9. Dunkelheit
❝ Es darf kein Äußerstes geben, zu dem wir nicht entschlossen wären, und keine Lauer, auf der wir nicht lägen.❞
(Heinz Erhardt)
❮ LINA ❯
Mein Abgang ist völlig überstürzt. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn man rempelt mich an, als ich den Club stolpernd und nicht ganz Herr meiner Sinne verlasse. Mit den Knien bremse ich auf dem Asphalt und es dauert einen Moment, bis ich genug Kraft habe, um leise vor mich hin fluchend wieder auf die Beine zu kommen. Weder die Security am Eingang, noch der Affe, der mich den Boden hat küssen lassen, scheren sich einen Dreck um mich und es passt leider ziemlich gut.
Denn auch Matty bin ich wohl offensichtlich egal. In meinem Kopf spielen sich die hässlichsten Bilder des Universums ab und ich muss mich aktiv zwingen, an irgendetwas anderes zu denken. Egal, was es ist, Hauptsache es hat weder mit ihm, noch mit ihr zu tun.
Auf wackeligen Beinen, das Brennen meiner Glieder ignorierend, stolpere ich einfach den Bürgersteig entlang. Die Nacht ist deutlich kälter als erwartet. Die Arme um mich selbst schlingend versuche ich mein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Ob es an dem unkontrollierten, stummen und ehrlich gesagt furchtbar peinlichen Schluchzen oder dem frischen Wind liegt, weiß ich nicht. Mir ist verflucht kalt.
Aus einigen Metern Entfernung höre ich, wie man meinen Namen ruft. Es ist eine schöne Stimme, nur leider nicht die, die ich hören will.
Also gehe ich schnellen Schrittes einfach weiter und weiter.
Vor dem mittlerweile verrosteten, kleinen Tor halte ich inne. Ich habe gar nicht bewusst gemerkt, dass ich mich auf direktem Wege hierhin begeben habe und es erfasst mich ein seltsamer Anflug von Nostalgie.
Es mögen gemischte Gefühle sein, doch die Erinnerungen mischen sich sofort mit den rasenden Gedanken und dem hässlichen Kopfkino.
Mit deutlich weniger Aufwand, als ich erwartet habe, klettere ich über das sicher uralte Metall. Einen Rock zu tragen bereue ich heute zum ersten Mal. Unangenehm bohrt sich die oberste Stange, versehen von Zacken, die genau so eine Aktion hier eigentlich verhindern soll, in meine Oberschenkel.
Der Schmerz ist aber bei weitem nicht mit dem zu vergleichen, der sich in meinem Inneren ausbreitet.
Am liebsten würde ich einfach alles heraus schreien, doch nicht ein Ton verlässt meine Kehle. Sobald ich auf der anderen Seite stehe, drehe ich mich um. Er geht mir noch immer hinterher und für einen Moment bin ich gewillt auf ihn zu warten. Mich interessiert, ob er es mir gleich tut. Mit seinen ellenlangen Beinen ist es für ihn vermutlich deutlich leichter auf den Spielplatz einzubrechen, der an den Skatepark angrenzt, in dem ich mir schon einige blutige, aufgeschlagene Knie eingehandelt habe.
Mit einem Male übermannt mich der seltsame Drang, genau drei Dinge zu tun, die so unabhängig voneinander und random sind, dass es eigentlich absurd ist. Trotzdem tue ich es.
1. Ich zücke mein Handy und blocke Mattys Nummer
2. Ich öffne den Chat mit meiner Mum und schreibe ein simples: Es tut mir Leid, ich habe dich lieb.
3. Ich ziehe meine Schuhe aus und stapfe durch den Sand direkt auf das Vogelnest im unteren Teil des Spielplatzes zu.
Dass ich jeden einzelnen Schritt bereuen werde, ist mir vorher schon bewusst. Auf dem Weg dorthin fange ich zumindest schon einmal mit Schritt Nummer drei an. Ein plötzlicher Schmerz durchzieht meinen Fuß. In irgendetwas bin ich getreten, es bohrt sich etwas in meine Fußsohle und hinterlässt einen stechenden, brennenden Schmerz. Der erste körperliche Schmerz, der mich von dem ekelhaften Brennen in meinem Brustkorb ablenkt.
