⚜️ Bunte Farben ⚜️

(Bild von Hwang Yeji)

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Chaeryoung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Weder sie, noch die jungen Männer, denen ich heute begegnete. Auf alle drei waren ganz unterschiedliche Gründe zurückzuführen.

Kritisch starrte ich in die Leere, als ich meine Überlegungen freien Lauf ließ.

Durch meine Unterbesetzung kreisten meine Gedanken um den Blondschopf, der sich heute ziemlich gut tat. Er überzeugte mich so sehr, dass ich seine große Kraft nicht einfach ignorieren konnte.

Doch leider war er kein Aqua. Er war ein Ignis, was bedeutete, Jimins Problem wäre nicht gelöst, wenn ich mich bei Changbin melden würde, um Felix einzuladen. Unabhängig davon müsste ich ihn noch Tests unterziehen, wenn er die Aufgabe des Meisters haben wollte.

Somit stellte sich mir die Frage... Sollte ich ihn einladen? Mir gingen nämlich einige wilde Theorien durch den Kopf.

All das, um den Park Geschwistern gerecht werden zu können...

Ich dachte daran, dass ich bei Felix eine Ausnahme machen würde. Zumindest vorübergehend... Ich würde ihn als Ignis bei den Auqas besetzen. In der Zeit, in der er Jimin unter die Arme griff, könnte ich mir Chaeryoung vornehmen. Das junge Mädchen, das mir zu unsicher wirkte. Da meine Sorge um Jimin jedoch größer war, wollte ich die Arbeit auf mich nehmen, um das Mädchen so lange auszubilden, bis sie sicher genug war.

Hinzu kam... Die Sorge um Jimin schien in mir soviel zu wiegen, dass ich überlegte, ob ich Jeongin nicht noch eine Chance geben sollte...

Ja... Genau darüber dachte ich nach.

Was war, wenn er sich tatsächlich als guter Ignis rausgestellt hätte? Er könnte sich neben Felix und Jimin auch um die Aqaus kümmern, bis Chaeryoung soweit war und ich genug Aquas zusammen hatte.

Ich könnte sie beide zu Springern machen...

Aber... Seine protzige Art... Die hielt mich vom Handeln ab.

„Wie viele Punkte würdest du ihm denn geben?", fragte Rosé, mit der ich in Segment Null saß, um den Bericht der Woche zu gestalten.

Der Bericht wurde heute jedoch erweitert, wie bei jeder Inspektion, da neben der allgemeinen Dokumentation die einzelnen Kontinente bewertet werden mussten, genauso wie die Lehrlinge, die ich mir angesehen hatte.  

Tzuyu saß ebenfalls hier, doch schlief uns beinahe weg.

„Felix?", machte ich es genauer. „85 Prozent."

Von 100 Prozent, erreichte er 85. Derartig gut fand ich ihn...

Die restlichen fünfzehn Prozent bekam er nicht, weil ich erstens noch nicht zu viel gesehen hatte und zweitens nicht glaubte, er könnte besser als meine HauptmeisterInnen sein, von denen keiner besser als 95 Prozent abschloss, bis auf Dahyun. Sie ging mit 98 Prozent ab. Der dritte und wichtigste Punkt, weshalb er die restlichen fünfzehn Prozent nicht bekommen konnte, war, dass er mir zu sicher wirkte, was nicht immer gut sein musste. Vor allem nicht bei einem Ignis...

„Und dem Mädchen?", fragte Rosé. „Chaeryoung?"

„58 Prozent.", antwortete ich ihr bedacht.

Chaeryoung hatte für ein Aqua eine viel zu geringe Selbstsicherheit, wobei die Konzentration nicht zu ihren Stärken zählte. Ihr Ehrgeiz war nicht ausgeprägt, wie es bei den Jungen schien, zudem fehlte ihr jegliches Durchsetzungsvermögen, was eine Meisterin jedoch besitzen musste.

All die aufgezählten Schwächen sprachen für ihre Prozentzahl.

Dennoch musste ich sagen, dass sie nicht zu den Aquas gehörte, die wenig drauf hatten. Ich vermutete, sie brauchte bloß ein intensives Training, um aus sich heraus zu wachsen.

