Warja
Lautlos schlich sich der Nebel über den bedeckten Waldboden und webte sich um dessen Lebewesen. Er hinterließ einen sanften Schleier aus Feuchtigkeit, die sich schwer auf die Blätter und Stängel der Pflanzen legte und diese stetig nach unten drückte.
Der Wald lag in gespenstischer Stille. Es schien, als wären sämtliche Tiere verschwunden, doch wenn man sich genauer umsah, konnte man ihre Augen funkeln sehen. Gedämpftes Mondlicht kämpfte sich durch die dichten Baumkronen und fiel behutsam zu Boden und kurz, bevor der Nebel es verschlang, spiegelte es sich in den geweiteten Pupillen der verschreckten Tiere wider.
Im Unterholz versteckt, verließen sie sich auf ihre Instinkte und warteten darauf, dass die Gefahr das Weite suchte.
Warja hätte es ihnen gleich tun sollen, doch war sie, wie ein dummes Gör, ihrer Neugierde verfallen und ihm gefolgt. Fasziniert von der dunklen Gestalt und seiner ungewöhnlichen Aura, stolperte sie durch den Dickicht und schon bald schnitt sie sich an dem dornenverhangenen Waldweg. Der bittersüße Schmerz hätte ihr eine letzte Warnung sein sollen, doch ihr Verlangen, sein Geheimnis zu lüften, war zu groß. Unachtsam taumelte sie über eine Wurzel und fiel auf den weichen Boden. Feuchtigkeit trag durch ihre feinen Strumpfhosen, Schlamm legte sich um ihre zarten Hände, doch ihr Blick suchte bereits wieder nach ihm. Doch er war verschwunden. Sie spürte die Tränen, die sich durch ihr Innerstes fraßen, auf den Weg zu ihren rosigen Wangen, als sich ein kalter Schauer über ihren Körper legte. Ein Schatten bäumte sich hinter ihr auf und gab ein leises Fauchen von sich. Die Panik schnürte Wanjas Kehle zu, ließ sie nach Luft ringen und keuchen. Sie versank tiefer in dem weichen Boden, während sie langsam über ihre eigene Schulter sah.
Ein schriller Schrei der Angst drang aus ihrer Kehle, doch es war zu spät. Ihr Körper wirbelte durch die Luft und schlug in die raue Rinde eines Baumes. Glühende Augen sprangen ihr nach und das Letzte, was sie vernahm, war, wie ihr Fleisch unter den schweren Hieben von ihren Knochen platzte.
Es war derselbe Baum, an dem Warja immer noch fassungslos lehnte. Ihre trüben Augen fest auf ihren zerfetzten Leib gerichtet. Gefangen, wie eine Spinne in ihrem eigenen Netz, sah sie dabei zu, wie der Nebel sich um ihren leblosen Körper zog und ihren blutigen Totenschädel nur noch schemenhaft zeigte.
Sie vernahm das dumpfe Flüstern der Geister hinter sich, die versuchten sie in das gleißende Licht zu locken. Doch die Neugierde, welche sie in den Tod gelockt hatte, wandelte sich zu brodelnden Zorn. Sie musste ihren Mörder finden und das Geheimnis seiner berauschenden Aura erkunden. Sie wendete sich ab, von dem Geflüster und schwebte tiefer in die Dunkelheit des Waldes.
Gehetzt schwebte sie durch den Wald. Weg von dem Licht. Weg von den Stimmen. Der Wind trieb sie tiefer in das Unterholz. Zu Beginn versuchte sie den tiefhängenden Ästen und Dornen, die ihr drohend entgegen stachen, auszuweichen. Doch die Dunkelheit wurde immer drückender und das sanfte Mondlicht schaffte es nicht mehr, die dichten Baumkronen zu durchdringen. Und so vernahm sie die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, nur noch schemenhaft. Raschelnde Blätter kündigten einen Windhauch an und mit ihm, drang ein gehässiges Kichern zu ihr durch. Ihr Blick suchte die Umgebung ab, doch immer noch lag nichts, außer Düsternis vor ihr.