„Fuck!" fluche ich leise und bin überrascht, wie wenig Kraft tatsächlich hinter meiner Stimme liegt. Irgendwie habe ich erwartet diesen Vorfall als Anlass zu nehmen, um meinen Dampf abzulassen. Nichts passiert.
Das Brennen zwingt mich schließlich in die Knie und ich sacke im Sandkasten zusammen. Vermutlich sollte ich die Handytaschenlampe nutzen, mich versichern, dass es nicht so schlimm ist, wie es sich anfühlt.
Die Angst, dass er mich findet überwiegt jedoch und so bleibe ich einfach am Boden sitzen.
Ein durchaus zu meinem Gemütsstand passende Optik – schießt es mir völlig pathetisch durch den Sinn. Ich verfluche mich selbst. Immer mehr Zeilen schießen mir in den Kopf und statt mich um das offensichtliche Problem zu kümmern, bin ich versucht in meiner Tasche nach dem Notizbuch zu kramen, dass eigentlich für ihn gedacht war.
Allerdings fällt mir in dieser Sekunde auf, dass meine Jacke nicht das Einzige ist, was ich an der Garderobe abgegeben und dort vergessen habe. „Scheiße", fluche ich laut.
Zu laut. Unheimlich großer Selbsthass übermannt mich sofort. Im Endeffekt ist es aber egal. „Hier", spricht es hinter, oder viel mehr über mir und ich sehe dabei zu, wie er seine Jacke auszieht und mir um die Schultern legt. „Geh weg", fauche ich leise und wirklich dabei vermutlich ähnlich bedrohlich, wie ein Kitten.
„Kannst du aufstehen?" Ignoriert er meine offensichtliche Abneigung. Statt ordentlich zu antworten, zucke ich lediglich mit den Schultern. Mir ist nun wirklich nicht danach mich mit dem riesigen Teddybären zu unterhalten. Auch er ist in der Lage mich sofort weichzukochen. Wenn auch aus anderen Gründen, als sein bester Freund. Generell erscheint es mir wie eine Schnapsidee, mich bei seinem besten Freund darüber auszuheulen, was er für ein verfluchtes Arschloch ist.
Ross macht also kurzen Prozess. Im Gegensatz zu Matty ist er wohl in der Lage Situationen richtig zu deuten. Er lehnt sich einfach nach unten, greift mir wortwörtlich unter die Arme und zieht mich wieder auf die Beine. Doch mein Fuß macht mir sofort deutlich, was für eine schlechte Idee das ist. Ein stechender Schmerz fährt mir das ganze Bein nach oben und lässt mir die Knie weich werden. Er hält mich fest. „Gut, dann eben so."
Und schneller als ich auch nur auf die Idee kommen könnte zu protestieren, hebt er mich hoch und wirft mich über seine Schulter. Ich baumle auf seinem Rücken, wie ein nasser Kartoffelsack und schaffe es gerade noch zu quieken. „Lass mich runter!"
„Keine Chance", spricht er trocken, aber mit einem Unterton der mir zu verstehen gibt, dass ich jetzt die Klappe zu halten habe.
In nur wenigen Schritten hat er sich durch den Sandkasten gearbeitet und lässt mich auf einer Parkbank nieder, die man wohl für die ganzen Muttis aufgestellt hatte, damit sie sich über ihre kleinen Biester austauschen konnten.
„Arsch", zische ich leise. „Ich nehme das mal als Danke", kontert er direkt und grinst mich schelmisch an. Sein Grübchen kommt zum Vorschein und so sehr ich es auch nicht möchte, ich erwidere sein Grinsen. Wenn auch nur sehr, sehr kurz.
