Eine seltsame Bitte
Die Dielen knarrten unter Riccardos Füßen als er langsam den Flur entlang schritt. Noch auf dem Rückweg auf sein Zimmer musste Riccardo über die vorherige Diskussion am Tisch nach denken, die sich allein um eine Frage gedreht hatte: Was ist mit Bela? Riccardo war nicht der einzige dem das ein Rätsel war. Sie alle waren von Anouks Theorie, der Junge sei noch am Leben, überrumpelt gewesen. Falls dem wirklich so war und Bela es irgendwie geschafft hatte, dann stellten sich unendliche weitere Fragen und auch andere Möglichkeiten ergaben sich. Was, wenn Bela sich an die Geschehnisse erinnern konnte? Was, wenn er sich an seinen Mörder erinnerte? In diesem Fall könnten sie den Schuldigen ausfindig machen. Das Ziel, welches sie alle anstrebten wäre damit erreicht. All ihre Probleme wären mit einem Schlag gelöst. Aufgrund dieser Tatsache waren sie sich alle einig darüber, dass man mit allen Mitteln versuchen musste, Bela hier lebend ankommen zu lassen. Doch letzten Endes konnten sie nicht beeinflussen, ob er überhaupt hier ankam- nur die Art und Weise wie, falls er es schaffen sollte. Wenigstens daran durften sie nicht scheitern. Es hing einfach zu viel davon ab. Wenn sie Pech hatten, dann sogar ihrer aller Leben. Und somit war eine falsche Entscheidung ein Luxus, den sie sich unmöglich leisten konnten. Mit einem Seufzen blieb Riccardo vor der Tür zu seinem Zimmer stehen, bevor er sie öffnete und den Raum betrat. Seit seiner kurzen Abwesenheit hatte sich nicht das Geringste verändert- wie auch? Auf dem Schreibtisch lag noch immer sein Zeichenbuch, daneben stapelten sich Gläser, in denen einmal Cola gewesen war und auch ein paar Stifte waren auf der Platte verstreut. Riccardo ging auf, dass er diese Gläser wirklich in die Küche zurück bringen sollte. Angeekelt betrachtete der Junge die vertrockneten Reste des Getränks, die sich am Boden des Glases abgesetzt hatten und mittlerweile mit kleinen Flusen verklebt waren. Aber das konnte noch einen Moment warten. Er ließ sich auf sein frisch gemachtes Bett fallen und griff zu seinem Handy, das neben ihm auf dem Kopfkissen ruhte. Mit einem raschen Tippen auf das Display öffnete er seine Galerie und sah sich die Fotos der Reihe nach an. Die meisten Fotos waren einfach nur simple Screenshots von Bildern aus dem Internet oder von sozialen Netzwerken, die Sprüche, Charaktere aus Riccardos Lieblings Serien oder Dinge, die er noch zeichnen wollte zeigten. Es war schon fast erschreckend wie primitiv ihm all das im Nachhinein erschien, vor allem die Sprüche. Hin und wieder sah er dann Sätze wie: 'Ein Kuss kann nicht jedes Problem lösen, aber doch erstaunlich viele.' und zog dabei die Nase kraus. Was für eine dämliche Lebensweisheit! Schnell löschte er das Bild von seinem Handy. Allein der Gedanke daran, wie falsch diese 'Feststellung' doch war machte ihn wütend. 'Ein Kuss kann Probleme lösen!'- was für ein Mist! Die Situation in der der Junge sich befand war lebensbedrohlich und nur die wenigsten Dinge besaßen die Macht, daran etwas zu ändern- am aller wenigsten ein Kuss! Statt noch mehr Zeit darauf zu verschwenden sich aufzuregen, scrollte Riccardo durch die übrigen Bilder auf seinem Handy. Nach einer Weile blieb er stehen, da das Bild welches er ansah in auf magische Weise zu fesseln schien. Doch dieses Mal beschäftigte es ihn nicht, weil es keinen Sinn ergab, sondern aus einem ganz anderen Grund. Das Bild war auch kein einfacher Screenshot oder ähnliches, sondern ein richtiges Foto. Die Aufnahme war schon älter, Riccardo war in der neunten Klasse gewesen als der Ausflug zum See statt gefunden hatte. Und genau dort war auch das Foto entstanden. Es zeigte Riccardo mit seinen damaligen besten Freunden, Nick und Kyle. Zu seiner eigenen Überraschung musste Riccardo feststellen, dass er auf dem Schnappschuss lächelte. Mehr noch, er strahlte breit in die Kamera