»Hallo?«, flüsterte sie leise in die Leere vor sich.
Und schon erklang das Kichern lauter und plötzlich rissen die Baumkronen über ihr auf. Das weiße Mondlicht strahlte hell zum Boden und ließ Warja die Augen aufreißen. Ein seltsames Gebilde zeichnete sich nur Zentimeter vor ihr ab, beleuchtet, als verweilte es auf einer Theaterbühne. Ein schwarzer Umhang verhüllte die Gestalt. Abgenutzt und dreckig. Ein zerfetzter Hut thronte auf einem verfaulten Kürbis und sollte wohl den Kopf darstellen. Rostige Ketten fesselten die Gestalt an ein zersplittertes Holzkreuz. Warja schluckte und ein eigenartiges Kribbeln wanderte durch ihren Körper. Ein lautes Krächzen ließ sie zurückweichen. Zwei Krähen ließen sich auf den ausgebreiteten Armen nieder und starrten sie mit rotglühenden Augen an.
»Du solltest nicht hier sein«, zerriss plötzlich eine raue, bedrohlich wirkende Stimme die Stille.
Warja starrte die Raben an.
»Du hättest in das Licht gehen sollen.«
Die Stimme kam nicht von ihnen. Ruckartig drehte sie sich herum.
»Für dich gibt es nichts Gutes mehr auf dieser Welt.«
Eine riesige Schlange baute sich hinter ihr auf. Warja keuchte panisch auf und wich ein Stück zurück.
»Ich rieche deine Angst«, zischelte die Schlange.
Ihre Augen glühten grün, während sie langsam auf Warja zu schlängelte. Plötzlich vernahm sie das Rasseln von Ketten. Doch es war zu spät. Lange Krallen bohrten sich in ihre Schultern und zerrten sie zurück. Ein panischer Schrei verließ ihre Kehle, als die den Kopf nach hinten warf. Flammende Augen starrten sie an. Ein fauliger Geruch kroch ihr in die Nase. Die Vogelscheuche war zum Leben erwacht und riss gierig ihren Schlund auf.
»Was willst du noch hier?«, grollte sie ihr entgegen.
»Ich ... ich will meinen Mörder finden«, wimmerte Warja leise.
Die Vogelscheue hielt inne, behielt Warja aber fest in ihren Klauen.
»Rache«, säuselte die Schlange, die sich vor ihr positionierte.
»Rache ist töricht, kleine Warja. Du wirst Schlimmeres erfahren als den Tod, wenn du deine Jagd beginnst.«
Warjas Herz schlug schmerzhaft gegen die Brust. Schmerzen überschwemmten ihren toten Körper, während die Krallen sich tiefer durch ihren Körper schnitten. Lähmende Angst ergriff sie und das konnte nicht sein. Sie war tot. Wie konnte es sein, dass sie all diese Empfindungen noch spürte? Warja schüttelte entschlossen den Kopf. Die Wut in ihr war längst nicht erloschen, auch wenn die Angst diese gerade dämpfte.
»Stur und eigensinnig. So wie schon viele Jahre«, säuselte die Vogelscheue beinahe so leise, dass Warja die Worte kaum verstand.
Die Schlange kicherte leise auf. »Sie ist verwirrt. Wer wäre das nicht?«
Warja suchte nach den passenden Worten, doch die Schmerzen vernebelten langsam ihren Geist.
»Lass ab von ihr. Wir werden ihr helfen«, zischte die Schlange.
Ein leises Grollen ertönte hinter ihr, doch die Vogelscheue zog die Krallen aus Warajs Leib. Schwere Schritte waren zu hören und als Warja zögernd über ihre Schulter sah, vernahm sie, dass die Vogelscheue wieder leblos an ihrem Holzkreuz hing.
