Evie
Meine Finger gleiten über das dicke, harte Material des Einbands, als ich das Buch aufklappe und jede der zerbrechlich wirkenden Seiten einzeln umschlage. Das erste Kapitel habe ich ja bereits überflogen, doch trotzdem fühlen es sich falsch diese Seiten zu überspringen. Irgendwie fühlt es sich schon so an, als wäre es von einer besonderen Aura bedeckt, die mich dazu verleitet es zu schätzen und darauf aufzupassen. Sobald man es einmal berührt, hat man das Gefühl, dass es wichtig ist und beschützt werden muss.
In Kapitel zwei sind immer noch keine Zeichen zusehen, doch dafür zieht etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich.
Erst sehe ich nur dunkle Buchstaben auf dem weißen Papier, doch als ich eine Seite weiter schlage, ist dort eine Zeichnung zu sehen, die mich dazu bringt doch etwas genauer hinzusehen.
Die Zeichnung zeigt mir eine graue Spitze, die einem kleinen Pfahl ähnelt. Dieses Bild zieht mein Interesse auf sich und bringt mich dazu doch wieder an die erste Seite des neuen Kapitels zu blättern.
Dort steht eine weitere Legende geschrieben. Im vorherigen Kapitel habe ich bereits etwas über die Entstehung und die Geschichte der Runen herausgefunden, doch das, was hier steht, schafft in meinem Kopf nur noch mehr Chaos.
Während ich mit den Augen über jeden einzelnen Buchstaben fahre, wird die Geschichte immer klarer. Es geht darum wie die Runen gezeichnet und somit reproduziert werden können.
So einfach ist das aber leider wirklich nicht. Eine sehr verbreitete Mythe soll besagen, dass man die volle Wirkung der Runen nur entfalten kann, wenn man dafür ein besonderes Werkzeug besitzt. Natürlich soll man sie auch mit irgendeinem Stift oder Kreide malen können, doch die Wirkung, die die Originale haben, wird nur freigesetzt, wenn man es richtig macht.
Früher sollen die schottischen Hexen die Splitter eines besonderen Metalls verwendet, um sie in alle möglichen Materialien zu ritzen. Laut genau dieser Legende soll die Magie der Person durch das Mineral fließen und das Zeichen so für jede Zaubererfamilie anders machen.
Dieser glänzende Stoff wurde tief in einem Bergwerk in Schottland abgebaut worden. Dies wurde aber im achtzehnten bis neunzehnten Jahrhundert eingestellt, nachdem das Bergwerk eingestürzt war. Deshalb soll es auf der Welt nur noch die geben, die damals hergestellt wurden.
Welche Macht die Zeichen haben sollen, steht dort, zu meiner Enttäuschung, allerdings nicht. Niedergeschlagen seufze ich. Schnell versuche ich mir bewusst zu machen, dass ich gerade vielleicht auf einen wichtigen Hinweis gestoßen bin, doch das freut mich nur dürftig. Schließlich ist es mehrere tausend Jahre her, dass diese sagenumwobenen Spitzen hergestellt wurden. Gibt es überhaupt noch welche oder wurden sie irgendwann zerstört? Und warum habe ich noch nie etwas Magisches, abgesehen von dem Leuchten und diesen komischen Visionen, an den Symbolen erkennen können?
Natürlich weiß ich, dass diese Visionen nicht normal sind, doch soll das schon die Wirkung sein, die sie haben?
Da kommt mir eine Idee. Ich muss mich am nächsten Tag unbedingt zu dem Zeichen begeben, dass ich bereits relativ früh in der Nähe unseres Hauses gefunden habe. Dann werde ich versuchen so viel wie möglich darüber herauszufinden und nicht aufhören, bis irgendwas Besonderes passiert.
In einer Kurzschlussreaktion reiße ich die oberste Schreibtischschublade ruckartig auf und ziehe eine freie Karte heraus. Sie ist zwar ungenau, zeigt aber sowohl das jetzige London, als auch Schottland. Nur mit diesem Zauber kann ich herausfinden, ob es überhaupt noch einen Splitter gibt und wo er sich befinden könnte, wenn noch mindestens einer existiert.
Vorsichtig falte ich das riesige Papier auseinander und versuch es daraufhin völlig glatt auf dem Tisch auszubreiten, schaffe es aber nicht alle Knicke zu vermeiden.
