Kapitel 8.

„Ich sollte wieder zu ihnen gehen."

Scarlett war nicht überrascht, diesen Satz zu hören; er kam nur ein wenig früher, als sie erwartet hatte. Ein paar gut gelaunte Betreuer verteilten gerade Marshmallows aus großen roten Plastiktüten und kleine billige Würstchen aus blauen. Um sie herum teilten sich Freunde ihre gespitzten Stöcke, spießten ihr Abendessen darauf und hielten es zu kurz über die knisternden Flammen in ihrer Mitte.

„Wieso?", fragte Scarlett, als würde sie die Antwort nicht längst kennen.

„Ich weiß nicht ... ich glaube, Sam war ziemlich wütend.", antwortete Amber ausweichend und steckte sich den Rest ihres klebrigen Marshmallows (verbrannt an einer Seite) in den Mund. „Du hast sie provoziert."

Ich habe sie provoziert?!"
„Es sind nicht immer die anderen Schuld, Scary."
„Ich habe sie gefragt, auf welche Schule sie geht! Inwiefern ist das provozierend?!"
„Keine Ahnung. Ich muss einfach zu ihnen. Dinge klären und so." (Was ist mit mir? Du sorgst dafür, dass ich auf keinen Fall Freunde finde, um mich dann hängen zu lassen, wenn du versprochen hast, genau das nicht zu tun.)

„Du hast gesagt, du -"
„Ich weiß.", unterbrach Amber sie, machte den letzten Versuch Scarletts zunichte, nicht allein am Lagerfeuer zwischen all den laut lachenden Menschen sitzen zu müssen. „Sorry. Aber ich will wirklich zu ihnen, ich glaub die waren echt wütend."

„Samantha Nummer 2 war nicht wütend."
„Mantha zeigt ihre Wut einfach nur anders. Du kennst sie nicht so wie ich, Scary."
„Ach ja? Seit wann kennst du sie denn?"

Ambers Augen wurden schmal: „Du kannst echt scheiße sein, weißt du das? Lass mich einfach in Ruhe, du nimmst mir meinen Freiraum weg!" Sie stand auf, strich sich etwas graue Asche von dem blauen Top und ging dann auf die zwei Samanthas zu, die ein paar Meter entfernt von dem Lagerfeuer ihre ungerösteten Marshmallows aßen und dabei eigentlich ganz zufrieden aussahen.

Scarlett seufzte.

All die verschwimmenden Gespräche um sie herum, das kreischende Lachen, die sengende Hitze der Flammen auf ihrem Gesicht. Sie hielt es fast zwei Minuten aus, so starr zu sitzen wie eine Schaufensterpuppe im Modegeschäft, um bloß keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit irgendwelche Bemerkungen einzukassieren, dann stand sie auf.

Ein paar Leute bemerkten die Bewegung, aber niemand nahm sie wirklich wahr.

Scarlett verließ den Kreis des Lagerfeuers, verließ den immer noch von den Flammen gewärmten Kreis dahinter und schließlich auch die kleine Lichtung im Wald, auf der dieses Lagerfeuer stattfand.
Sie hatte jetzt im Grunde zwei Möglichkeiten: Entweder sie ging zurück auf die Wiese, zurück ins Herz des Camps, oder sie ging in den Wald.

In den Wald zu gehen war an sich nicht verboten, zumindest nicht bis zu dem notdürftig gespannten Absperrband (Ein Zaun hätte zu viel gekostet. Das orangefarbene Absperrband aus dem Baumarkt war im Angebot gewesen), denn bis dorthin führten noch die gelegten Pfade und das Risiko, sich ernsthaft zu verirren, war quasi nicht vorhanden. 

Scarlett entschied sich also für den Wald, bog auf den vorerst einzigen Pfad ein, der diese Entscheidung möglich machte. 

Hier war es leiser.
Das laute Knistern der Flammen, vermischt mit dem menschengemachten Lärm verklang zwischen den hohen Bäumen. Hier und dort beschloss irgendein Vogel ein paar Laute von sich zu geben.
Dort hinten raschelte ein Busch, an ihrem Ohr summte eine Mücke.

Ihre Schritte ließen die dünnen Äste unter ihr leise knackend zerbrechen, doch plötzlich wurde das knacken lauter. Scarlett zog unbewusst die Augenbrauen zusammen, verlangsamte ihre Schritte. Die Äste wurden immer noch in dergleichen Geschwindigkeit zertreten. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Sie wurde verfolgt.

„Allein im Wald? Bist du dir sicher, dass das eine so gute Entscheidung ist?"

„Hi Asher.", antwortete Scarlett, wollte sich umdrehen, aber Asher schlang ohne Vorwarnung seinen rechten Arm um ihren Hals. Sie schrie erschrocken auf, stolperte und verlor den Halt mit den Füßen.

