Kapitel 29
Evie
"Nein, das glaube ich dir nicht", wie wild schüttele ich den Kopf: "Warum sollten wir ausgerechnet zu den Blakemores gehen, wenn wir, wie du sagst, in Gefahr sind?" Meine Stimme zittert unsicher, obwohl ich versuche, möglichst sicher und stark zu wirken. Immer noch halte ich Annabelles Hand und bin nicht bereit dazu sie zu loszulassen. In diesem Moment ist sie meine Sicherheit, meine Stütze, die was mich erdet und davor schützt nicht durchzudrehen. In meinem Kopf haben sich unzählige Fragezeichen gebildet, die mich fast zerreißen. Ich brauche so dringend Antworten!
"Sag mir, dass das nur ein Scherz ist, Mom", in der Mitte des Satzes bricht meine Stimme kurz, wird dann aber glücklicherweise wieder stärker. Ich verstehe nicht, was hier los ist.
Erst taucht da diese neue Schülerin auf, die mir schon von Anfang an komisch vorkommt, dann reagiert meine Mutter völlig komisch, nachdem ich ihr ein Foto des Cousins besagter Schülerin zeige und dann taucht auch noch eine alte Freundin meiner Mutter auf. Diese Freundin scheint die letzte Komponente zu sein scheinen, die meinen Eltern gefehlt hat, um mich uns das Haus zu verlassen. Und nun stehen wir scheinbar im Haus der Regenten des Hexenzirkels, zu dem wir gehören. Das kann doch nur ein böser Traum sein!
"Nein, Schatz", vorsichtig begibt sich meine Mutter auf Augenhöhe mit mir: "Das ist leider kein Scherz. Ich würde euch das wirklich gerne ersparen, aber momentan haben wir keine andere Chance, als hier zu bleiben. Die Familie ist in Gefahr." Mir bleibt kurz die Spucke weg: "In Gefahr? Wie meinst du das?"
Kurz schließt meine Mutter ihre Augen und holt tief Luft. Hat sie etwa wirklich vor mir nun die Wahrheit zu sagen? Hoffnungsvoll blicke ich sie an und warte darauf, dass endlich die erhofften Worte aus ihrem Mund sprudeln.
"Scarlett, sowas erklärt man doch nicht einfach so zwischen Tür und Angel. Kommt doch erst mal richtig an", eine weibliche Stimme, die mir völlig unbekannt ist, ertönt leise hinter meiner Mutter. Sie klingt freundlich und weich, doch trotzdem verärgert sie mich in diesem Moment. Es kann doch nicht sein, dass jemand meine Mom gerade dann unterbricht, wenn sie mir die Wahrheit sagen will.
Die schwarze Augenbraue der Angesprochenen, die einen starken Kontrast zu ihrem langen, blonden Haar bildet, hebt sich. Scheinbar ist auch sie verwundert über die Unterbrechung und vielleicht auch ein wenig überrascht davon ausgerechnet diese Stimme zu hören.
Ein Grinsen macht sich auf ihrem Gesicht breit, bevor sie sich umdreht und die Frau hinter ihr anstrahlt. Nun auch interessiert, mache ich einen Schritt zur Seite, um mir ebenfalls einen Blick auf die unbekannte Person zu verschaffen.
Dort steht eine alte Frau. Eine ihrer Hände liegt auf ihrem gebeugten Rücken, während sie die andere meiner Mutter entgegenstreckt: "Hallo, meine Liebe." "Hallo", erwidert meine Mutter und nimmt die Hand vorsichtig. Die Hand der Alten zittert ebenso wie die meiner Mutter, als sich die beiden in die Arme schließen. Diese merkwürdige Vertrautheit zwischen den beiden verwirrt mich nur noch mehr. "Endlich bist du da", sanft streicht ihr die unbekannte Frau über den Rücken, während meine Mutter sich an sie klammert. Fast hat es den Anschein, dass sie gleich zu weinen beginnen würde.
Als sie sich wieder voneinander lösen, schiebt sich die Ältere ihre roten gefärbten Haare aus den blauen Augen, die meinen so ähnlich sind. Unsicher betrachte ich das Szenario.
Nach wenigen Momenten schaut die Frau an meiner Mutter vorbei und sieht meine Schwester und mich an: "Welche von ihnen ist es?" Es? Was meint sie? Mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen deutet meine Mutter auf mich. Fast bekomme ich einen Schock, als sich der Finger meiner Mom auf mein Gesicht richtet. "Das ist Evie?", fragt die Frau noch einmal nach. Doch bevor meine Mom den Mund wieder öffnen kann, antworte ich auch diese Frage: "Ja, die bin ich."