Mit geschlossenen Augen lege ich meine Hände irgendwo auf die Karte. Dieses Mal werde ich einen anderen Spruch benutzen, der bisher immer funktioniert hat. Ich möchte dieses Mal nämlich nicht wieder enttäuscht werden, in dem ich einen aus dem Grimoir nutze.
Leise beginne ich meinen Spruch zu sprechen: "Pyrkagiá kai págo! Krýo kai zestó! Poú eínai o stócho mou?" Regelrecht spüre ich wie sich die Flamme meiner Kerze bei dem ersten Laut, den ich ausstoße, automatisch entzündet. Ein Zischen ertönt und Hitze strömt in meine Richtung, während ich meine Finger langsam über das Papier bewege.
Eine unangenehme Kälte ist unter meiner Haut zu vernehmen, was mich dazu verleitet weiter über die Fläche zu fahren. Bei diesem Zauber geht es darum der Temperatur zu folgen, die sich unter meiner Handfläche ansammelt. Dort wo es am wärmsten ist, befindet sich normalerweise das Objekt. Ich fahre immer weiter darüber und merke, wie es Stück für Stück wärmer wird.
Nach wenigen Minuten beginne ich in der Nähe eine Hitze spüren, die mich zu einem zufriedenen Grinsen veranlasst. Dort muss mein Ziel sein! Nun werde ich schneller, um den Ort möglichst schnell zu erreichen, doch bevor meine Fingerkuppen auf die Stelle auf der Karte treffen können, fühlt es sich an, als würde ich feste gegen eine unsichtbare Wand stoßen.
Erschrocken zucke ich zusammen und schlage die Augen auf. Als ich sehe, dass es augenscheinlich keine besondere Barriere zu geben scheint, ist mir klar, dass ich gerade auf einen Schutzzauber gestoßen bin.
Augenblicklich schließe ich den Mund, woraufhin die Flamme mit einem leisen Geräusch erlischt. Instinktiv greife ich mit Recht nach einem Stift und mache einen Kreis um die Stelle, an der ich auf den unsichtbaren Schutz gefunden habe.
Wenn jemand sich extra die Mühe macht und einen Zauber ausarbeitet, bei dem es sich fast so anfühlt, als wäre man gegen eine Glasscheibe gelaufen, muss sich dort ein unersetzliches Objekt befinden. Zwar bin ich schonmal auf so einen Zauber gestoßen, doch niemals war er so stark. Die meisten von ihnen haben nämlich irgendeinen Hintereingang, den man ausnutzen kann, doch hier scheint es auf den ersten Blick vollkommen anders zu sein. Kein Fehler, keine Lücke, kein Hintereingang.
Gleichzeitig niedergeschlagen und interessiert stöhne ich auf. Nachdem treffen mit Elijah scheint heute gar nichts mehr so zu laufen, wie es sollte. Ziemlich frustrierend!
Bei dem Gedanken an Elijah, taucht direkt das Bild seines Ringes in meinem Kopf auf. Er hatte mir gesagt, dass nur er einen besitzt und dass es ein Erbstück ist. Aber zu welcher Familie gehört er denn?
Schließlich muss die Familie über viele Generationen reichen, wenn es ein richtiges Erbstück sein soll. Laut Elijah heißen beide mit Nachnamen "Gellar", doch Belles Anspielungen an ihrem ersten Schultag haben mich daran zweifeln lassen. Ich persönlich habe noch nie von einer großen Zaubererfamilie mit dem Namen "Gellar" gehört. Besonders nicht, wenn sie, wie er sagt, aus London kommen. Hier gibt es nämlich nur zwei richtig große Familie. Die Blakemores und die Hollingsworths.
Weiterhin meinen Instinkten vertrauend, springe ich nahezu auf und wirke dabei ungewohnt beschwingt. Irgendwie macht es mir ja doch Spaß ein wenig herum zu forschen. Wie soll ich sonst jemals die Wahrheit herausfinden? Diese Zeichen haben mich dazu gebracht an dem zu zweifeln, an das ich früher geglaubt habe, doch mittlerweile bin ich mir sogar relativ sicher, dass es noch viel mehr gibt, was ich nicht weiß. Das hat mir spätestens Belle gezeigt, denn in ihrer Lebensgeschichte tun sich für mich einige Ungereimtheiten auf, die ich unbedingt ausräumen muss.
