Kapitel 6
Evie
Bereits aus der Ferne sehe ich den schwarzen Metallzaun aufragen. Schon um diese Uhrzeit sind Unmengen von anderen Leuten auf den Weg zum Tor, das den Zaun an einer Stelle unterbricht und einlass zum Friedhof gewährt. Die Meisten von ihnen tragen schwarze Kapuzenpullover und Regenjacken, deren Kapuzen sie tief ins Gesicht gezogen haben, oder Mützen, die ihre Augen verbergen.
Reihenweise betreten junge Hexen und Hexer den alten Friedhof, der im riesigen Meer an Gebäuden und Plätzen dieser Stadt fast untergeht, was für die Hexen dieser Stadt praktisch ist, denn so gelingt es uns in der Menge unterzutauchen und im Verborgenen zu bleiben, selbst wenn wir uns versammeln. Und auch wenn man uns entdecken würde, wären wir für die Meisten nur eine der vielen komischen Gruppen, die sich hier in der Stadt tummeln.
Mein Schritt beschleunigt sich, als ich sehe wie viele andere bereits auf dem saftigen, grünen Rasen zwischen den grauen Grabsteinen sitzen.
Endlich bei der letzten Ruhestätte vieler Londoner angekommen, trete ich durch das metallene Eingangstor und spüre sofort ein leichtes Beben, das jeden ein bisschen durchschüttelt, der den Verhüllungszauber durchdringt. Schon seit mehreren Jahrhunderten umhüllt dieser Zauber den Platz und verbirgt die Hexen und ihre Magie für die Menschen außerhalb des Grundstücks.
Gewissenhaft lasse ich meinen Blick über den riesigen Rasenplatz wandern. Überall ragen Grabsteine in den verschiedensten Formen und Größen aus dem Boden. Der Gedanke, dass im Boden unter uns tote Menschen begraben liegen, mag für normale Menschen vollends erschreckend sein, weshalb sich auch Keiner von ihnen lange mit gutem Gewissen hier aufhalten würde, doch bei Hexen ist es etwas ganz Anderes. Meine Spezies ist schon seither mit der Natur verbunden und das Sterben ist ein Werk des natürlichen Kreislaufes des Lebens. Deshalb überkommt mich auch jedes Mal eine gewisse Form der Aufregung und es fühlt sich so an, als würde man von einem Energieschub erfasst und mitgerissen werden, der ein berauschendes Kribbeln in meiner Magengrube mit sich bringt. Diese Gefühle sind fast mit einem Rauschzustand zu vergleichen, der nur hier zu spüren ist.
Anstatt mich wie sonst auf meinen gewohnten Platz zwischen einer alten Eiche mit unzähligen Astgabeln und dem großen Familiengrabstein der Familie Haywire fallen zu lassen, entscheide ich mich dafür einen privateren, geschützten Ort zu wählen. Schließlich habe ich heute Nacht nicht nur vor meine Kräfte neu zu stärken, sondern zudem meine Forschung weiter voran zu bringen.
Schnellen Schrittes verlasse ich deshalb den Weg und steuere auf ein Gebäude von der Größe einer Gartenlaube zu. Es besteht aus grauem, von der Zeit bereits ziemlich in Mitleidenschaft gezogenem, Backstein, an dem sich grün-braunes Moos mit aller Kraft hilfesuchend festklammert. Das Dach ist flach und besteht aus genau dem gleichen Stein, wie die Wände darunter.
Es gibt keine Tür, sondern nur ein freies Loch, das den Blick auf eine vierstufige Steintreppe freigibt. Schnell steige ich die wenigen Stufen hinunter und lausche den Geräuschen, die die Absätze meiner Stiefel auf dem Beton erzeugen.
Im Inneren ist es kälter als draußen, weshalb ich die Jacke fester um meinen Leib schlinge. Das Gebäude, das von Außen klein aussieht, ist drinnen um einiges größer. Durch eine ähnliche Lücke scheint das Licht des Mondes in den Raum und ermöglicht mir einen besseren Blick auf die spärliche Einrichtung.
Vor dem Fenster steht ein schmaler Tisch aus Weißeiche, der mit einer Vielzahl von Geräten bestückt ist und genau die richtige Größe für mich hat. Am anderen Ende des Raumes befindet sich ein ebenfalls steinernes Becken. Darin bebt die Oberfläche des klaren Wassers bei jedem Schritt, den ich mache, kaum merklich und schlägt seichte Wellen. An der letzten Wand, links des Eingangs, stehen unzählige Namen, in einem gleichmäßigen Abstand, in das harte Material eingemeißelt. Zwei kleine Feuerschalen sind in beiden, an die Wand angrenzenden, Ecken von einer unbekannten Person, scheinbar vor langer Zeit, platziert worden. Bei meinem Eintreten entzündeten sich die Flammen wie auf magische Weise von selbst und erleuchten die Worte flackernd.
Nach langer Recherche habe ich bereits vor längerer Zeit herausgefunden, was es damit auf sich hat. In goldenen Lettern stehen dort die Namen der mächtigsten, hier begrabenen, Hexen und Hexer meines Zirkels, als Anerkennung für ihre Leistungen. Auch ein Großteil der 'Blakemore'-Blutlinie, der Linie von einer der mächtigsten Hexenfamilien und Gründerfamilie des Zirkels, liegt hier begraben und einige von ihnen wurden sogar auf der Wand vermerkt.
Mein Liebling ist Margaret Blakemore. Sie lebte während des Zweiten Weltkrieges und war eine der größten Magierinnen ihrer Zeit, die im Krieg auch das Gebäude, in dem ich mich gerade befinde, nutzte, um versteckt vor den Bewohnern Londons, Magie praktizieren und neue Zauber entwickeln zu können.
Zwar bin ich kein Freund davon, dass beide Gründerfamilien, die Hollingsworth's und die Blakemores, nach wie vor darauf bestehen ihre Zirkel mehr oder weniger zu leiten. Wenigstens haben die Blakemores zu Beginn des Jahrhunderts beschlossen mit gutem Beispiel voran zu gehen und deshalb einen demokratischen Rat eingeführt, der aus sämtlichen Vertretern bekannter Familien unseres Zirkels besteht. Währenddessen wollen die Hollingsworth weiterhin stoisch alle wichtigen Entscheidungen für den Richmondhexenzirkel, mit dem wir schon lange im Clinch stehen, alleine treffen.
Nachdem ich lange genug die goldene Schrift betrachtet und mit dem Finger federleicht hinübergestrichen habe, wende ich meinen Blick schnell ab, um mich meinem eigenen Ziel zu widmen. In der Mitte des Raumes lasse ich mich auf den eiskalten Boden fallen und setze meinen Rucksack ab. In Gedanken bin ich bereits bei den Zaubern, die ich heute Nacht sprechen werde. Ob ich es dieses Mal schaffen werde, weiß ich nicht, und ehrlich gesagt verlässt mich langsam auch die Hoffnung daran.
Sorry, dass diese Kapitel und das davor so kurz waren. Bitte wundert euch nicht darüber, denn eigentlich sollten Kapitel 5 - 7 nur ein Kapitel sein, doch als mir aufgefallen ist, dass das dann wahrscheinlich 5000 Wörter lang wäre, habe ich es zu drei Kapiteln gemacht.
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