»Was passiert hier nur?«, fragte sie leise, während sie sich über die Schultern rieb.
»Du bist gefangen zwischen den Welten. Halb Mensch. Halb Geist.«
Warja sah zurück zu der Schlange, die bereits einige Meter von ihr entfernt war.
»Und was seid ihr?«
Die Schlange hielt inne und sah Warja wissend an. Doch anstatt ihr zu antworten, wandte sie sich erneut ab und schlängelte sich unter einem Baumstamm hindurch.
»Komm, wir müssen zum Hexenhaus finden, bevor die Sonne aufgegangen ist.«
Warja runzelte die Stirn. Ihr Blick schweifte über die Umgebung, die wieder gänzlich in Dunkelheit gehüllt war. Sie waren doch schon mitten im tiefsten Wald. Wie weit konnte dann ein Hexenhaus entfernt sein?
Sie schwebte schweigend der Schlange nach und das seit einer gefühlten Ewigkeit. Ihre Gedanken hingen immer noch bei der Frage, was sie nun eigentlich war. Halb Geist. Halb Menschen. Zu verstehen, dass sie tot war, schien schon unmöglich. Aber zwischen den Welten zu hängen, schien unglaublich. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung und stockte. Denn anstatt, dass sie tiefer in den Wald vordrangen, verschwand der Dickicht langsam um sie herum. Die schwere Dunkelheit, welche sich zuvor wie ein Netz um sie gelegt hatte, löste sich allmählich auf. Langsam, aber sicher lichtete sich der düstere Wald und Warja begriff, dass sie dem Waldrand näherkamen.
»Ich dachte wir müssen zu einem Hexenhaus?«, entfuhr es ihren Lippen.
Die Schlange schlängelte sich gerade durch die letzten Farnpflanzen, die tief über den Boden lagen.
»Müssen wir auch. Aber wer sagt denn, dass diese immer im Wald sein müssen? Die Zeiten der dunklen Märchen sind längst vorbei.«
Warja runzelte ihre Stirn, nahm es jedoch hin und schwebte langsam an den Rand des Waldes. Vor ihr tat sich eine Lichtung auf, die Sonne kämpfte sich langsam über den Horizont und die ersten Lichtstrahlen trafen auf die Ruinen eines alten Gemäuers.
»Beeil dich«, zischte die Schlange, beschleunigte und schoss über das hohe Gras, welches die Ruine umzingelte. Warja beschlich ein schreckliches Gefühl und gleichzeitig wurde sie von Erinnerungen überschwemmt.
»Ich war schon mal hier.«
Die Schlange ignorierte ihre Worte und war bereits an dem Gebäude angekommen. Der Zahn der Zeit hatte an diesem genagt. Der Dachstuhl war zerfallen. Der Putz, der einst sicher weiß gewesen war, schimmerte grünlich und war großflächig mit Moos und Efeu bewachsen. Die Fenster bestanden nur noch aus Resten von Glassplittern. Warja zog es die Kehle zusammen und immer deutlicher wurden die Bilder vor ihrem inneren Auge. Sie war bereits hier gewesen, aber warum?
»Komm jetzt«, zischte es ihr scharf entgegen, bevor die Schlange durch ein Loch in der Mauer ins Innere verschwand.
Warja zögerte, doch was hatte sie schon für eine Wahl. Langsam schwebte sie auf die Tür zu, als ihr die Schrift darüber ins Auge sprang.