Ross blendet mich nämlich direkt mit seiner blöden Handytaschenlampe. „Ey", zische ich und kneife die Augen zusammen. „Ach du Scheiße", rutscht es ihm heraus und auch, wenn mir danach ist, die Augen einfach weiter vor allem zu verschließen – wortwörtlich – bin ich doch neugierig. „Oh..." ist alles, was meine Lippen verlässt, als ich dem kleinen Lichtkegel folge.
Meine Knie sind aufgeschrammt, verdreckt und blutig. Von meinen Oberschenkeln zieht sich je eine kleine Blutbahn hinab und in meinem Fuß steckt eine Nadel.
Augenblicklich wird mir schlecht. Ich weiß nicht, woran es letzten Endes liegt: Dem Blut, dem Drama, dem Heulen oder dem Alkohol. Vielleicht ist es auch eine Kombination aus allem, doch mein Magen dreht sich und ich kann mich nicht dagegen wehren. Gerade noch rechtzeitig schafft er es zur Seite zu gehen, sonst hätte ich seinen Schuhen wohl ein neues Muster verpasst. Ohne zu zögern greift er mir in die Haare und hält mir die Zotteln zur Seite. Sein Handy landet auf dem Tisch, so haben wir zwar genug Licht aber ich muss mir die Misere nicht im Scheinwerfer ansehen, während es sich anfühlt, als würde mir gleich das Mittagessen von letzter Woche guten Tag sagen.
Seine freie Hand streicht mir in Kreisen über den Rücken und ich hasse, wie beruhigend sich das anfühlt.
Die Tränen, die mir aus Scham und Schmerz über die Wangen rinnen, stoppt er dennoch nicht.
Als ich fertig bin, verharrt Ross noch einen Moment in seiner Position, bevor er mir ein Tuch unter die Nase hält. „Ein Stofftaschentuch?" frage ich mit einem Hauch Spott in der Stimme. „Lach du nur. Grandma Ruby hat mich gut erzogen." Mit einem kleinen Schritt sitzt er auf dem Tisch, seine Beine stehen neben mir auf der Bank. „Nein. Find ich süß", nuschle ich erschöpft und lasse meinen Kopf ohne darüber nachzudenken gegen sein Knie fallen. Langsam fährt er mir mit den Fingern durch die Haare. „Ich wasche dir das", sage ich schließlich und stopfe sein verschandeltes Tuch einfach in die Jackentasche. „Alles gut", winkt er ab.
Für einen Moment sind wir einfach ruhig. Um uns herum ist es still und dunkel und ich liebe es. Lange hält dieser friedvolle Moment leider nicht an. Ross räuspert sich.
„Wenn das in deinem Fuß wirklich das ist, was ich denke, dann müssen wir dich schleunigst ins Krankenhaus bringen." „Nein, das geht schon", winke ich ab und bin in einem Anflug von Leichtsinn versucht die Nadel einfach selbst heraus zu ziehen.
Schneller als ich schauen kann, hat Ross meine Hand fest im Griff und legt mir den Zeigefinger seiner linken Hand unters Kinn. Er zwingt mich ihn anzusehen. „Wenn das wirklich eine Scheiß Heroinspritze ist, fängst du dir das ganze Hepatitis-Alphabet ein und HIV gleich mit. Wir gehen da jetzt hin, keine Widerrede."
Im Schlafzimmer finde ich eine gewisse Herrschaft ganz gut. Im realen Leben gibt es nichts, was mich leichter auf die Palme bringt, als ein Mann, der mir sagt, was zu tun ist. Generelle Vorschriften in dieser Tonlage wirken bei mir ähnlich wie ein Streichholz im Benzinfass.
„Du kannst mich mal ganz schön gern haben, weißt du das? Wieso interessiert dich das überhaupt? Solltest du nicht eher bei deinem besten Freund sein und ihm gratulieren? Hallo? Gleich zwei Frauen auf einmal? Ist doch wahre Königsklasse oder nicht?" fahre ich ihn von der Seite an und stehe auf. Das Gleichgewicht auf nur einem Fuß zu halten ist gar nicht so einfach und es nimmt mir sicher einiges an Seriosität, dass ich versuche nicht mit dem Gesicht voran in meinem eigenen Erbrochenen zu landen, doch es ist mir herzlich egal.
