Kapitel 26

Evie

"Evie", die Stimme meiner Mutter dringt an meine Ohren: "Hey, Evie. Wach auf!" Angestrengt versuche ich ihre Stimme zu ignorieren und einfach weiter zu schlafen, doch nach wenigen Sekunden akzeptiere ich, dass ich es wohl kaum wieder schaffen werde in die Welt der Träume zurückzugelangen. Also öffne ich die Augen und reibe mir die Augen.

Meine Mutter hat sich bereits vollkommen angezogen und sieht mich nun erwartungsvoll an: "Mach dich schnell fertig. Wir wollen möglichst schnell los."

Ich fasse mir an den, leicht brummenden Kopf, und sehe sie fragend an. Für diese Nacht hatte meine Mutter uns noch hier bleiben lassen, aber trotzdem darauf bestanden, dass wir am nächsten Morgen sofort losfahren. Dass sie allerdings um fast fünf Uhr morgens loswill, hat sie keinem von uns mitgeteilt.

"Ja, ich beeil mich doch", immer noch völlig müde, kuschele ich mich noch ein letztes Mal für einige Sekunden in meine warme Decke, klettere dann aber aus dem Bett, um mich fertig zu machen. Sofort beginne ich wieder zu frieren und verfluche meine Mutter innerlich dafür, dass sie mich um diese Zeit weckt. Vielleicht könnte ich sie besser verstehen, wenn sie mir endlich sagen würde, was genau los ist, aber so habe ich wenig Verständnis für sie.

Erst taucht hier diese Molly, eine alte Freundin meiner Mutter, auf und dann verkündet meine Mutter, dass wir unsere Sachen packen sollen, um zu verschwinden, ohne uns mitzuteilen warum. Auch wohin wir gehen hat sie nicht verraten.

"Zieh das hier über deine Kleidung", sie wirft mir eine schwarze Kapuzenjacke entgegen. Ungeschickt fange ich sie auf und werfe einen Blick auf das dunkle Kleidungsstück: "Rauben wir eine Bank aus?"

Sofort sieht mich Mom vorwurfsvollen und gleichzeitig analysierend an: "Nein, natürlich nicht. Bleib bitte ernst. Die Situation ist nämlich echt nicht lustig. "Jaja", ich bin immer noch viel zu müde, um Informationen aus ihr heraus zu kitzeln. "Gut, dann zieh dich jetzt an und komm dann mit deinem Koffer nach unten", bittet sie mich und verlässt mein Zimmer daraufhin. Dabei entgeht mir nicht, dass sie wieder so angespannt wirkt gestern. So als würde sie sich beobachtet fühlen.

Als ich mich, wenige Minuten später, angezogen habe und samt Rucksack und Koffer im Flur steht, um die Treppe hinunterzusteigen, habe ich plötzlich das Gefühl etwas vergessen zu haben. Mit einem komischen Ziehen im Magen klopfe ich meine Tasche ab, um zu sehen, ob ich alles habe.

Es dauert nicht lange, da weiß ich plötzlich, was mir fehlt. Schnell husche ich in mein Zimmer zurück und lasse meinen Blick umherwandern. Wo habe ich ihn nur hinverfrachtet?

Meine Suche endet am Schreibtisch, der direkt vor meinem Fenster positioniert ist. Flink, aber trotzdem vorsichtig, greife ich nach dem kleinen Gegenstand und stoße ihn in die rechte Tasche der dünnen Jacke, die mir meine Mutter hat zukommen lassen. Dann eile ich zu meinem Koffer zurück, um die Rufe meiner Eltern zu stoppen, die nun an meine Ohren dringen. Warum drängeln beide so? Eigentlich ist Dad doch immer die Ruhe in Person.

Im Hausflur, wo sich bereits alle anderen Familienmitglieder und die Freundin meiner Mutter eingefunden haben, angekommen, stelle ich den Koffer auf dem Boden ab. Langsam wird er, dank der Sachen, die ich eingepackt habe, nämlich echt schwer.

Sofort fängt Annabelle meine Aufmerksamkeit ein. Sie trägt eine ähnliche Jacke wie ich, die ihr aber einige Nummern zu groß sein muss und wirkt, ebenfalls noch völlig verschlafen.

"Sagt ihr uns jetzt endlich wo wir hinfahren?", frage ich erneut. Der Ton in meiner Stimme wird jedes Mal, wenn ich diese Frage stelle und keine Antwort bekomme, nur noch beharrlicher und ungeduldiger. "Das werdet ihr sehen, wenn wir da sind. Jetzt müssen wir uns erst mal beeilen", werde ich erneut von meiner Mutter vertröstet, während mein Vater mich nur entschuldigend ansieht.

Seine Körperhaltung verrät mir deutlich, dass er mir nur zu gerne alles erklären würde. Doch er scheint sich, seiner Ehefrau zuliebe, zurückzuhalten und darauf zu vertrauen, dass sie weiß, was sie tut.

"Gebt mir doch schon mal eure Koffer, Mädchen", sagt er schnell, um eine Diskussion zwischen den Mitgliedern seiner Familie zu verhindern, und streckt uns seine Hände entgegen. Wir Kinder reichen ihm unsere Koffer und sehen zu, wie er die Haustür geschickt öffnet und nach draußen tritt. Molly, Ana und meine Mom folgen ihm, sodass ich alleine zurückbleibe.

Der kalte Wind gelangt zu uns in den, sonst so warmen, Flur und lässt mich frösteln. "Kommst du, Evie?", fragt mich Ana, doch ich sehe sie gar nicht richtig an und murmele nur: "Gib mir noch eine Sekunde."

Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick durch das, mir nur allzu bekannte, untere Stockwerk des Hauses wandern. Hier liegen so viele Erinnerungen verborgen, die nur ich kenne und sonst kein anderer. Deshalb fühlt es sich auch fast so an, als würde ich einem Teil von mir entsagen, wenn ich dieses Haus, dieses Zuhause, nun verlasse.

Wie durch eine unsichtbare Kraft geleitet, wandert meine Hand in die Tasche meiner Jacke und berührt den Gegenstand darin sanft. Auch dieser ruft in meinem Inneren das Gefühl eines weiteren Endes hervor. Das Ende von etwas anderem, was mir wichtig war und immer noch ist. Doch nun muss ich es loslassen, obwohl ich dazu noch gar nicht bereit bin. So viele Sachen werden ungeklärt und unerklärt zurückbleiben.

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