Sanatorium. Schmerzen schossen durch ihren nicht vorhandenen Leib und ein quälender Schrei entfuhr ihr. Doch ehe sie regieren konnte, sprang die Tür auf und sie wurde in das Innere gezogen. Mit einen lauten Krachen knallte die Tür hinter ihr zu. Der widerliche Geruch von verfaulten Eiern drang durch ihren Körper und ließ sie würgen. Eisige Kälte legte sich um sie und weckte das Verlangen nach Flucht. Die pure Angst legte sich in ihren Leib. Dunkelheit umhüllte sie und mehr als abgefetzte Tapete und blanke Steinwände konnte sie nicht erkennen. Plötzlich legte sich ein Kribbeln um ihre Füße und als sie den Blick nach unten gleiten ließ, schrie sie auf. Eine Kakerlake kletterte ihr Bein nach oben, gefolgt von Weiteren. Sie ummantelten ihren leblosen Leib und bildeten eine schwarze Rüstung. Ekel ergriff Warja. Doch der Versuch, sich zu wehren, endete damit, dass noch mehr der Viecher auf ihren Leib sprangen.
»Hilfe«, jammerte sie.
»Entspann dich«, zischelte die Schlange und schob sich über den dreckigen Boden an ihr vorbei.
Warja schwieg, denn etwas Schweres lag auf ihrer Brust und ließ sie kaum atmen. Unweigerlich begann sie, der Schlage durch die Dunkelheit zu folgen. Der beißende Geruch wurde immer intensiver und nur wenige Sekunden später kannte Warja dessen Ursprung.
Eine Gestalt trat vor sie. Ihr Leib bestand aus fauligem Fleisch und hing in Fetzen von ihren Knochen. Abgemagert Finger zeigten auf Warja, bestehend nur noch aus Sehnen und Knochen.
»Du!«, raunte eine Stimme Warja entgegen, was unmöglich war, denn die Gestalt besaß keinen Kopf.
Ein Halsstumpf mit verkrusteten Blut und herausstehenden Wirbeln war alles, was noch übrig war.
»Ignorieren«, wies die Stimme an, »sie ist immer noch angepisst.«
Warja verstand kein Wort. Es schien so, als müsste sie wissen, was hier um sie passierte, doch wie konnte sie? Doch ihr Leib schob sich einfach weiter an dem toten Fleisch vorbei und schon stand sie in einen leicht beleuchteten Raum. Der Geruch von Weihrauch vertrieb die letzten üblen Gerüche. Die Kakerlaken verschwanden wie von Zauberhand und die Schlange schlängelte sich um den schweren Holztisch, der vor ihr stand. Warjas Blick huschte durch den Raum. Regale voller Reagenzgläser erstreckten sich über die Wände. Getrocknete Kräuter hingen von der Decke. Zu ihrer linken entdeckte sie einen Kessel, unter dem eine Flamme loderte.
Das Hexenhaus.
Vor ihr auf den Schreibtisch lagen unzählige Pergamente und Bücher, doch was Warja fesselte, waren die Tarot - Karten, die alle die Gestalt von Warja zeigten.
»Unmöglich«, murmelte Warja und gerade, als sie nach den Karten greifen wollte, schrie die Schlange auf. Der Schrei vibrierte durch Warjas Leib und ließ sie zu der Schlange blicken, die sich auf den Stuhl hinter dem Tisch gewunden hatte und plötzlich anschwoll. Sie wurde immer größer und plötzlich riss ihre Haut. Blut und vertrocknete Schuppen verteilten sich über den gesamten Raum, bis sich darunter eine menschliche Gestalt hervorhob. Warja keuchte auf, als sie verstand, dass die Schlange in Wirklichkeit eine Hexe war.
»Was ist los kleine Warja, erkennst du mich immer noch nicht?«, zischelte die Hexe ihr mit einem breiten Grinsen entgegen.
Warja wich weiter zurück, bis sie an etwas Weiches stieß. Der üble Geruch des Verfalls umschloss sie augenblicklich und sie wusste auch ohne sich umzudrehen, wer hinter ihr stand. Angewidert schwebte sie wieder näher auf die Hexe zu und starrte in deren trübe Augen. Ein milchiger Schleier lag über ihren Pupillen, die tief in einem vernarbten Gesicht lagen. Schmale, schwarze Lippen grinsten ihr immer noch entgegen, umrandet von verfilztem dunklem Haar.