„Hast du dir das Hirn gleich mit rausgekotzt?" fragt er mich mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die mir sämtlichen Wind aus den Segeln nimmt. „Meinst du echt wir fanden das super? Glaubst du, nach jedem eurer Dates haben wir auf der Couch gewartet und Punkte vergeben, wer wen wann und wie oft geflankt hat?"
„Was weiß denn ich? Er hat mich doch immer von euch ferngehalten. Jetzt weiß ich auch warum." „- Ja, weil du offensichtlich unausstehlich bist", fällt er mir ins Wort und baut sich mit in die Hüfte gestemmten Händen vor mir auf. „Was willst du dann noch hier, wenn ich so scheiße bin? Da ist die Tür", zeige ich willkürlich in irgendeine Richtung und drehe mich von ihm weg.
Mit einer sanften Bewegung richtet er meinen Finger in die entgegen gesetzte Richtung. „Da geht's raus", flüstert er leise und selbst durch das schwache, blöde Handylicht sehe ich sein Grinsen. „Arschloch", flüstere ich genau so leise.
„Komm her jetzt." Er dreht mir den Rücken zu und wartet ab. Ich weiß genau, was er will, doch ich werde einen Teufel tun. „Entweder trage ich dich Huckepack oder ich mache wieder einen Kartoffelsack aus dir. Deine Wahl."
„Vielleicht bist du auch einfach unausstehlich", flüstere ich schließlich und gebe nach. Ross geht ein bisschen in die Knie, ich hüpfe auf ihn zu und lege meine Hände locker um seinen Hals. „Ich geh dir jetzt an den Arsch, nicht, dass du denkst, wir teilen uns Mattys Bitches auch noch."
„Ach, jetzt bin ich auch noch eine Bitch?" frage ich schnippisch. „Sei einfach mal leise, ok?"
Es nervt mich, wie leicht es ihm fällt mich quer durch den Sand zu schleppen, doch es kommt nicht gegen die unfassbare Welle an Selbsthass an, die über mir einprasselt, als er einmal kräftig gegen das verrostete Tor tritt. Mit einem ekelhaften Quietschen öffnet sich das alte Teil. „Nicht dein Ernst", nuschle ich leise. Er dreht langsam seinen Kopf. „Auf die Idee hättest du auch kommen können." Eine Hand um sein Kinn legend, feuerrot um die Wange aber mit einem Grinsen drehe ich seinen Blick. „Schau wo du hinläufst, bevor du auch noch auf die Nase fliegst."
„Ai, ai, Miss", salutierend marschiert er ein paar Schritte, bis ich tatsächlich leise lachen muss. Mist.
Im Manchester Royal Infirmary angekommen öffne ich meine Augen wieder. Im Taxi, das wir nach gut einer halben Stunde abfangen konnten, hatte ich sie geschlossen und seitdem nur spärlich geöffnet. Ross hat mich tapfer eine ganz schöne Strecke getragen und versucht jetzt mindestens genau so tapfer seinen schnellen Atem und die Schweißperlen auf seiner Stirn zu verbergen.
„Wir brauchen bitte einen Arzt", schnaubt er der Rezeptionistin entgegen, die mit einem Augenrollen die Airpods aus den Ohren nimmt. „Wot?" fragt sie in starkem Dialekt und ich muss mir auf die Zunge beißen. „Meine Freundin braucht einen Arzt. Aber plötzlich", faucht er ihr nun entgegen und ohne seinen Blick zu sehen, weiß ich, er duldet weder Widerspruch noch jegliche Art von Verzögerung. „Notfall Ambulanz ist im dritten", haut sie uns desinteressiert an den Kopf und ist gerade dabei sich ihre Airpods wieder in die Ohren zu schieben, als ich die Fassung verliere.