Ich analysierte die Lehrlinge schon ziemlich bedacht. Niemals würde ich ein Urteil fällen, ohne mir sicher zu sein...

„Okay", notierte sie. „Und... Jeongin?"

Die Lippen gespitzt, überlegte ich.

Genau, Yeji. Was war mit Jeongin? Mit demjenigen, bei dem die Technik fehlte, der sich dir auflehnte und den du kurz davor warst zu bestrafen? Was war mit dem, dem du aufgrund seiner Hochmut keine zweite Chance geben wolltest?

Ich konnte es nicht sagen. Dafür hatte ich viel zu wenig gesehen. Eigentlich sah ich gar nichts, wenn ich ehrlich war...

Aber ich konnte sagen, dass er überstürzend, herablassend und zu voreilig war- drei Dinge, auf die ich herzlich verzichten konnte.

Andererseits fühlte ich, welch Stärke in ihm schlummerte. Es war dieselbe, die auch in Felix lebte...

„Ich will ihn mir nochmal ansehen.", sagte ich, was sie auf der Stelle zu mir sehen ließ.

Ich saß am Tisch, während sie vor mir saß.

„Wie bitte? Aber... Sagtest du nicht, er sei überheblich gewesen?"

Nun...

Das war Felix auch...

„Ich weiß. Nur geht es nicht um mich. Ich muss zurücktreten, für Jimin. Wenn ich also denke, dass er, Jeongin, vielleicht eine Chance haben könnte, und wenn der Prozentanteil gering ist, sollte ich dem als professionelle Sönigin nicht nachgehen?"

Sie blinzelte heftig. Die Augenbrauen verzogen, legte sie den Kopf schräg, wobei sie aussah, als würde sie mein Gesicht analysieren. Dabei trug sie einen nachdenklichen Blick. Ihre Augen schauten zwischen meinen her, was mich die Stirn runzeln ließ.

Weshalb schaute sie mich denn so an? Hatte ich etwas gesagt, was ich nicht sagen sollte? Lag ich etwa falsch, mit dem, was mir durch den Kopf ging?

Eigentlich hielt ich meine Gedanken für richtig...

„Was?", musste ich fragen, da sie den Blick einfach nicht abwandte.

Erst als ich fragte, sah sie wieder auf ihre Zettel nieder. Lächelnd, das konnte ich erkennen.

„Ich liebe es zu sehen, wie du dich entwickelst, Yeji. Das ist alles", erhob sie sich mit dem Bericht in ihrer Hand. „Du bist erwachsen geworden."

Mit ihrer Aussage musste ich schlucken.

Das fand sie? Sie dachte, ich war reifer geworden? Woran erkannte sie das? Etwa daran, dass ich Jeongin doch eine Chance geben wollte?

Ich musste schmunzeln.

Mich freute, dass sie das sagte, obwohl ich mir die Aufgabe der Königin nicht aussuchte. Da sie mir jedoch gebührte, musste ich ihr gerecht werden. Das nahm ich mir zum Ziel. Anderes blieb mir nicht übrig.

„Mit eurer Hilfe. Ohne dich und Jungkook hätte ich mich vermutlich nicht so entwickeln können.", gab ich ehrlich von mir.

Rosé und Jungkook waren die Ältesten unter meinen Vertrauten. Sie begleiteten mich seit meiner Krönung. Mit ihnen lernte ich sehr viel dazu. Oftmals waren sie die einzigen, die mich durch schwere Zeiten begleiteten. Außerdem waren sie die zwei, die neben mir die Verantwortung über die BürgerInnen dieser Erde trugen. Im Endeffekt trafen wir die großen Entscheidungen zusammen.

„Hättest du sehr wohl", sagte sie mit sanfter Stimme. „Denk dran. Du bist die Auserwählte."

„Ich weiß... Aber keine Königin funktioniert ohne ihre Vertrauten.", nickte ich.

Log ich etwa? Kein König und keine Königin konnte führen, wenn keine Gruppe an Vertrauten hinter ihnen stand. Ein Palast ohne Verbündete war ein Palast, der den Untergang unterschrieb. 