»Setzt dich Warja«, krächzte die Hexe und konnte das Zischeln nicht ganz in ihren Worten verbergen.
Warja tat, was ihr befohlen wurde, denn die Hoffnung diesem Szenario zu entkommen, ging gegen null.
»Wer ... wer bist du?«, stotterte sie.
»Ach Warja. Jedes Jahr dasselbe Spiel. Bist du es nicht langsam leid?«, fragte die Hexe, setzte sich hinter den Tisch und ließ ihre Hände zu den Tarot - Karten gleiten.
»Was willst du damit sagen?«
Die Hexe schüttelte den Kopf und seufzte.
»Jedes Jahr zu deinem Todestag tauchst du in meinen Wald auf. Mal ängstlich. Mal aggressiv. Jedes Jahr suchst du nach deinem Mörder und jedes Mal verträgst du die Antworten nicht.«
Eisige Kälte zog in Warja ein und schien sie langsam zu töten. Erneut.
»Das kann nicht sein. Ich wurde gerade erst getötet. Ich...«, sie hielt mitten im Satz inne, denn konnte sie sich noch sicher sein, dass sie wusste, was um sie herum geschah?
Die Hexe grinste erneut.
»Warja. Warja. Warja. Erinnerst du dich an nichts? Du bist hier in deinem Zuhause. Erinnerst du dich?«
Warja riss den Kopf herum und wieder durchfluteten sie Erinnerungen, wie eine Welle des Schmerzes. Schreiende Kinder. Tränen. Das Kratzen von Nägeln an Wänden hallte durch ihren Geist. Sie sah sich selbst, sitzend auf einem Bett mit nackter Matratze. Sie sah die Narben der Fesseln an ihren Handgelenken.
Sie sah die Hexe an und Zorn funkelte in ihren Augen.
»Du warst es. Du hast die Kinder hier gequält?«
Sofort schüttelte die Hexe den Kopf.
»Nein. Ich habe es mir hier nur bequem gemacht nachdem...«, die Hexe zögerte zur, »bevor dein Mörder hier um sich geschlagen hat.«
Warja biss sich auf die Lippen und wurde erneut von dem vorhandenen Schmerz überrascht.
»Ich erinnere mich nicht an ihn. Wer ist es?«
Wieder schüttelte die Hexe den Kopf.
»Es dir zu sagen, bringt nichts, du glaubst es nicht. Das hast du nie. Du musst es selbst herausfinden.«
Die Worte wirkten wie ein schlechter Scherz. Sie sollte schon seit 30 Jahren tot sein? Das konnte nicht sein und doch nickte sie.
»Dann zeig es mir, bitte«, flehte sie schon fast.
Die Hexe schmunzelte und lehnte sich langsam über den Tisch.
»Ich dachte schon, du fragst nie. Wähle.«
Sie breitete die Tarot - Karten vor Warja aus und wartete.
Diese ließ ihren Blick über die Karten schweifen und konnte immer noch nicht glauben, dass auf jeder Einzelnen ihr Antlitz zu sehen war. Unsicher musterte sie die Karten und wählte am Ende die, welche Warja mit einem Raben auf der Schulter zeigte.
»Gute Wahl«, raunte die Hexe, packte Warja, zog sie über den Tisch und zwang sie dazu, in ihre trüben Pupillen zu starren.
Warja wurde schwindelig und der Raum um sie herum verschwand. Ein Strudel schien sie mit sich zu reisen und kurz bevor sie glaubte das Bewusstsein zu verlieren, krachte sie hart auf den Boden. Dunstig, weißer Nebel legte sich um ihre Knöchel und lähmte sie. Kleine Rauchwolken bildeten sich vor ihrer Nase und legten sich feucht auf ihr Gesicht. Warja sah sich suchend um. Die Wände waren glatt und mit leichten Eiskristallen überzogen.