„Jetzt bist du nicht mehr so Vorlaut, was?", zischte Asher und drückte mit dem Arm grob zu. Scarlett würgte, trat blind nach hinten, ohne ernsthaft zu erwarten, Asher zu treffen.

„Und Leute nennen dich gruselig. Wie albern. Wenn sie dich doch jetzt sehen könnten!"

Scarlett zwang sich dazu, jetzt bloß nichts zu sagen. Sie brauchte ihr gesamtes Denkvermögen und all ihre Kräfte, um sich aus Ashers viel zu festem Griff zu befreien. Also, was waren verdammt noch mal ihre Möglichkeiten?
Normalerweise kämpfte sie mit Worten, aber damit konnte sie Asher jetzt vermutlich eher weniger beeindrucken.

„Was ist? Gibst du schon auf? Na, Scarlett: Wie fühlt es sich an, gewürgt zu werden? Kannst du es mir empfehlen? Beschreib doch mal, rede ein bisschen. Das tust du doch so gerne." Scarlett versuchte, sein hirnloses Gelaber einigermaßen zu ignorieren und konzentrierte sich auf ihre aktuellen Vorteile.
Klar, Asher schnürte ihr die Luft ein bisschen ab, was eher weniger angenehm war, aber sie konnte sowohl ihre Arme, als auch ihre Beine frei bewegen.
Ruckartig stieß sie mit ihrem linken Ellenbogen nach hinten, traf nichts und schwang noch in derselben Sekunde das rechte Bein nach hinten und traf wie geplant das Schienbein des schlecht riechenden Jungen, der anscheinend den Sinn von Deo noch nicht ganz verstanden hatte.

„Glaubst du ernsthaft, du kannst mich durch so etwas aufhalten? Ich könnte dich umbringen, Scarlett. Ich könnte dich wirklich umbringen!", sagte Asher, fasziniert von seinen eigenen Worten. (Ja, klar. Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Weißt du, wie schwierig es ist, jemanden wirklich umzubringen?)

Asher war ein bisschen so gebaut wie ein Schrank. Und ein Schrank konnte umgeworfen werden. Bevor sie zu viel über ihre Idee nachdenken und somit Zeit verschenken konnte, warf sich Scarlett nach vorne, hörte, wie Asher überrascht aufschrie, und kam unsanft auf dem Waldboden auf. Sie rollte sich ungeschickt zur Seite, als auch Asher fiel um nicht erdrückt zu werden und sprang mit zitternden Beinen auf.

Asher spuckte wütend etwas Erde aus und stand ebenfalls wieder auf: „Du bist echt nicht besonders stark, weißt du das?"

„Bist du ernsthaft mit offenem Mund gefallenen?", erwiderte Scarlett. „Asher, wie schwer kann es sein, den Mund zu schließen um keinen Staub zu inhalieren?!"
„Vorsicht.", zischte Asher. „Du kritisiert wirklich meine Art zu kämpfen?"
„Ja.", sagte Scarlett schulterzuckend und griff in ihre Hosentasche.
„Du hast aber schon bemerkt, dass ich dich eben komplett unter Kontrolle hatte – was ist das?"

Scarlett betrachtete das Taschenmesser, das sie wie gewöhnlich in der Hosentasche gehabt und soeben herausgeholt hatte: „Ich weiß nicht, wie begrenzt dein Wortschatz genau ist, aber die meisten Menschen würden es wohl Taschenmesser nennen."

„Steck es weg."

„Wieso denn? Hast du Angst, wieder etwas dummes zu tun?"

Ashers gebräunte Haut wurde plötzlich gelblich blass: „Ich weiß nicht, wovon du redest."
„Komm schon, Asher. Das ist so ein alberner Spruch! Selbst Sage sollte mit diesem Satz endlich bemerken, dass du lügst.", meinte Scarlett. „Oder war es doch Cooper, der ihr im alkoholisierten Schlaf den Arm aufgeschnitten hat?"

„Das war ein Unfall, verdammt noch mal!", kreischte Asher.

„Natürlich. Natürlich war es ein Unfall, und keine Gewalttat. Jedem kann doch mal das Messer aus der Hand fallen und so landen, dass es einen Mädchenarm aufschneidet. Einmal ist schließlich keinmal, und du würdest doch niemals jemanden verletzten, nur um deine Macht zu demonstrieren, wie du gerade bewiesen hast!"

Das gelb in Ashers Gesicht verwandelte sich in tomaten ähnliches rot: „Ich bring dich um. Ich bringe dich um!"

Scarlett beschloss, dass es Zeit war, zu verschwinden. Also drehte sie sich um und tat das, was sie besonders gut konnte; sie rannte weg.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top