Kapitel 3

Evie

"Hey, Ev", plötzlich legt mir jemand eine Hand von hinten auf die Schulter. Nach dem spärlichen Kampftraining mit meiner Mutter ist das mittlerweile ein typisches Alarmsignal für mich. Sofort balle ich meine rechte Hand zu einer Faust und versuche mit der anderen Hand das Handgelenk meines Angreifers zu packen, der zu meiner Überraschung um einiges schneller ist und seine Hand aus meinem Griff befreit. "Hast du gerade versucht mich anzugreifen, Ev?", fragt die Person erneut und dieses Mal hebe ich meinen Kopf. Augenblicklich wird mir klar, warum der Angreifer schneller war als ich selbst. Eine leichte Röte schleicht sich auf meine Wangen, weil ich die Stimme meiner besten Freundin nicht erkannt habe, schleicht sich auf meine Wangen und ein wackeliger Ausdruck der Unsicherheit schleicht sich auf mein Gesicht: "Tut mir leid, Reese. Ich war gerade ein wenig in Gedanken." "Hab ich gemerkt", glücklicherweise grinst sie nur und richtet die Stoffmütze auf ihren Kopf: "Zum Glück bin ich in allem schneller als du, sonst läge ich jetzt vielleicht da unten." Mit einem Nicken lenkt sie meinen Blick auf einen Fleck auf den Boden vor uns, auf dem ein Burger liegt, der ziemlich zertreten aussieht. Ob da aber wirklich jemand drauf getreten ist oder ob unsere Köchin einfach mal wieder mit dem Essen herumexperimentiert hat und "etwas Neues" probieren wollte, kann man aber nicht mehr so genau sagen. "Tut mir leid", sage ich erneut und ziehe mein Matheheft aus dem Rucksack: "Ich mache dir auch ein Friedensangebot." Reese schüttelt nur lachend den Kopf und erneuert den Knoten des schwarz-roten Karohemds, das sie, wie auch an vielen anderen Tage, um die Hüften geschlungen trägt. Irgendwie passt das zu ihr. Ich will nicht sagen, dass sie nicht normal ist, weil sie nicht diese stinknormalen Sachen trägt wie die anderen Schüler, sondern eher, dass es zu ihrem entspannten, coolen Charakter passt, den ich so sehr schätze. Sie ist einfach ein Mensch, mit dem man Spaß haben kann, ohne sich Gedanken um alles mögliche machen zu müssen, weil man ihr vertrauen kann. Wahrscheinlich rührt diese Eigenschaft von ihrer Kindheit in der Wohnwagensiedlung mit ihrer Mutter her, in der sie sich nie wirklich auf jemanden verlassen konnte. Da könnte ich mich aber auch täuschen, denn faul ist sie manchmal trotzdem. "Nein, danke. Hab heute schon Clarkson fünf Mäuse und das Versprechen, dass ich ihm keine nervigen Spitznamen mehr geben, dafür geben, damit ich Mathe von ihm abschreiben kann", erklärt sie und lässt sich an der Wand des Ganges, in dem wir stehen, hinunterrutschen. "Na toll, das Versprechen hätte ich besser gebrauchen können", spaße ich, obwohl sie mir schon seit einem Monat keine nervigen Namen mehr gegeben hat. 

Zwar würde ich das nie wirklich zugeben, denn dann würde sie wieder damit anfangen, aber manchmal vermisse ich diese eine ihrer vielen Angewohnheiten irgendwie. Schließlich war einer ihrer Spitznamen die Sache, die uns zu Freundinnen gemacht hat, nachdem sie eine Klasse wiederholen musste. Sofort ist ihr meine echt minimale Ähnlichkeit zu Schneewittchen aufgefallen und so hatte ich meinen Spitznamen schon weg. Ein paar Mal haben wir uns deshalb in die Wolle gekriegt, doch dann hat sie versprochen sich einen anderen, besseren auszudenken, wenn wir Zeit miteinander verbringen, was auch mir damals nach dem Freundschaftsbruch mit Avery recht gelegen kam, also habe ich ja gesagt. 

Sanft boxt sie mich in die Seite, steigt dann aber in die Verhandlungen mit ein: "Wenn du für mich den Physiktest nachher mit schreibst, kannst du haben, was du willst." Ich verdrehe die Augen. Oh Gott, der Physiktest! "Wenn du eine Fünf kassieren willst, kann ich das gerade für dich übernehmen. Das schaffst du aber auch selbst", bemerke ich halb im Spaß halb ernst. "Du hast recht. Ich muss es selbst machen. Eine Fünf würde meinen Notendurchschnitt so sehr heben, dass meine Lehrer sowieso denken würde, dass ich irgendwie geschummelt hat", der sarkastische Unterton, der in ihren Worten mitschwingt, ist kaum zu überhören, denn wir beide wissen genau, dass sie sich in diesem Jahr in beinahe allen Fächern relativ gut zu Recht findet, weshalb mittlerweile auch Witze über ihre, vorher echt miesen, Noten macht. 