„Du hast recht. Dennoch hätte niemand den Job besser gemacht als du", kam es sicher aus ihr. „Ein Königshaus benötigt nicht immer nur einen Mann."

Sie zwinkerte verspielt.

Das ließ mich die Augen rollen. Wie oft hatten wir diese Konversation bereits? Ich konnte nicht mehr mitzählen...

„Du und deine emanzipierten Gedankengänge...", musste ich leise lachen.

„Nein, wirklich. Das zeigt, dass wir Frauen auch das Zeug zur Führung haben. Du lässt dich von keinen Gefühlen leiten, was den jungen Ignis beispielsweise angeht und kannst rational denken, obwohl es deinem Wesen widerspricht", komplimentierte sie mich. „Du beweist, dass eine ganze Menschheit sehr wohl auf eine Frau hören kann. Auf eine Frau, die gerade erst 22 Jahre jung ist."

Beschämt sah ich auf meine Finger.

Weshalb kamen solch starken Worte aus ihrem Mund? Wusste sie denn nicht, wieviel das wog, was sie da von sich gab?

Sowas durfte sie mir nicht sagen.

Sie hat aber recht. Du bist so erwachsen geworden...

Mit der Stimme meines Bruders überkam mich ein Schüttelfrost. Ich musste einmal tief durchatmen, als ich zögerlich nickte.

Genau wegen ihm... Sollte sie mir sowas nicht sagen.

„Der Thron hätte von meinem Bruder bestiegen werden sollen.", sagte ich bloß, weil es stimmte.

Ich wusste, dass er derjenige gewesen wäre, der alle acht Elemente bekommen hätte, hätte er den Tod nicht gefunden. Ich war mir sicher, dass ich in seine Fußstapfen treten musste, weil er am Tage seiner Verwandlung starb...

„Yeji...", fing Rosé sanft an zu lächeln. „Du weißt, dass du an seiner Seite regiert hättest, oder? Das war euer Schicksal gewesen. Nicht seines."

War dem so? War das unser Schicksal? Die Hwang Geschwister, Seite an Seite, gegen den Rest der Welt? Wieso sollte es so sein? Warum geschah all das überhaupt?

Rosé und Jungkook erzählten mir oft, dass es Signums bereits vor tausenden Jahren gab. In den Geschichtsbüchern stand nur nichts über sie, weil Menschen sie für ein Mythos hielten. Die Geschichte wiederholte sich nun nach langen Jahren noch einmal, weil das Gen, welches in uns lebte, einen Krieg erwartete- so ihre Vermutungen.

Mit Vermutungen konnte ich jedoch nichts anfangen. Ich glaubte schlicht und einfach nicht an einen Grund für unsere Existenz. Ich glaubte an keinen Krieg, der bevorstand und noch weniger glaubte ich an irgendeine Bestimmung. Das alles war schwachsinnig.

Die Menschen veränderten sich einfach und passten sich ihrem Lebensraum an, genauso wie es Menschen vor zweitausend Jahren auch taten. Genauso, wie es von Gott gegeben war...

Ich meinte damit... Wenn jemand vor tausend Jahren die Frage gestellt bekäme, ob er daran glaubte, dass er eines Tages von Amerika in die Antarktis fliegen könnte, hätte er dem, der die Frage stellte, den Vogel gezeigt. Eben so, wie ich jemandem den Vogel gezeigt hätte, wenn er mir vor zehn Jahren erzählt hätte, dass ich eines Tages bändigen könnte.

Vielleicht war das Beispiel dumm. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht war ich einfach nur nicht zufrieden mit dem Leben, das ich führte, weil es mir mehr kaputt machte als schenkte. Vielleicht nahm ich es deshalb einfach hin, ohne nach einer Begründung zu suchen. Wer wusste das schon.

Vergiss Rosé nicht, die noch vor dir steht...

Erinnerte mich die Stimme meines Bruders.

Somit hob ich den Blick, um sie anzusehen.

