett lächelte: „Ich weiß vieles über dich, Grayson Cole. Aber nichts davon könnte dir wirklich schaden."
„Was weißt du denn über mich?"
„Also ...", fing Scarlett und ordnete vergeblich ihre Gedanken (Bitte hör auf mich so anzusehen, ich möchte wenigstens die Chance dazu behalten, mich halbwegs konzentrieren zu können!). „Du warst im Schachclub der Schule, deine Lieblings Eröffnung war Caro-Kann, wenn du Weiß spielst ziehst du den Bauern immer nach d4. Beim Mittagessen sitzt du immer mit dem Rücken zur Tablettrückgabe. Du hast dich für nächstes Jahr bei der Schülerzeitung angemeldet, weshalb du aus dem Schwimmteam ausgetreten bist. Du kannst jonglieren. Du hast am sechsten Oktober Geburtstag. Dein Spind hat die Nummer 145 -"
Grayson hatte nicht wirklich aufgehört zuzuhören – zumindest nicht aktiv. Scarlett sprach weiter, zählte einen weiteren wahren Fakt nach dem anderen auf und Grayson sah sie an und wartete darauf, dass sie ihn endlich ebenfalls ansehen würde. Doch Scarletts Blick ging in die Richtung der Bäume, dann sah sie wieder zu Boden. Ihre Augen hatte sie leicht zusammengekniffenen, als würde ihr das beim nachdenken helfen. Grayson jedenfalls half es nicht.
„- ich glaube, das war es soweit.", log Scarlett schließlich und wandte endlich ihren Kopf.
„Wow.", meinte Grayson leise.
„Na ja. Das, was ich über dich weiß, ist hauptsächlich nutzloses Zeug.", entgegnete Scarlett.
„Es ist trotzdem ... beeindruckend."
„Dankeschön."
„Nennen dich die Leute deshalb „Scary Scarlett"?".
Scarletts Schultern spannten sich augenblicklich an, ihr Blick wurde dumpf und Grayson bereute die Frage sofort.
„Ich wusste nicht, dass du den Namen kennst.", sagte sie. „Aber ja. Deshalb nennen sie mich Scary Scarlett. Denn wie gesagt; über einige Leute weiß ich mehr, als nur ihre Lieblingsfarbe."
„Du kennst meine Lieblingsfarbe?"
„Grün. Das kam mir eben nur zu langweilig vor, um es dir zu sagen."
Grayson lachte laut auf, Scarlett sah ihn verwirrt an: „Das war nicht mal im geringsten lustig."
„Sicher?"
Scarlett sah ihn noch verwirrter an, aber immerhin verschwand jetzt dieser seltsam dumpfe Ausdruck aus ihrem Gesicht: „Ja. Sicher."
„Woher weißt du das alles eigentlich?", fragte Grayson zögernd. Scarlett hob die Augenbrauen: „Du musst die Leute nur beobachten. Ihren Gesprächen zufälligerweise zuhören. Sie einfach reden lassen."
„Ich habe nie über meine Lieblingsfarbe geredet."
„Deine Trinkflasche ist grün. Deine Kugelschreiber sind grün. Natürlich könnte es trotzdem sein, dass du lieber orange magst, aber manchmal muss man einfach raten. Meistens hat man damit sogar recht."
„Ich wette, ich weiß genauso viel über dich."
Scarlett hob überrascht die Augenbrauen (Das glaubst du doch wohl selbst nicht.)
„Wenn nicht sogar mehr.", meinte Grayson und grinste herausfordernd, beugte sich näher zu Scarlett.
Sie war nicht beeindruckt: „Du musst glaubhaft klingen, wenn du solche Sachen sagst."
„Ich klinge total glaubhaft!"
„Du lächelst (Hör nicht auf damit. Bitte, hör nicht auf zu Lächeln)."
„Ja, und?"
„Wenn du lächelst, nehmen dich die Leute nicht mehr ernst."
„Du lächelst auch."
„Man darf theoretisch lächeln, man darf nur nicht so aussehen, als würde man das Lächeln ernst meinen!"
„Und ich sehe aus, als würde ich mein Lächeln ernst meinen?"
„Ja."
„Also gehst du aktuell davon aus, dass ich das Lächeln ernst meine?"
„Ich gehe nicht davon aus, Grayson; (Wieso sprichst du meinen Namen so aus? Glaubst du, ich könnte meine stabile Argumentation dann noch aufrecht erhalten?) Ich weiß es. Und nein, du kannst jetzt nicht sagen, du könntest das besonders gut vortäuschen, weil das Schwachsinn ist. Es widerspricht zu viel. Du hast gelächelt, das kannst du nicht mehr retten."
„Ich muss es auch nicht retten. Ich krieg das hin."
„Du kriegst überhaupt nichts hin."
Scarlett und Grayson fuhren gleichzeitig herum und rutschten dabei beide vor lauter überschüssigem Elan von der Schiene. Oliver lächelte entschuldigend und hob die Arme: „Sorry für die Störung."
„Oliver.", sagte Grayson, die Stimme halb überrascht, zu einem Viertel enttäuscht, zu einem Achtel genervt und den Rest undefinierbar klingend.
„Warte, bist du nicht der Junge, der im ersten Stock aus dem Fenster gefallen ist? Oliver Falcon, oder?", sagte Scarlett.
Oliver presste die Lippen aufeinander: „Ich bin nicht gefallen, okay?! Ich wurde ... geschubst."
„Von wem?", fragte Scarlett. „Asher?"
„Ich ... nein. Es war -", Oliver seufzte, „es war Mariah, okay?" Scarlett grinste. (Mariah? Das Mädchen, das nicht einmal Gummibärchentüten ohne die unterstützung einer Schere öffnen kann?) (Ich wünschte, du würdest mich so anlächeln.)
„Ist ja auch egal. Ich habe dich gesucht, Grayson. Sie erzählen jetzt diese Greenwitch-Legende, von der mein Bruder nur noch die unwichtigen Teile kannte. Wir alle sollten davon wissen, damit wir uns schützen können!"
Grayson wusste, dass es jetzt nichts nützte, Oliver zu widersprechen, also stand er auf und wandte sich Scarlett zu, hielt ihr die Hand hin, als wolle er ihr beim aufstehen helfen, doch sie bemerkte es nicht, stand ebenfalls einfach nur auf und klopfte sich etwas Staub von der Hose.
Oliver allerdings hatte Graysons Versuch sehr wohl bemerkt und grinste ihm schadenfroh und gleichzeitig mitleidig zu. Grayson tat so, als hätte er es nicht bemerkt.
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