»Eine Kühlkammer«, flüsterte sie, als ein hohes quietsch durch den Raum schwang.
Licht strömte herein, durchbrochen nur von der dunklen Gestalt, die in der geöffneten Tür stand. Warja riss ängstlich die Hände vors Gesicht und versuchte sich, noch kleiner als eh schon zu machen. Schwere Schritte traten in den Raum und hielten direkt vor Warja an, doch scheinbar schien die Person sie nicht zu merken. Deren Aufmerksamkeit war an die Decke des Raumes gerichtet und als Warja ihren Blick nach oben richtete, schrie sie panisch auf.
Körper. Makaber verbogen. Tot. Unzählige Leichen hingen nackt von der Decke. Leere, tote Augen starrten Warja entgegen. Die Person vor sich packte eine davon und ließ sie achtlos zu Boden fallen und in dem Moment, wo sie sich nach unten beugte, um sie achtlos am Bein zu greifen, begann sich erneut alles, um Warja zu drehen.
Das war unmöglich. Das musste eine Maske sein. Wie sollte es sonst sein... doch bevor sie die Gedanken zu Ende bringen konnte, riss der Strudel sie erneut mit sich und das Nächste, was sie vernahm, war der faulige Geruch von Eiern und trübe Augen, die sie immer noch anstarrten.
Warjas Puls raste. Panik fesselte sie eiserne Ketten an ihren Stuhl. Wie konnte das nur möglich sein?
»Ich... ich...«
Die Hexe seufzte und schob eine Tasse dampfenden Tee zu Warja.
»Trink. Er wird dir helfen.«
Doch Warja dachte nicht daran. Sie sammelte all ihren Mut und bündelte den Zorn, welcher immer noch in ihr schlummerte und rannte los. Sie stieß den Stuhl um und rannte, nein schwebte durch die dunklen Gänge. Orientierungslos und verängstig irrte sie durch die Dunkelheit auf der Suche nach der Tür in die Freiheit. Doch sie blieb ihr verborgen, bis ihr bewusst wurde, dass sie ein Geist war. Zumindest zum Teil. Die legte an Geschwindigkeit zu, kniff die Augen zusammen und spürte Sekunden später sanfte Wärme auf ihren Leib. Frische Luft kroch durch ihre Zellen und ließ sie langsam wieder die Augen öffnen.
Es hatte geklappt, sie stand auf der Wiese hinter der Ruine. Im Freien und vor allem allein. Vorsichtig sah sie sich um, mit der Angst im Nacken, dass die Hexe oder womöglich die kopflose Gestalt wieder hinter ihr auftauchen konnte, aber nichts passierte. Bis plötzlich ein leises Schnurren zu hören war. Eine schimmernde Katze trat aus dem hohen Gras hervor und sah Warja mit sanftem Blick an.
»Wer bist du?«, fragte Warja unsicher.
Die Katze blieb aus Abstand.
»Eine Freundin. Zumindest war ich das, bist du mich getötet hast!«
Die Worte legten sich schwer auf Warjas totes Herz.
»Ich?«, fragte sie und konnte die Verzweiflung in ihren Worten nicht verbergen.
Die Katze nickte.
»Du erinnerst dich nicht, oder?«
Warja schüttelte den Kopf und vernahm das enttäuschende Schnauben der Katze, bevor sie aufstand und sich davon machte.
»Komm, ich erklär es dir. Keine Angst, die Hexe kann nicht ins Sonnenlicht treten.«
Zögernd und mit ausreichend Abstand schwebte Warja der Katze nach. Sie bleib vor einen großen, verwitterten Stein stehen. Erst als Warja näher kam, erkannte sie, dass es sich um einen Grabstein handelte. Sie starrte auf den eingemeißelten Namen. Warja.
Das Datum ihres Todes lag tatsächlich 30 Jahre zurück. Sie sank in sich zusammen, wippte vor und zurück und murmelte leise vor sich her.