Sie sprach von einer Welt, in der wir, Hyunjin und ich, Seite an Seite regiert hätten? Darüber musste ich lachen. Ich wusste nämlich, hätte mein Bruder gelebt, hätte ich ihm die volle Führung übergeben...

„Er wäre der bessere Sönig gewesen.", nickte ich knapp, um das Thema abzurunden.

Doch ich hätte es besser wissen müssen...

„Ich glaube, dass es mit ihm nur einfacher gewesen wäre, Yeji. Du bist nämlich auf niemanden angewiesen. Lass dir das gesagt sein."

Lächelnd sah sie von mir zu ihrer Schwester, der sie vorsichtig über den Rücken strich. Stumm beobachtete ich, wie Tzuyu müde die Augen aufschlug, als sie Rosé ins Gesicht sah.

Wie kannst du sowas eigentlich sagen?

Was?

Ich musste intuitiv die Augenbrauen zusammenziehen. Was wollte er denn jetzt von mir?

Wieso glaubst du, ich sei der bessere Führer gewesen? Weißt du eigentlich, was du alleine alles aufgebaut hast? Davon träumen andere nicht einmal.

„Danke, Rosé.", verabschiedete ich mich, was sie mit ihrer Schwester an der Hand nicken ließ.

Dabei ignorierte ich die dumme Frage meines Bruders.

„Leg dich schlafen, Süße."

Daraufhin verließ sie das Segment mit Tzuyu, ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten.

Nun blieb ich alleine zurück. Eigentlich so, wie ich es am liebsten hatte. Nur war ich nicht alleine. Leider... Meine Gedanken konnten nicht aufhören, die Klappe zu halten. Wie so oft, wobei ich sagen musste, dass es die letzte Woche extremer wurde. Extremer mit der Stimme von Hyunjin in meinem Kopf...

Ich habe dir eine Frage gestellt.

Lass mich einfach in Ruhe, Hyunjin. Geh aus meinem Kopf. Ich habe mich heute mit genügend auseinandersetzen müssen.

Ich hasse es mir ansehen zu müssen, welch geringe Anerkennung du dir selbst schenkst.

Das sagte er so einfach.

Meiner Meinung nach... Schenkte ich mir genug Anerkennung. Schließlich wusste ich, wer ich war. Ich wusste, was meine Aufgaben waren und welchen Wert ich trug.

Nur... Wollte ich es nie sein. Ich wollte nie die Auserwählte sein...

Verdammt. Akzeptier dein Schicksal.

Das tue ich, ansonsten würde ich hier nicht sitzen, Idiot. Jetzt halt endlich den Mund. Verschwinde aus meinem Kopf!

Verärgert über die Situation setzte ich mich auf.

Ich fing an den Verstand zu verlieren...

Weshalb bist du eigentlich so wütend, hm? An wen richtet sich deine Wut? Sag es mir. Schließlich... Kann uns niemand hören...

Ich hielt mir das Nasenbein, weil die Stimme nicht verstummen wollte. Anscheinend verstand mein Unterbewusstsein nicht, wie wenig Lust ich gerade auf Konfrontation hatte. Vor allem, wenn mein Bruder dabei eine Rolle spielte...

Rede mit mir, Yeji oder rede zumindest mit irgendwen...

Ich musste auflachen.

Was soll ich denn erzählen? Was glaubst du, kann ich sagen? Ich habe nichts zu berichten. Auch dir nicht. Außerdem bist du tot?!

Denkst du wirklich, ich bin tot? Wieso hörst du mich denn dann so glasklar?

Ich musste schlucken, als er mir die Frage stellte. Mein Puls überschlug sich.

Natürlich hatte ich mich öfter gefragt, ob Hyunjin wirklich an diesem Tage verstarb. Wie oft dachte ich, er sei am Leben, weil ich es nicht wahrhaben wollte und ihn zudem in meinem Kopf hörte. Wie oft glaubte ich, dass dieses Leben das Übernatürliche ermöglichen konnte und ihn mir damit zurückholen könnte...

Doch... Diese Gedanken waren naiv gewesen.