„Meine Fresse, können wir dann vielleicht irgendwas kriegen, damit er mich nicht weiter schleppen muss oder ist es zu viel verlangt, dass Sie Ihren beschissenen Job machen?" Ross prustet leise und ich wette, nun muss er sich auf die Zunge beißen.
Sie seufzt laut, ich bilde mir ein, ein ‚Boah' zu hören, doch sie hebt tatsächlich ihren Allerwertesten und verschwindet in einem kleinen Raum. „Du kannst mich auch runter lassen", sage ich leise, doch er schüttelt beharrlich den Kopf. „Weißt du was? Aus Prinzip schleppe ich dich da jetzt hoch."
Noch bevor die unmotivierte Uschi wieder zurück ist, setzt er uns wieder in Bewegung. Glücklicherweise finden wir keine zehn Meter weiter Fahrstühle und als wir uns in dem Metallkasten befinden, lässt er mich tatsächlich vorsichtig auf den Boden. Wenn auch nur kurz, die Pause tut ihm sichtlich gut.
„Bin ein bisschen fett geworden, ich weiß", sage ich kichernd vor mich hin, um die Stimmung ein bisschen aufzulockern. Ich ernte sofort einen skeptisch, kritischen Blick, ein stummes Kopfschütteln und einen erhobenen Zeigefinger. „So, auf ein Neues", sagt er schließlich, als wir im dritten Stock ankommen.
Ein letztes Mal geht er in die Hocke, nimmt mich hoch und wir gehen aus dem Fahrstuhl. „Danke", sage ich leise und gebe ihm einen kurzen Kuss auf den Scheitel. „Mensch, dich gibt's ja doch in lieb", feixt er und sofort bereue ich es. „Vorsichtig. Ich kann dir genauso gut auch auf den Kopf spucken."
„Soll ja Leute geben, die drauf stehen", kontert er direkt. „Touché", muss ich zugeben, dass er mich Schachmatt gesetzt hat. Dummerweise schleichen sich die Bilder und Videos in meinen Kopf, die ich mir zu genüge angesehen habe. Spucke flog auf die Bühnenkamera, Daumen landeten zwischen Lippen und allerhand obszöne „Dance-Moves". Erneut zwinge ich mich dazu sämtliche Gedanken zu verdrängen.
Vorsichtig und schwer schnaubend lässt mich Ross schließlich im Warteraum auf einem Stuhl nieder. Er stemmt sich die Hände in die Hüfte und begibt sich schließlich auf die Suche nach einer Art Anmeldung, Rezeption oder ähnlichem. Streng hoffend eine deutlich motiviertere Person vorzufinden, als wir eben noch zurückgelassen haben. Erst als er einige Schritte vorgelaufen ist, sehe ich, dass das Taschentuch nicht das einzige ist, was ich ihm irgendwie ersetzen muss. Sein Shirt ist gänzlich vollgeschmiert, sein Rücken sieht aus, wie nach einem astreinen Massaker und so langsam aber sicher scheint sämtliches Adrenalin nachgelassen zu haben. Sofern überhaupt irgendetwas dergleichen durch meinen Körper geschossen ist.
Mir tut so ziemlich alles weh und auch das Brennen in meinem Fuß macht sich immer mehr bemerkbar. Langsam schleicht sich auch ein ungutes Gefühl in mir an die Oberfläche. Was, wenn ich mir tatsächlich irgendetwas eingefangen hatte? Welches kranke Schwein spritzt sich überhaupt Heroin oder ähnliches auf einem gottverdammten Kinderspielplatz? Gezielt ignoriere ich meinen Fuß, das Bild will ich mir nicht ansehen.
Stattdessen lasse ich meinen Kopf in die Stuhllehne fallen und starre an die Decke. Ein scheinbar endloses Meer an weißen Styropor-Quadraten erstreckt sich. Kurz bin ich versucht sie zu zählen, bis ich aus der Ferne Stimmen höre.