Deshalb bin ich verwundert, als sie plötzlich ernst wird. Ihre Gesichtszüge werden härter, ich bemerke, wie sie beginnt an ihren kurzen, zu einem Zopf geflochtenen, blonden Haaren herumzuspielen und natürlich entgeht mir auch nicht, dass sie die Zähne fest zusammen beißt. Das sind drei ihrer typischen Zeichen dafür, dass ein Thema folgen wird, dass ich gar nicht mag, weshalb es ihr jetzt schon unangenehm ist das anzusprechen. Sie ist sowieso ein Mensch, der unangenehme Themen unausgesprochen lässt. "Was ist?", frage ich, wahrscheinlich ein wenig zu harsch, als sie nicht zu sprechen beginnt. Scheinbar merkt Reese nun, dass mir die Veränderungen ihres Körpers aufgefallen sind, weshalb sie endlich auspackt: "Hast du heute Nachmittag Zeit oder muss ich dafür erst einen Monat im Voraus einen Termin machen?" Mit aller Kraft versuche ich mir ein sehnsüchtiges Seufzen zu verkneifen. Es tut mir schrecklich weh, dass sie bei diesen Worten so eine Bitterkeit in ihrer Stimme hat und dass es ihr so schwerfällt mich das zu fragen. Schließlich sollten Freunde keine Angst haben müssen einander, um ein Treffen zu bitten. Leider ist auch das mit dem Termin nicht nur eine maßlose Übertreibung.

Als Hexe hat man jedes Mal an Vollmond die Möglichkeit mit einem Zauber seine Kräfte neu zu stärken und an diesen Tagen kann ich mich ja schlecht mit Reese treffen, da es günstig ist die Vorbereitungen für den Zauber schon vor dem Abend zu treffen. Außerdem haben Hexen generell die Angewohnheit in ihrer freien Zeit in der Stadt herumzustreifen. Für mich gibt es da sogar noch einen weiteren Anreiz. 

Während des Vollmondes vor einem Monat als ich auf dem Weg nach Hause war, habe ich ein riesiges, verschnörkeltes Symbol an einer Hauswand entdeckt. Es hat blutrot geleuchtet und war für mich kaum zu übersehen, weshalb ich mich zu fragen begonnen habe, warum die anderen Menschen auf der Straße sich nicht schon längst darum positioniert haben, um Fotos oder so zu machen. Als ich jemanden darauf angesprochen habe, was im Nachhinein echt eine schlechte Idee war, hat er mich für verrückt erklärt. Von dem Moment an war für mich klar, dass ich wohl eine der Einzigen sein muss, die dieses Symbol sehen kann. Schnell habe ich ein Foto geschossen und bin nach Hause gegangen. Von dem Tag an bin ich fast immer nach der Schule irgendwo auf der Straße unterwegs und suche nach weiteren, was mir bisher nicht eigentlich relativ gut gelingt, obwohl es bei Vollmond aus irgendeinem Grund viel einfacher ist. 

Heute Nacht ist eine dieser Vollmondnächte, was für mich sonst eigentlich immer ein Grund zur Freude ist, doch genau in diesem Moment fühlt es sich gar nicht gut an. Also beiße ich mir unsicher auf die Lippe und spüre wie sich mein ganzer Körper automatisch versteift, während ich all meinen Mut zusammen nehme: "Weißt du, Reese, heute ist es ganz schlecht." In meinem ganzen Körper kribbelt alles, als würden tausende Feuerameisen darin herumrennen und mir brennende Stiche versetzen. Sobald ich den Mund wieder schließe, verdunkelt sich ihr Blick und ich kann beinahe den Level ihrer Enttäuschung bestimmen. Es tut mir schrecklich weh meine beste Freundin so enttäuschen und versetzen zu müssen. "Warum?", fragt sie wie jedes Mal fast roboterhaft. Natürlich kann ich ihr das nicht sagen, also überlege ich mir schnell etwas anderes. "Ich muss auf meine Schwester aufpassen, weil meine Eltern heute arbeiten müssen", lüge ich, während das schlechte Gewissen mich beinahe innerlich zerreißt. Reese rollt mit den Augen und ich sehe, dass sie mir nicht glaubt, doch was soll ich denn machen. Dieser Tag heute ist verdammt wichtig für mich und ich kann ihn nicht ausfallen lassen egal für wen. Wäre Reese in der gleichen Situation wie ich, würde sie sicher auch nicht anders reagieren als ich. "Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen an einem anderen Tag verabreden", schlage ich vor, um mich nicht ganz so mies zu fühlen und eine gute Lösung für uns beide zu finden. "Morgen?", fragt sie nach und ich nicke wie automatisch, doch dann wirft sie noch etwas in die Runde: "Frag aber lieber erst, sonst sagst du mir wieder kurz vorher ab." "Ja, ich frage direkt nach der Schule meine Mom", erwidere ich und beginne nervös Däumchen zu drehen. Immer noch fühle ich mich total mies, denn sowas hat Reese echt nicht verdient. Schließlich war sie mir immer eine gute Freundin.

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