Kristall des Lebens

Warme modrige Luft schlug ihm entgegen, als er die schwere Eisentür zu den Katakomben aufdrückte. Zögernd starrte er in die Dunkelheit und suchte nach Gründen nicht weiterzugehen. Doch egal, wie viele logische Gründe in seinem Verstand nach Gehör schrien, die Neugierde war zu groß.

Seine Hand schloss sich fester um die Fackel, welche er vor der Tür entfacht hatte.

»Für Dad«, flüsterte er sich leise zu und machte einen ersten Schritt in die scheinbar endlose Leere.

Zwei Schritte später krachte die Tür mit einem lauten Knall in das Schloss und verschlang erbarmungslos das letzte Tageslicht.

Lean seufzte, bevor er sich daran machte den langen Gang vor sich entlangzulaufen.

Es war wieder einer dieser Momente, in dem er sich fragte, warum er tat, was er tat. Er war nicht sonderlich mutig. Er hasste die Dunkelheit und eigentlich wollte er gerade nichts lieber, als auf seiner verdammten Couch sitzen und sich von Netflix berieseln lassen. Aber nein, er wanderte durch ein verfluchtes Höhlensystem unter Paris.

Vor drei Jahren hätte er nur bei dem Gedanken daran schon gelacht und fassungslos den Kopf geschüttelt. Schwachsinn. Das war das Wort, womit er die Obsession seines Vaters beschrieb. Jahre hatte dieser damit verbracht, nach verlorenen Dingen zu suchen. Ein Schatzsucher der modernen Zeit, auf der Suche nach den verlorenen Geheimnissen der Vergangenheit. So beschrieb sich Leans Vater. Schwachsinn. Immer noch. Das Einzige, was Lean an der Macke seines Vaters guthieß, waren die vielen Reisen. Schon als Kind hatte er mehr Länder der Welt bereist, als andere es in ihrem ganzen Leben schaffen würden.

Doch seine Einstellung änderte sich, als sein Vater starb. Die Leere, die er zurückließ, fraß sich tief in Leans Leib. Nichts vermochte diese zu füllen. Nichts bis auf das Erbe seines Vaters.

Und genau dieses hatte ihn in diese gottverlassenen Katakomben gebracht.

Leans Schritte hallten durch den verlassenen Gang, die Luft wurde immer stickiger und reizte seine empfindliche Nase. Etwas Süßliches lag darin, was seinen Magen unruhig auf gebaren ließ. Die Fackel warf verzerrte Bilder an die Wände. Schatten, die ihm zu verfolgen schienen. Ein seltsames Gefühl legte sich auf seinen Körper und begann an seinen angespannten Nerven zu zerren.

Er hielt inne und spürte, wie seine Nackenhärchen sich langsam aufstellten. Angst kroch durch seinen Leib und setzte sich in seinem Gliedern fest.

»Der Kristall«, murmelte Lean leise vor sich hin und versuchte sich so, wieder ins Gedächtnis zu rufen, warum er hier war.

Der Kristall des Lebens. Er war es, der seinen Vater jahrelang beschäftigt hatte. Hunderte hatten bereits nach ihm gesucht, doch sein Vater war es, der ihn schließlich fand. Doch kurz bevor er sich auf die Reise nach Paris machen konnte, starb er bei einem Autounfall.

Lean konzentrierte sich darauf, die Angst loszulassen und weiterzulaufen. Er wusste nicht, wie lange er schon durch die Dunkelheit lief. War er bereits irgendwo abgebogen? Zu tief in seinen Gedanken verstrickt, vernahm er nicht, dass sich die Luft um ihn wandelte.

Eisige Kälte legte sich auf seine Haut, als er plötzlich ein leises Raunen vernahm. Ein Flüstern von betörenden Worten. Erschrocken riss es Lean aus seinen Gedanken, als im selben Moment die Fackel ohne sein Zutun erstickte. Blind und mit pulsierender Angst in den Venen suchte er nach einer Orientierung. Seine Hände ertasteten die feuchte Wand hinter sich, an welche er sich sofort presste.

»Komm zu mir. Du bist reinen Herzens.«

Lean drehte sich panisch herum, doch die Worte hallten nur in seinen Ohren.

»Komm näher. Du hast es verdient.«

Leans Herz raste, während er die Umgebung absuchte. Bis - bis er einen schwachen Lichtschein erblickte. Vorsichtig, mit angehaltenem Atem setzte er sich in Bewegung, begleitet von der lockenden Stimme.

Nicht wissend, warum er nicht die Flucht ergriff, kam er dem Lichtschein immer näher und als er die Quelle fand, nahm es ihm den Atem.

Unzählige Kerzen erhellten den winzigen Raum und offenbarten das Grauen. Hunderte Schädel zierten die Wände. Verankert in diesen, sahen die leeren Augenhöhlen auf ihn herab. Der Boden gepflastert aus abgenutzten Knochen. Die Decken verhangen mit Rippenbögen. Der Schrecken legte sich auf seine Seele und ließ seinen Magensaft die Kehle aufsteigen. Doch die Luft war so klar und kühl, dass sie seinen aufgewühlten Körper besänftigte.

»Komm näher«, flüsterte es von allen Seiten und sein Blick fiel auf das seltsame Gebilde vor sich. Eine Statur aus dunklem Stein. Nachempfunden eines Menschen ohne nennenswerte Merkmale stand sie vor ihm. Doch auf Höhe des Herzens glühte ein roter Punkt. Ein Kristall. Rot wie Blut. Schimmernd und so betörend. Lean vergaß den Schrecken um sich und lief auf die Statur zu.

»Er gehört dir«, flüsterte sie.

Leans Gesicht färbte sich rot durch den Schein des Kristalls und dieser spiegelte sich in seinen Augen wider.

»Warum ich?«, fragte Lean zögerlich, ungläubig, dass er der Erste sein sollte, der diesen Schatz entdeckte.

»Du bist reinen Herzens. Du hast nicht nach ihm gesucht und doch stehst du hier. Ihr seid mir die liebsten.«

Lean nickte. Unfähig zu denken. Unfähig die Zusammenhänge zu erkennen, wanderten seine Hände zu dem Kristall und lösten ihn sanft aus dem Stein. Ein Kribbeln legte sich über seinen Leib und nahm ihn gefangen. Nebel zog in seine Gedanken. Gebannt von seiner Schönheit. Fasziniert von seinem Schatz blendete er seine Umgebung völlig aus und so bemerkte er nicht, den blutigen Rinnsal, der langsam aus der Kerbe floss, in welcher, bis eben der Kristall gesessen hatte.

Auch vernahm er nicht, dass das Kribbeln auf seiner Haut unzählige fleischlose Finger waren, die sich langsam zu seinem Herzen bewegten.

»Der Kristall des Lebens«, säuselte Lean leise. Stolz schwang dabei in seinen Worten.

Und erst als sich die Finger bereits auf seiner Brust befanden, schrillte ein grelles Lachen durch die Katakomben.

»Der Kristall meines Lebens«, grollte die Stimme ihm entgegen.

Lean schrie auf vor Schmerz, als die Finger sich durch sein Fleisch bohrten und sich um sein Herz schlossen. Mit einem schnellen Ruck rissen sie das Herz aus seinem Leib. Mit dem Kristall in der Hand ging er zu Boden. Mit einem klaffenden Loch in der Brust sah er, wie der Kristall seine Kraft verlor und langsam zu Staub zerfiel, während sich sein schlagendes Herz zu einem leuchtend roten Kristall wandelte und langsam wieder in die Kerbe der Statur getragen wurde.

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