seines Handys. Seine Mundwinkel schienen, als seien sie in seiner oberen Gesichts Hälfte fest geklebt worden. Die Augen des Jungen wirkten freundlich, von Freude und Wärme durchströmt. Von purem Glück erfüllt saß er dort auf einem großen Baumstamm, im Hintergrund stand ein kleines Zelt in einem quietsch gelben Farbton, umringt von Laubbäumen. In der Ecke des Fotos konnte man gerade noch den Steg zum Badesee ausmachen. Aber Riccardo war nicht als einziger auf der Aufnahme zu sehen. Um seine Schulter waren zwei Arme geschlungen. Der schlanke Unterarm, der fast bis zur Hälfte mit allen möglichen Arten von Armbändern verziert war, gehörte Nick, der sein breit grinsendes Gesicht direkt an Riccardos Wange gepresst hielt, um noch mit auf das Foto zu passen. Trotz der Hitze hatte er eine Mütze getragen, wodurch nur die Spitzen seiner blau gefärbten Haare zu sehen waren. Auch die Tunnels an seinen Ohrläppchen konnte man durch die Kopfbedeckung nur mit Mühe erkennen, ganz im Gegensatz zu den Piercings an seiner Unterlippe, die zwar nicht echt waren, ihm aber trotzdem ziemlich gut standen. Zu Riccardos Linken wiederum saß Kyle. Er hatte die gleichen roten Haare und ähnlich blaue Augen wie Sarah, dafür aber eine größere Nase,ein eckigeres Kinn und einen breiteren Hals. Durch sein Ärmel loses Oberteil konnte man seine Muskel bepackten Arme deutlich sehen. Er schmunzelte zwar nur leicht, aber Riccardo wusste, dass Kyle mindestens genau so glücklich war, wie Nick und er auf dem Foto aussahen. Kyle hatte (ganz im Gegensatz zu Riccardo) schon immer Probleme damit gehabt seine Gefühle zu zeigen und daher war es schwer zu deuten, was er empfand. Doch über die vielen Jahre enger Freundschaft hinweg hatten sie einander gut genug kennen gelernt um aus- und übereinander zu lernen. Zumindest so lange, bis ihre Wege sich getrennt hatten. Ein deprimiertes Seufzen entfloh Riccardo. Die einzigen Menschen, bei denen er je das Gefühl gehabt hatte, verstanden zu werden hatten ihn verlassen und das schon vor einer gefühlten Ewigkeit. Kyle hatte nie viel für Schule oder Lernen übrig gehabt und dem entsprechend waren dann auch seine Noten ausgefallen. Irgendwann wurde seiner Mutter das zu viel und sie schickte ihn auf Empfehlung der Lehrer auf eine andere Schule, nachdem er schon mehrere Male Klassen wiederholt hatte. Danach hatte Riccardo nur noch Nick aber den hielt es auch nicht lange auf der Schule. Nach der Trennung seiner Eltern war er mit seinem Vater weit weg gezogen, was es Riccardo unmöglich machte ihn zu sehen, ausser in den Ferien, wo sie sich theoretisch hätten sehen können. Doch da schleiften ihn seine Eltern immer zu irgendwelchen Jugendcamps, mit der Ausrede, er solle doch auch mal neue Freunde finden, statt den alten hoffnungslos hinterher zu rennen. Das wirklich traurige an der Sache war, dass sie in einem Punkt recht gehabt hatten: Es hatte wirklich nichts gebracht Nick nach zu laufen. Irgendwann war der Kontakt wegen mangelnden Treffen abgebrochen. Irgendwann war einfach der Zeitpunkt gekommen, wo selbst das Schreiben mit einander zunehmend langweiliger wurde. Und was Kyle anging: Der hatte sich prima auf seiner neuen Schule eingelebt, hatte seinen eigenen Freundeskreis und persönliche Interessen. Des Öfteren hatte Riccardo ihn besucht, hatte aber schließlich damit aufgehört- endgültig. Kyle schien so glücklich mit seinen neuen Freunden, viel glücklicher als er es jemals mit Nick und Riccardo gewesen war. Er zeigte sogar Gefühle, lachte öfter, riss ständig Witze und wirkte alles in allem locker und entspannt. Nach den Treffen mit Kyle hatte Riccardo sich immer fragen müssen, ob er ein schlechter Freund war, was natürlich nicht stimmte. Aber Kyle hatte sich seine eigene Welt erbaut, fern von Riccardos eigener und genau das gleiche galt für Nick. Sie brauchten ihn einfach nicht mehr in ihrem Leben. Schon ironisch