Ich hatte gesehen, wie die Kugeln ihn durchbohrten. Ich konnte sehen, wie unser Vater beim Kampf um seinen Sohn den Tod fand und ich erlebte mit, wie sich meine Mutter aufgrund von zwei Todesfällen das Leben nahm.

All das... Konnte nicht darauf zurückführen, dass er lebte, denn das tat er nicht. Unsere Kräfte konnten keinen Toten zurückholen, auch nicht meine. Das einzige, was ich tun konnte, war, einem, der aufgrund von Schmerz dem Tode nahestand, den Schmerz zu nehmen. Auch konnte ich dafür sorgen, dass dieser jemand früher starb.

Das bedeutete, dass Hyunjin gelebt haben müsste, damit er eine Chance auf Rettung gehabt hätte. Außerdem hätte ich meine Kräfte haben müssen, die ich zu dem Zeitpunkt nicht hatte.

Er war tot. Das war die eiskalte Wahrheit. Und mit ihm starb meine ganze Familie...

Das klang schon ziemlich dramatisch, meinst du nicht.

Die Tränen sammelten sich in meinen Augen.

Ich hasste es an meine Familie zu denken. Ich hasste es daran zu denken, was uns widerfuhr. Noch mehr hasste ich es, dass ich alleine da stand.

Ich kannte immer nur Hwang Yeji. Ich kannte eine Yeji, die einen Zwillingsbruder hatte, mit dem sie alles zusammen tat. Die Yeji, die in einem Wald, in einer kleinen Hütte, bei ihren Eltern lebte. Ich kannte die Yeji, die nie etwas alleine tun konnte...

Mittlerweile war ich eine Yeji geworden, die alles alleine tun musste. Ich war eine Yeji, die zur Königin ernannt wurde und nicht mehr verstand, wer sie einst war, dabei jeglichen Bezug zu ihr verlor. Ich wurde zu einer Yeji, die nicht mehr genau wusste, wer genau sie sein wollte...

Also bist du wütend auf dich selbst?

Ich bin wütend wegen allem...

War das so schwer zuzugeben?

Ich sollte nicht mehr wütend sein...

Du hast Gefühle, die du nicht kontrollieren kannst. Das ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, solange du darüber redest.

Mit Tränen in den Augen musste ich auflachen.

Und... Mit wen soll ich reden? Mit dir? Mit jemandem, der nicht mehr existiert?

Du kennst so viele Menschen. Hör auf damit, dich abkapseln zu wollen.

Ich ballte die Hand, die über den Tisch hing, zu  einer Faust.

Was tat ich hier gerade? Wieso unterhielt ich mich mit meinen Gedanken? Was war nur los mit mir?

Etwas benommen erhob ich mich, da ich aus dem Segment musste. Ich konnte nicht mehr hier drinnen sitzen, ohne zu glauben, ich würde durchdrehen und den Verstand verlieren. Also trat ich voreilig hinaus.

Die Tür geschlossen, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen sie. Dabei ging meine Atmung schnell.

Die kleine Box, die ich metaphorisch verschloss und in meinem Kopf in der letzten Ecke verstaute, wollte aufplatzen. Ein Schwall an Gefühle drohten in mir aufzukommen.

Aber...

Ich ließ es nicht zu. Ich würde es niemals zulassen, wenn ich daran nicht zerbrechen wollte...

Daher nahm ich einen tiefen Atemzug und stellte mich aufrecht.

Mein Körper zitterte zwar leicht, doch das würde gleich schon nachlassen. So, wie es immer der Fall war...

Ich würde darüber hinweg kommen. So, wie ich es immer tat...

Das war bloß ein Moment der Schwäche gewesen.

Gleich würde meine Welt schon wieder anders aussehen...

„Dein Bruder wieder?" , hörte ich rechts von mir fragen.

Meine Augen weiteten sich für einen Moment, bevor ich sie abrupt schloss. Die männliche Stimme sorgte dafür, dass mein Körper verkrampfte.

Doch ich atmete tief durch, damit ich die Kontrolle über mich wieder bekam.

Ich stellte mich aufrecht. Ich kreiste die Schultern und öffnete seelenruhig die Augen.