Leise drücke ich meine Türklinke hinunter und strecke meinen Kopf aus dem Raum, um herauszufinden, ob jemand auf dem Flur ist. Glücklicherweise ist dem nicht so!
Ich schleiche regelrecht auf das Bücherregal, das gegenüber von meiner Zimmertür an der Wand steht, zu. Darin bewahrt die ganze Familie ihre Bücher auf. Wenn wir also das Buch besitzen, was ich suche, kann ich es am ehesten hier finden.
Da ich von Ana und mir selbst weiß, dass keine von uns ein Buch mit irgendwelchen magischen Artefakten besitzt, begebe ich mich absichtlich an die Stelle, an der sich die Bücher von Mom und Dad befinden.
Langsam lasse ich meinen Blick konzentriert über die Buchrücken gleiten, da ertönt die laute Stimme meines Vaters von unten: "Evie? Bist du oben?" Ertappt beiße ich mir auf die Lippe und überlege, was ich machen soll. Wenn ich ihm antworte, besteht die Chance, dass er mich ausfragt, aber wenn ich es nicht mache, kommt er vielleicht noch hoch und das wäre viel dramatischer, also erhebe ich die Stimme: "Ja, Dad. Ich bin oben." "Was willst du heute zum Abendessen haben?", brüllt er nach oben. Manchmal frage ich mich wirklich, ob er mich für taub hält.
Weitersuchend, antworte ich ihm genauso laut: "Keine Ahnung. Hast du Annabelle auch schon gefragt?" Als ein "Nein" von ihm folgt, muss ich mir ein freudiges Jauchzen verkneifen, denn ich habe es gefunden. "Ich hätte mal wieder Lust auf Spaghetti", antworte ich ihm auf die anfängliche Frage: "Ana würde das wahrscheinlich auch gefallen."
Mit dem Zeigefinger ziehe ich am Buchrücken und befreie es so aus dem Regal. Das Buch ist dick und dadurch unangenehm schwer, woraufhin ich es in einer umständlichen Haltung in mein Zimmer zu tragen versuche. Bevor ich verschwunden und vor in meinem Raum vor der Tür auf dem Boden gesunken bin, rufe ich meinem Vater allerdings noch ein "Ich bin in meinem Zimmer" zu.
Der Boden unter meinem Gesäß ist hart, doch ich ignoriere es und wende mich ganz dem Buch zu, das ich auf meine Knie gestützt habe, nachdem ich mich im Schneidersitz niedergelassen habe.
Das Inhaltsverzeichnis besteht aus mehreren Seiten und beinhaltet mehr Objekte, als mir jemals hätte vorstellen können. Mit dem Finger folge ich den Worten, bleibe bei dem Thema "Schmuck" jedoch stecken. In den Unterthemen suche ich weiter im Unterthema "Europäische Ringe", bis ich letztendlich auf "Großbritannien" stoße.
Vorsichtig schlage ich die erste Seite auf, die englische Ringe zeigen soll, doch als mein Blick über die Überschriften stellt, stutze ich. Links stehen irische Ringe aufgeführt, während rechts die aus Wales zu finden sind, obwohl sich mir eigentlich genau hier der Blick auf die britischen Fingerschmuckstücke bieten sollte. Verwundert rufe ich mir die Seitenzahlen ins Gedächtnis und starre dann auf die Zahlen am unteren Ende der Papiere.
Entgeistert starre ich auf die Seitenzahl. Exakt die beiden Seiten, die sich mit meinem Heimatland beschäftigen sollten, fehlen. Verwundert drehe und wende ich das Buch, um etwas zu entdecken. Zwar wurden die fehlenden Objekte fast kaum merklich herausgetrennt, doch wenn man ganz genau hinsieht, kann man die feinen Reste erblicken, die nach dem Heraustrennen zurückgeblieben sind.
Diese Erkenntnis bringt mich völlig aus dem Konzept, denn soweit ich weiß ist das Buch schon seit meiner Geburt im Besitz der Familie, was mich zu dem Ergebnis bringt, dass es jemand gewesen sein muss, der hier im Haus lebt. Wer kann es also gewesen sein und warum?
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