angesichts der Tatsache, dass Riccardos Leben zuvor nur aus den beiden Jungen bestanden hatte. Anscheinend war ihnen diese Freundschaft nie so wichtig gewesen, wie er angenommen hatte. Dabei hätte er die Beiden all die folgenden Jahre mehr als nur gut an seiner Seite gebrauchen können. Mit Nick und Kyle gemeinsam war der Spott der restlichen Klasse Riccardo immer ziemlich egal gewesen. Mehr noch, sie hatten sich darüber lustig gemacht. Aber ganz allein Tag für Tag Jahre lang einunddreißig Menschen ausgesetzt zu sein, die einen nicht mochten und beschimpften war keine aufbauende Erfahrung. Hinzu kamen außerdem noch die Lehrer, denen die zahlreichen Streiche und schrägen Aktionen des Trios im Gedächtnis geblieben waren und die daher voreingenommen gegenüber dem Jungen waren. Bei manchen Lehrern hatte Riccardo das stärker zu spüren bekommen als bei anderen, aber in jedem Fall war es nicht gut für seine Noten gewesen. Im Vergleich zu Kyle hatte er es noch gut gehabt, denn durch intensives Lernen und gute Mitarbeit im Unterricht konnte er den Stoff aufarbeiten und somit gelang es Riccardo glücklicher Weise letzten Endes doch noch seine Noten wieder ins Lot zu bringen. Seinen Ruf bei den Lehrern besserte das zwar, aber unter den restlichen Schülern machte ihn das nur noch unbeliebter, denn jetzt war er nicht nur ein Aussenseiter, sondern auch noch ein 'behinderter Streber'. Riccardo hatte sich fest vorgenommen ihre Beschimpfungen zu ignorieren, aber auf Dauer war das wirklich nicht so einfach. Über das Wochenende und die Ferien hatte sich der Junge stets mehr gefreut als jeder andere. Ganz einfach aus dem Grund, dass er ausnahmsweise nicht beleidigt wurde. Das eigentliche Problem war, dass Riccardo noch nicht einmal den Grund kannte, weshalb ihn seine Klassenkameraden und übrigen Mitschüler so fertig machten. Um ehrlich zu sein war es ihm bis heute ein Rätsel und der Junge hatte so ein Gefühl, dass sich das auch nie ändern würde. Menschen konnten eben grausam sein, grausamer als man das erwartete. Und Riccardo hatte so eine Befürchtung, dass genau das den Menschen ausmachte, dass das Diskriminieren von Anderen leider menschlich war. Generell waren die Leute unberechenbar, wenn es darum ging anderen Leid zuzufügen. Ein perfektes Beispiel war die Situation in der sie sich gerade befanden: Die unmittelbare Bedrohung durch einen Mörder und die Ermordung zweier Jungen. Riccardo schüttelte sich. Er wollte jetzt wirklich nicht daran denken, seine Stimmung war ohnehin schon im Keller. Er stand von seinem Bett auf und begann in seinem Zimmer auf und ab zu laufen während er krampfhaft versuchte, an etwas anderes zu denken. Irgendwann blieb er stehen. Wenn er schon nichts zu tun hatte, dann konnte er auch gleich die alten Cola Gläser weg räumen. Dann hätte er das schon mal hinter sich. Er stapelte die Gläser zu zwei gefährlich instabilen Türmen auf und wankte auf die Tür zu. Riccardo begann gerade sich zu fragen, wie er die Tür aufbekommen sollte, wo er doch alle Hände voll hatte, als diese plötzlich aufgerissen wurde. Riccardo wich zurück und die Gläser fielen klirrend zu Boden. ,,Man Hanna, schon mal was von Anklopfen gehört?", schnaubte er während er begann die Scherben aufzusammeln. ,,'Tschuldigung.", nuschelte das Mädchen und bückte sich eilig um Riccardo bei der Beseitigung der Scherben zu helfen. ,,Warte, ich hole eben ein Kehrblech. Was musstest du überhaupt so hier rein platzen?", fragte Riccardo. Hanna packte ihn am Arm und sah ihn eindringlich an. ,,Genau das wollte ich dir gerade sagen.", erklärte sie. Hanna klang ernst. Was auch immer sie ihm mitteilen wollte, es schien wichtig zu sein.Doch als sie erneut anfing zu sprechen wirkte sie mit einem Mal hilflos und Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. ,,Riccardo, du musst mir helfen!".
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top