Na. Zeig ihm jetzt, was für eine gute Schauspielerin du doch bist...

Mit einem neutralen Gesichtsausdruck drehte ich mich zu ihm.

Zu Jungkook...

Er stand da. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck musterte er meine Augen, während er einen Schritt vor trat. Ich konnte sehen, dass er seine Schlafsachen trug, wie jeder im Palast, außer mir. Er müsste eigentlich im Bett liegen, doch stand hier.

Er neigte den Kopf, um mir damit zu signalisieren, dass er mir eine Frage stellte.

Ich nickte stumm.

Natürlich wussten Rosé und er, womit ich mich bereits einige Jahre rumschlagen musste. Das war auch nicht schlimm. Zumindest nicht für mich...

Ich erinnerte mich, dass ich ihnen damals davon berichtete, weil ich wissen wollte, was es damit auf sich hatte. Sie gaben mir darauf eine recht gute Begründung, die das Phänomen erklärte. Eine, die ich ehrlicherweise nicht glauben konnte. Sobald ich Hyunjin in meinem Kopf hörte, dachte ich, ich hatte sie nicht mehr alle. Das, obwohl es eigentlich etwas normales war. Normal, unter den Umständen, unter denen wir lebten... Das vergaß ich manchmal, wenn ich seine Stimme hörte. Ich vergaß, dass ich nicht verrückt war. Ich vergaß, dass er echt war.

„Das tut mir leid für dich", wurden seine Augen traurig. „Als Signum habt ihr nun mal eine viel stärkere Bindung zu den Toten, die mit euch blutsverwandt sind."

Das war sie. Die Begründung...

Wenn ein Signum ein Familienmitglied besaß, welches auch ein Signum war, bestand ein starkes Band zwischen ihnen. Dieses Band hielt dabei, auch wenn einer den Tod fand... Ihr Geist lebte nämlich ewig, obwohl ihre Körper starben...

Dadurch wusste ich, dass meine Eltern nie Signums geworden wären, denn ich hörte sie nicht. Anders als Hyunjin... Er lebte, mit seinem kompletten Bewusstsein, noch in mir. Wir waren sozusagen eins...

Und ja. Das vergaß ich ziemlich oft...

„Hast du schon mal erklärt.", räusperte ich mich.

Ich hoffte, dass Jungkook mir nicht ansah, das ich den Tränen nahe stand. Ich wollte niemandem zeigen, wie zerbrechlich ich sein konnte, obwohl ich innerlich wusste, dass es jedem bekannt war. Ich wollte die Sönigin sein, die man von mir erwartete zu sein; stark, mutig und sorglos.

„Ich will es dir nur ins Gedächtnis rufen", nickte er sanft. „Dich muss das nicht belasten. Sehe darin eher eine Art..."

„Geschenk?", neigte ich den Kopf.

Ein Geschenk... Ein Geschenk, dass mein Bruder mich bis auf Ewigkeiten begleiten wird?

Das wird lustig, Yeji...

„So in etwa. Andere können die Stimme ihrer Verstorbenen nie wieder hören. Du kannst das nach zehn Jahren immer noch. Bedenk das.", riet er mir.

Das wusste ich alles bereits. Mir war hierbei nichts neu. Doch verstand er nicht, dass der tote Bruder, der mich auf Ewigkeiten begleiten würde, nur bedeutete, ich würde niemals über ihn hinweg kommen?

Ihn zu hören... Das war hart für mich. Vor allem, weil ich ihn am intensivsten wahrnahm, wenn es mir seelisch am schlechtesten ging...

„Danke, Jungkook...", sprach ich.

Nur meinte ich es nicht so. Ich bedankte mich nicht aus Herzen, weil seine Worte in mir nichts veränderten. Mich konnten Worte nicht mehr trösten. Dafür war in mir bereits etwas kaputt gegangen, was keiner mehr so einfach heilen konnte.

„Ich fühle, dass du alleine sein möchtest...", stopfte er sich seine Hände in die Taschen seiner dunklen Jogginghose.

