Kapitel 13
Evie
Als ich in den Hausflur hinein trete, umfängt mich Stille. Verwundert wandert eine meiner dunklen Augenbrauen in die Höhe. Wo sind denn alle? Dass meine Eltern heute arbeiten müssen, war doch nur ein Teil meiner Ausrede für Reese, die mich für den Rest des Tages keines Blickes mehr gewürdigt hat. Dass ich mit Annabelle ihre Kräfte trainieren will, kann ich ihr schließlich schlecht mitteilen. Bisher war der Tag also nur eine einzige Katastrophe und ehrlich gesagt glaub ich auch nicht, dass es noch irgendwie besser wird. "Mom? Dad?", rufe ich prüfend. "Evie?", der rote Haarschopf meiner kleinen Schwester taucht im hellerleuchteten Flur auf. "Hey Ana", ich beginne mir Jacke und Schuhe auszuziehen: "Wo sind unsere Eltern?" "Weißt du es denn nicht mehr?", sie klingt total erschrocken: "Sie sind im Kino und wollen danach in ihrem Lieblingsrestaurant essen gehen." Als sie meinen, nach wie vor verwirrten Blick bemerkt, fährt sie mit ihrer Erklärung fort: "Heute ist doch ihr fünfzehnter Hochzeitstag. Hast du das etwa vergessen?"
Ich wusste es ja nicht mal. Meine Eltern hatten 2003 geheiratet, an welchem Tag ihre Hochzeit jedoch stattgefunden hat, wollten sie mir nie erzählen. Egal wie oft ich sie deshalb genervt habe. Die Erkenntnis, dass sie erst etwa anderthalb Jahre nach meiner Geburt geheiratet haben, trifft mich hart. Mom hatte mir immer gesagt, dass ich erst danach geboren wurde, aber nun scheint es so, als wäre ich schon etwa achtzehn Monate alt gewesen, als sie vor den Traualtar getreten sind. Warum hat Mom mich angelogen?
Um mir nichts anmerken zu lassen, antworte ich schnell und versuche dann vom Thema abzulenken: "Ja, stimmt. Also haben wir Zeit für uns. Hast du irgendeine Idee wie wir die Zeit miteinander verbringen könnten?" Ihr Blick zeigt mir, dass sie nachdenkt: "Ne, ich hatte gehofft, dass dir was einfällt." Auch ich überlege kurz.
Dann kommt mir eine, wahrscheinlich ziemlich bescheuerte, Idee: "Wollen wir zusammen ein Rätsel lösen?" "Ein Rätsel?", auf ihren Lippen mach sich ein Grinsen breit. "Genau", ich weiß wie sehr sie Rätsel und Herausforderungen liebt: "Es gibt sogar eine Geheimschrift, die du entziffern musst. Also, hast du Lust?" Sofort nickt Ana interessiert: "Klar, ist sicher interessant." Auf ihre Worte folgt allerdings das laute Knurren ihres Magens. "Hast du dir noch nichts zu essen gemacht?", ich klinge vorwurfsvoll. Ertappt weicht sie meinem Blick aus: "Nein, noch nicht." Ich stelle meine Tasche weg und bedeute ihr mit einer Handbewegung mir in die Küche zu folgen: "Na komm, dann mach ich uns erst mal was." Ihr jetzt einen Vortrag darüber zu machen, dass sie auch etwas essen muss, wenn gerade keiner da ist, halte ich nicht für das Richtige. Mom tut das schon oft genug und ein schlechtes Gewissen will ich ihr auch nicht machen. Schließlich war ich, als ich zwölf Jahre alt war, genauso und wollte lieber auf die Anderen warten, anstatt mir selbst etwas zu essen zu machen. Damals hatte ich nämlich echt große Angst vor der Mikrowelle.
Nachdem ich für uns beide Chicken Wings im Ofen gebraten habe, lassen wir uns zusammen an den Küchentisch fallen. "Gibst du mir bitte mal den Ketchup?", bittet Ana freundlich und streckt ihre Hand nach der Verpackung aus. Ich reiche sie ihr und sehe zu wie sie die dicke, rote Flüssigkeit aus der Tube auf den Teller quetscht und über die Hähnchenflügel verteilt. Als sie fertig ist, greife ich ebenfalls nach dem Ketchup und verteile ihn ebenfalls, während mir der Duft des warmen Fleisches in die Nase steigt. "Dann gibt mir mal das Rätsel", fordert meine kleine Schwester, die zu Essen begonnen hat. Bevor ich meine Finger mit Fett beschmiere, überlege ich mir die Karte nach unten zu holen: "Warte hier, ich hole es kurz von oben." Sie nickt zustimmend und sieht zu, wie ich meinen Stuhl nach hinten schiebe, aufstehe und die Treppe hinauf in mein Zimmer renne.