Ächzend hockt sich die Frau vor mir auf den Boden und legt mir die Hände auf die Schultern. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich die Berührung dieser Fremden merkwürdig anfühlen würde oder dass ich mich dabei unwohl fühlen würde, doch irgendwie überkommt mich plötzlich ein ganz anderes Gefühl. Zum ersten Mal seit langem fühle ich mich geborgen. "Schön dich endlich kennenzulernen, Evie", ein liebevolles Lächeln macht sich auf ihren schmalen, gesprungenen Lippen bemerkbar: "Ich hätte niemals gedacht, dass ich dich jemals zu Gesicht bekommen würde. Schade, dass die Umstände so unschön sind."
Ich will ihr antworten, sie fragen, was sie mit 'unschönen Umständen' meint, doch kein Wort kommt aus meiner Kehle. Mein Mund ist einfach staubtrocken. "Sie hat so große Ähnlichkeit zu ihm", spricht sie nun weiter, wendet sich dabei aber eher an meine Mutter als an mich: "Es ist so traurig, was ihm geschehen ist."
Ich schaue an der Frau vorbei zu meiner Mutter. Sie hält den Blick gesenkt, doch trotzdem kann ich ihre Augen sehen, die von Trauer verhüllt zu sein scheinen. Ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass irgendwas hier nicht stimmt, und mir platzt der Kragen. "Ich will jetzt endlich Antworten haben, sonst explodiert mein Gehirn. Mit wem habe ich Ähnlichkeit und wer sind sie überhaupt?", frage ich die Frau und klinge dabei um einiges gereizter, als beabsichtigt. Diese ganze Geheimniskrämerei mache ich langsam euch nicht mehr mit.
"Hast du ihr etwa gar nichts erzählt?", wendet sich die Frau erneut an meine Mutter, verweigert mir dadurch aber weiterhin die Wahrheit. Betroffen sieht meine Mutter die Frau an, mit der sie so vertraut zu sein scheint und schüttelt dann den Kopf: "Ich konnte es nicht. Sie sollte doch abseits von all dem Aufwachsen." "Das kann ich verstehen, Schatz, aber sie sollte doch trotzdem von ihrer Familie wissen", ihre Stimme ist zwar liebevoll, doch wenn am genau hinhört, ist ein Anflug von Enttäuschung und Missbilligung darin zu vernehmen. Ihr Blick ist allerdings mitleidig. "Schatz? Familie?", wiederhole ich Schlagwörter, die durch den Schleier der Verwirrung zu mir hindurch dringen.
Die Unbekannte holt tief Luft und blickt mir dann tief in die Augen: "Evie, ich bin Addison Blakemore und ich deine Großmutter." Es dauert einige Sekunden bis die, gerade empfangenen, Informationen in mein Gehirn vordringen, doch als ich endlich registriere, was da gesagt wurde, verschlucke ich mich fast. Großmutter? Ich hatte noch nie eine Großmutter. Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich keine anderen Verwandten mehr habe. "N-Nein, d-das kann doch nicht wahr sein", stottere ich. "Doch, es ist wahr", sie schenkt mir ein sanftes Lächeln: "Und du hast auch einen Großvater und zwei entfernte Cousinen, in deinem Alter. Ich weiß, dass das viel auf einmal sein muss, aber ich finde, dass du das endlich wissen solltest."
"Addi, stresse das arme Mädchen doch nicht so sehr", nun ertönt auch eine tiefe, männliche Stimme, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dort steht ein Mann, der etwa im selben Alter wie besagte Frau zu sein scheint. "Das tu ich doch gar nicht, aber sie muss endlich die Wahrheit kennen, Sebastian", erwidert sie mit, vor der Brust verschränkten, Armen.
Für einen Moment trifft der Blick des Mannes auf meinen und er sieht mich freundlich an, doch als er meine Mutter ansieht, verhärtet sich mein Blick wieder: "Ist das geschehen, wovor ich dich schon vor siebzehn Jahren gewarnt habe."
Erst scheint es so, als würde sie nicht reagieren, doch dann beißt sie sich erst auf die Lippe und nickt dann: "Tut mir leid, Dad. Ich hatte so gehofft sie beschützen zu können." "Hey, Leute. Benehmt euch und besprecht das gefälligst später. Die Kinder müssen euren Streit nicht mitbekommen", mahnt meine Großmutter: "Scarlett, du bringst deine andere Tochter jetzt besser nach oben, während ich Evie alles zu erklären versuche."
Die Worte der anderen dringen gar nicht mehr wirklich an meine Ohren. Stattdessen ist mir einfach nur schlecht und das Gefühl, dass ich mich jeden Moment übergeben muss, wird immer größer. Das ganze Geschehen ist viel zu viel für mich.
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