Wobei... Mich das schon tröstete. Seine aufmerksame Art. Seine und die von Rosé. Sie erleichterten mir durch ihren achtsamen Umgang, den sie für mich aufbrachten, meine Gefühlslage. Sie konnten mich am besten nachvollziehen...

Dafür wäre ich ihnen für immer dankbar.

„Ich bitte drum.", lächelte ich, was er erwiderte.

„Ich schicke dir sonst Rosé rüber, wenn sich mit ihr besser reden lässt?"

Noch immer lächelnd, schüttelte ich den Kopf.

Er lag schon nicht verkehrt, mit dem, was er fühlte. Ich wollte alleine sein. Wirklich. Alleine. Ohne dabei jemanden in meinem Kopf zu hören.

„Lieb von dir, aber nein, danke."

Er nickte sanft.

„Gut... Ich bin da, wenn du etwas brauchst", ging er rückwärts zurück. „Gute Nacht, Yeji."

„Gute Nacht.", erwiderte ich, worauf er breiter lächeln musste.

Er ging um die Ecke und nahm direkt die Treppen, die hinaufführten. Geduldig wartete ich, bis ich ihn nicht mehr hörte, bevor ich mich dann in Bewegung setzte, um den selben Weg zu nehmen.

Über den Tag nachzudenken, die Situation, in der ich steckte, zu reflektieren oder mich zu konfrontieren... Das konnte ich erstmal nicht mehr.

Denn, auf einmal überkam mich eine Müdigkeit. Seit Jungkook ging, spürte ich sie so richtig. Meine Knochen fühlten sich immer schwerer an.

Ich wettete, dass seine Frau ihn zu mir runterschickte, weil sie sichergehen wollte, wie es mir in Segment Null erging. Sie oder Seokjin, der mich vermutlich bei seinen gewöhnlichen Rundgängen gesehen hatte.

Sie waren allesamt sehr aufmerksam. Ich schätzte sie daher. Sie und mein ganzes Team.

Mein Zimmer erreicht, ließ ich mich einfach auf mein Bett fallen. Mein Körper fühlte sich zu müde an, um mich jetzt noch umzuziehen.

Ich konnte nicht mehr.

Ich wollte einfach nur noch schlafen...


„Hyunjin!", schrie ich in den Armen meiner Mutter auf. „Nein! Dad!"

Auf der Stelle riss ich mich von ihr. Dabei spürte ich, wie meine Mutter verweint nach mir greifen wollte, es jedoch nicht schaffte.

Der Regen aus Schüssen nahm ein Ende.

Mein ängstlicher, aber von Adrenalin überströmter Körper lief auf die Stufen zu, die der Veranda runter führten. Die Tränen flossen meinem Gesicht ununterbrochen hinab, als ich auf sie zulief.

Auf meinen Vater und meinen Bruder.

Ich wollte unbedingt zu ihnen, um zu sehen, ob sie tot waren...

Aber ich durfte nicht. Eine laute Stimme sprach zu mir, wobei ein grelles Licht auf mich hinab fiel.

„Stehen bleiben!", wurde gerufen.

Ich hielt mir die Hand vors Gesicht, um nicht geblendet zu werden.

Nein... Ich durfte nicht nachsehen. Ich durfte nicht sehen, ob ihre Pulse noch schlugen. Ich durfte sie nicht im Arm halten. Ich durfte mich nicht verabschieden...

Ich durfte nur sehen, wie das Blut aus ihre Körper quoll. Nur das durfte ich, während all das Feuer um mich herum noch fackelte...


Schweißgebadet, riss ich die Augen auf.

Was war das denn?

Ich erwachte aus einem fürchterlichen Albtraum, der das Ende der Nacht zeigte, die ich vor zehn Jahren erlebte. Ich hatte meinen Vater gesehen, dessen Körper verbrannt wurde. Ich sah Hyunjin, der erschossen auf dem Boden lag.

Ich konnte mich selber sehen... Eine jüngere Version von mir, die sich einfach nach ihrer Familie erkundigen wollte, aber nicht durfte...

Ich wollte nach meiner Stirn fassen, da ich nicht glauben konnte, wie ich nach langer Zeit wieder daran denken musste.