Wieder zurück am Tisch angekommen, breite ich die Karte vor uns auf dem Tisch so aus, dass sie gerade vor ihr liegt. "Dann streng mal dein Gehirn an, Ana", fordere ich. Sie legt den Kopf schief: "Willst du nicht erst mal das Rätsel stellen? Ich brauche schon ein wenig Kontext." Mist, jetzt muss ich mir schnell was überlegen: "Äh, es geht um eine Botschaft, die ein Mann für die Frau hinterlassen hat, die er liebt. Sie muss die Zeichen entschlüsseln, um herauszufinden, wo er sich versteckt hat. Erst dann weiß er, dass sie ihn wirklich liebt." Das Rätsel ist zwar echt schlecht, doch leider das Beste, was mir auf die Schnelle eingefallen ist.
Sofort erscheint der Blick auf Anas Gesicht, der mir zeigt, dass in ihrem Kopf gerade Milliarden von Gedanken herumschwirren. Wahrscheinlich vergleicht sie gerade innerlich alle Zeichen und Sprachen, die sie kennt mit den Zeichen vor ihren Augen. Zwar ist sie eigentlich nicht in dem Alter, in dem man viele Sprachen kennt, doch Annabelle war schon immer ein sehr belesenes Kind und hat sich Stunden lang in ihrem Zimmer versteckt, um alle möglichen Bücher zu lesen. Als ich noch kleiner war, hat mich das oft ziemlich neidisch gemacht, doch mittlerweile bin ich sehr stolz auf ihr breitgefächertes Wissen und bin mir fast sicher, dass sie in der Menschenwelt einmal eine großartige Karriere hinlegen wird, doch leider stehen ihr meine Eltern da ja ein Stück weit im Weg. Für uns Kinder wollen meine Eltern eine Zukunft in der Hexenwelt und kein Leben als normaler Mensch. Zu Ana sind sie dabei viel strenger als zu mir, weil ich eigentlich eine Hexe bin, obwohl mir das ziemlich oft Steine in den Weg legt. Ana ist eben viel gefestigter in der Welt der Menschen, als ich es je gewesen bin.
Nach guten zehn Minuten erhebe ich die Stimme: "Und? Schon was herausgefunden?" Niedergeschlagen schüttelt sie den Kopf, hebt den Blick aber nicht von der Karte: "Solche Zeichen habe ich noch nie gesehen. Ich kann nicht mal sagen, ob es eine Sprache ist oder nicht."
Als ich gerade den Mund öffne, um etwas darauf zu erwidern, ertönt die laute Türklingel. Erschrocken zucken wir beide zusammen und starren gebannt auf Quelle des Geräusches. Kaum traue ich mich, mich zu bewegen. Wer kann das nur sein? Freunde habe ich schließlich nicht mehr. "Wer ist da?", Ana klingt verwundert. Ihre gehobene Augenbraue fällt mir auf, als ich meinen Kopf zu ihr drehe: "Keine Ahnung. Hast du dich mit irgendwelchen Freundinnen verabredet?" "Nein, du?" Ich sehe sie vorwurfsvoll an: "Du weißt, dass das nicht meine Freunde sein können." Dass sie schwer schluckt und mir dann einen entschuldigenden Blick zuwirft, registriere ich nur am Rande. "Los, mach schon, Evie. Mach die Tür auf", fordert sie leise flüsternd. War ja klar, dass das wieder an mir hängen bleibt.
Mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengrube erhebe ich mich wieder vom hellen Holzstuhl, auf dem ich gesessen habe, und laufe schleichend langsam auf die Haustür zu. Bei der Tür angekommen, lege ich meine Finger um die kalte Türklinge und drücke diese dann hinunter, woraufhin die Tür aufschwingt.
Die Tür einmal komplett geöffnet, bietet sich mich der perfekte Blick auf die Person vor dem Haus. Meine Kinnlade fällt unkontrolliert nach unten und mein Herz macht einen kurzen Satz, während meine Finger sich fester um die Klinke krampfen, als ich die Person vor meiner Tür erblicke.
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