„Da vorne", mache ich Ross' zuerst aus. „Hallo", lächle ich schüchtern der Nachtschwester entgegen, die mich mit großen, besorgten Augen ansieht. Während mir die junge Frau, sie wird nicht viel älter sein, als wir, immer näher kommt, wird Ross abgefangen. „Mr. Macdonald?"
„Hi, ich bin Ela." „Lina, Hi", antworte ich ihr, schenke ihr aber nicht wirklich viel Aufmerksamkeit. Über ihre Schulter hinweg schaue ich zu, wie sich Ross mit einem Arzt unterhält. Sein Gesichtsausdruck gefällt mir gar nicht. Die Falte auf seiner Stirn ist eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Was geht hier vor sich?
„Lina?" eine zierliche Hand fuchtelt vor meinen Augen herum. Ich blinzele, bevor ich ihr wieder in die blauen Augen sehe. Sie schaut müde aus. „Wie spät ist es eigentlich?" spreche ich meine Gedanken laut aus.
„Halb fünf", antwortet sie flüsternd. Mehr, als ein leises ‚Oh' kommt mir nicht über die Lippen. Das dürfte die Müdigkeit in den Gesichtern aller Anwesenden erklären. Wieder lasse ich meinen Blick wandern. Worum auch immer es bei den beiden Männern geht, Ross gefällt es ganz und gar nicht. Der leichte Anflug von Verwirrung ist nun einem Hauch von Verzweiflung gewichen. „Das ist eine Frechheit!" wird er lauter und ich zucke zusammen. Mit einem derartigen Anstieg der Lautstärke habe ich nicht gerechnet und in den nächsten Sekunden erklärt sich auch, wieso hier alle so seltsam drauf sind.
„Okay, Lina. Ich frage dich jetzt einfach ganz direkt. Hat er dich verletzt?"
„Was?!" ich glaube mir fällt so ziemlich alles aus dem Gesicht. Ela hockt noch immer vor mir, ihre warmen Hände ruhen vorsichtig auf meinen Knien und in ihren Augen weht ein Hauch Mitleid mit, der mir sogar nicht gefällt. Ein weiteres Streichholz für mein inneres Benzinfass.
„Dieser Mann da vorne hat mich vom Mayfield Park und vom Skatepark mehr oder weniger bis hierher getragen, weil ich blöde Kuh mich auf die Fresse gelegt und in eine fucking Spritze gestellt habe. Es wäre äußerst hervorragend, wenn mir einfach jemand diese Nadel hier rausholt, damit wir wieder gehen können."
Ich habe noch nicht Ansatzweise ausgesprochen, da steht Ela schon vor mir und der Weißkittel lässt Ross zu mir laufen. Je mehr ich mich aufgeregt habe, umso lauter wurde meine Stimme.
„Hören Sie. Ich finde es wirklich toll, dass Sie so auf Sicherheit und Vorschrift und was auch immer pochen. Aber ich wüsste ehrlich nicht, was ich machen sollte, wenn Ross mich nicht gefunden hätte. Können wir uns jetzt also bitte mal hierauf konzentrieren?" Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaue ich nach unten. „Die Kratzer sind mir herzlich schnuppe. Ich habe bloß kein Interesse am Hepatitis-Alphabet oder HIV." Die Tatsache, dass ich mir mal eben Ross' Ausdruck gemopst habe, lässt zumindest die Stimmung ein wenig auftauen.
„Dann schauen wir uns die Misere mal an", spricht Dr. Hyatt mit einem – ich schätze es soll aufmunternd sein – Lächeln und greift mir unter die Arme. Ela tritt an meine andere Seite und obwohl sie drauf und dran sind mich mit zu ziehen, drehe ich mich um. „Ich gehe hier ohne ihn nirgendwo hin."
Und anstatt mich von den Fachkräften in den Behandlungsraum bringen zu lassen, hockt sich Ross vor mich, ich steige ein letztes Mal auf seinen Rücken und zusammen mit mir dreht er sich schließlich um. „Können wir?"
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