»Wie kann das sein?«
Die Katze setzte sich neben Warja und begann zu sprechen.
»Dein Leben lang hast du in diesem Sanatorium hinter uns gelebt. Du durftest nicht oft nach draußen, aber wenn, dann warst du die Einzige, die liebevoll zu mir war. Ich war wie eine Freundin für dich, wenn ich auch nur eine Katze war. Du warst 10, als du die Qualen in diesen Mauern nicht mehr ertragen konntest. Du warst nie verrückt, weiß du. Doch der Leiter dieses Hauses nahm auch normale Kinder auf. Ihr dientet als Kontrollgruppe seiner kranken Experimente. An diesem Abend wolltest du flüchten, doch er jagte dich und überwältigte dich im Wald. Er erschlug dich. Zumindest glaubte er das, doch es kam dir jemand zur Hilfe. Ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren und trüben Augen.«
Warja schnappte nach Luft.
»Die Hexe?«
Die Katze nickte.
»Ja, bis dahin hatte sie ihre Kräfte im Verborgenen gehalten, doch sie überwältigte ihn und versuchte dich zu retten. Aber der Zauber ging schief und sie...«
Wieder hielt die Katze inne, doch Warja sah sie flehend an.
»Bitte.«
Die Katze zögerte, sprach dann aber doch weiter.
»Sie hat deine Seele gespalten. Das Gute starb und wurde zu einem Geist. Das Böse blieb und tötete alles und jeden. Es tötete noch in derselben Nacht jedem in dem Sanatorium inklusive mir und zog dann weiter.«
»Deswegen sah die Gestalt in der Kühlkammer aus, wie ich. Es war ich«, stellte Warja erschrocken fest.
Die Katze gab ein zustimmendes Schnurren von sich.
»Warum erinnere ich mich nicht?«
»Wir wissen es nicht, aber jedes Jahr an deinem Todestag tauchst du hier auf und suchst nach Antworten. Da du zwischen den Welten wandelst, kannst du die dunklen Kreaturen sehen und so ist es noch schwieriger, dir die Wahrheit beizubringen. Und egal, wie wir es dir erklären wollen, eigentlich verschwindest du in dem Moment, wo du die Wahrheit erkennst, und wir sehen uns erst in einem Jahr wieder.«
Warja versuchte das Gehörte zu verarbeiten und wenn sie ehrlich war, würde sie auch jetzt am liebsten nur davon laufen. Doch etwas hielt sie an Ort und Stelle und sie nahm endlich den Blick von ihren eigenen Grabstein.
»Bin ich noch da draußen? Ich meine, der böse Teil von mir?«
Die Katze nickte.
»Ja, er lebt und tötet. Schuldige. Unschuldige. Einfach jeden.«
»Und warum hält mich keiner auf?«, fragte Warja.
»Niemand kann es. Niemand außer die Hexe und die, die ist nicht in der Lage dein böses Ich zu finden.«
Warja rasten tausend Gedanken durch den Geist.
»Ich gehe seit 30 Jahren nicht in das Licht, weil nur ich mich selbst aufhalten kann?«
»Das ist es, was wir vermuten, aber wie gesagt, bis jetzt bist du immer davon gerannt. Erinnere dich. Wo würdest du dich verstecken.«
Warja lachte beinahe schon gehässig auf.
»Ich? Ich bin tot, schon vergessen?«
Doch noch während sie diese Worte aussprach, prasselte ein neuer Schwung Erinnerungen auf sie ein. Bilder flackerten auf. Verschwommen und völlig zusammenhangslos. Doch ein Bild wurde immer klarer und deutlicher und zeigte die unterirdischen Gänge des staatlichen Museums, in welchem sich Warja damals verlaufen hatte und danach im Sanatorium wieder aufwachte.
»Ich weiß es. Ich weiß, wo mein böses Ich sich versteckt.«
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