Doch ich erreichte meine Stirn nicht.

Etwas schien meine Hände zu halten...

Verwundert über die Tatsache, dass ich meine Hände nicht bewegen konnte, versuchte ich auf diese runter zu sehen.

Sie waren festgebunden.

Nicht nur das...

Ich spürte sie nicht einmal.

Plötzlich breitete sich ein Gefühl von meinem Herzen aus, welches ich lange nicht mehr fühlte...

Angst.

Was geschah hier? Wieso spürte ich meinen Körper nicht mehr?

Blinzelnd versuchte ich das herauszufinden. Aus großen Augen sah ich erneut auf meine Hände und auf meinen Unterkörper.

Ich saß da... Ich saß tatsächlich angebunden auf einem Stuhl. Einem Stuhl, in...

Beinahe verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke.

In... Tzuyus Zone. In Segment C.

Warum saß ich hier?! Wieso konnte ich nicht schreien? Weshalb war es mir nicht möglich mich zu bewegen? Wieso konnte ich bloß meine Augen in Bewegung setzen?!

Die Panik machte sich in mir breit.

Träumte ich etwa noch immer?!

„Es tut mir so leid, Yeji...", hörte ich die Stimme von ihr.

Von Tzuyu...

Nur hörte ich sie nicht deutlich. Sie klang gedämpft. Ich fühlte mich wie unter dem Einfluss von Drogen, als ich ihr verweintes Gesicht auf einmal vor meines erblickte.

Tzuyu! Hätte ich am liebsten gerufen. Was ist passiert? Bind mich los!

Nur fühlte sich meine Zunge an wie Gele. Ich konnte nicht sprechen.

Tzuyu weinte immer verbitterter, während sich ihre Hand meinem Gesicht näherte. Ich blinzelte heftig, sobald ihre zierlichen Finger meine Stirn erreichten. Ihre andere Hand fand meine Brust.

„Es tut mir so so leid...", konnte sie kaum atmen.

Den Mund jedoch öffnen, das schaffte sie. Sie schaffte es den Mund aufzumachen, wodurch sie meine Elemente aufsaugen wollte...

Meine Augen weiteten sich vor Schreck, während sich ihre Augen anfingen zu verfärben. Sie nahmen die Farbe des Regenbogens an. Sie wurden... Bunt...

Plötzlich durchdrang mich ein Schmerz, obwohl ich gelähmt war. Tausende von Nadeln schienen auf mich einzustechen, als Tzuyu sich meinem Mund näherte und einatmete.

Es geschah gerade wirklich, dachte ich im Sekundentakt. Sie raubte mich aus!

Sie versuchte mit einem kräftigen Zug mir meine Elemente zu nehmen.

Ich konnte spüren, wie schwach mein Körper wurde, mit jeder Farbwolke, die sie aus meinem Mund sog.

Grün für die Erde...

Weiß für die Luft...

Schwarz für die Schattenkontrolle und das Gedankenlesen...

Silber für das Metall...

Gold für die Blitze...

Lila für den Raub und der Schenkung der Lebensenergie...

Meine Elemente sog sie mit einem Mal in sich hinein.

Sie stahl mir meine Elemente.

Alle. Alle, bis auf das Wasser- und Feuerelement.

Das waren die einzigen Elemente, die sie in mir verweilen ließ. Ansonsten beraubte sie mich.

Sie beraubte mich meiner Identität...

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Ehm, ja... Hi.

Kam das Ende etwas überraschend? Würde mich freuen, wenn ja!

Vermutlich kamen die Emotionen aber nicht an, weil ich auf den Endteil nicht soviel Lust hatte beim Schreiben oder überarbeiten 🌚... Weiß nicht. Das Kapitel war nicht so einfach für mich. ABER EGAL. Ist ja nur das eine hier 😂

So. Mal sehen, was uns nun erwartet. Nä? Was glaubt ihr? Wie wird unsere pessimistische Sönigin wohl damit umgehen, dass ihr soeben die Elemente geraubt wurden?

Ich hoffe, ihr seid gespannt auf das Kommende!

In love, N 💙

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