Aufbruch ins Unbekannte

So langsam verlor Jan die Hoffnung, Bela je wieder zu sehen. Er war jetzt schon für mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden und es wirkte nicht so, als würde er einfach wieder auftauchen. Auch die letzten Zweifel waren jetzt ausgeräumt, Bela war etwas zugestoßen, ganz eindeutig. Wahr haben wollte es trotzdem keiner.
Jan seufzte. Auf dem Bett herumsitzen und sich das Hirn zermatern hilft Bela auch nicht weiter, dachte er. Aber irgendwie mussten sie ihm doch helfen können! Jan wusste nur nicht wie und die Anderen genau so wenig. Mit einem lauten Grummeln machte sich Jan's Magen bemerkbar und er beschloss nach unten zu gehen und eine Kleinigkeit zu essen. So wie es aussah schliefen alle Anderen noch, in der Küche saß jedenfalls weit und breit niemand. Jan ging auf den Schrank zu und öffnete ihn. Brot, Erdnussbutter und Cornflakes. Na das war aber mal eine große Auswahl! Jan verdrehte die Augen. Sie mussten es hier für zwei Wochen aushalten und hatten trotzdem kaum etwas Essbares da?! Jan machte die Kühlschranktür auf. Zum Glück! Wenigstens der war voll. Er nahm sich ein Glas Marmelade und eine Scheibe Brot, bevor er sich hinsetzte und sich mehr und mehr in seinen Gedanken verlor.
Nichts auf dieser Welt geschah ohne einen Grund, mochte er auch noch so sinnlos erscheinen, es gab immer einen. Was war der Grund für Bela's Verschwinden? Eines stand fest: Wenn er nicht spätestens Heute auftauchte, dann mussten sie etwas unternehmen, egal was seine Beweggründe waren. Jan biss lustlos in sein Brot. Er hatte im Moment einfach keine Lust, auf alles. Das war auch der Grund, weshalb er sich überwunden hatte mitzukommen. Er hatte einen kleinen Funken Hoffnung gehabt, dieser Ausflug könne ihm helfen wieder auf andere Gedanken zu kommen, aus dem tristen Alltag zu entfliehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Aber dann war diese Sache mit Bela geschehen und alle seine Pläne und Träume waren mit einem Mal geplatzt, wie eine Seifenblase. Wunderschön anzusehen, aber wenn man den Versuch unternahm sich ihr zu nähern, es wagte nach ihr zu greifen verwandelte sie sich in Luft und man stand wieder allein in der Dunkelheit, beobachtet von den eigenen Ängsten und Verzweiflungen. Jan bekam eine Gänsehaut im Nacken und schüttelte sich. Angst vor der Angst, wie ironisch war das denn.
Jan strich sich die hellblonden Haare aus der Stirn. Normalerweise stylte er sie sich nach oben, da sie ihn sonst nervten, aber heute war es anders, heute lagen sie ihm strähnenweise über den Augen und heute war es ihm egal. Er senkte den Kopf. Warum musste immer alles schief gehen? Warum passierte das immer ihm? Es schien, als käme er aus dieser nicht enden wollenden Pechsträhne nicht mehr heraus. Eine Hand legte sich auf Jan's Schulter. ,,Alles in Ordnung?".Jan zuckte zusammen und drehte sich mit einer schnellen Bewegung zu der Person, die ihn soeben berührt hatte. Es war Riccardo. ,,Ach du bist's.",seufzte Jan. Für einen langen Moment herrschte Stille und sogar das alte Haus schien aufmerksam auf etwas zu warten, auf ein Zeichen, auf weitere Worte, als Riccardo plötzlich das Schweigen brach.
,,Ist schon verrückt, die Sache mit Bela.". Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen und Jan bemerkte jetzt erst wie mitgenommen der Junge überhaupt aussah. Sein Gesicht schien mehr aus Augenringen als aus sonst etwas zu bestehen und seine müden Augen kniffen sich bei dem durch das Fenster einfallenden Licht zusammen. Er bat einen trostlosen Anblick. Das war nicht der Riccardo, den Jan zu Beginn der Reise kennen gelernt hatte. Das war nicht der motivierte junge Mann, der sich von nichts Aufhalten ließ. Nein, das hier war eine völlig andere Seite von ihm und Jan war sich nicht einmal sicher, ob er diese Seite überhaupt näher kennen wollte. Wahrscheinlich nicht, denn er fühlte sich schlecht und alles kam ihm hoffnungslos vor. Warum glaubten sie überhaupt noch daran, dass Bela zurück käme? Warum machten sie sich weiterhin Hoffnungen für eine Schlacht, die längst verloren war? Sie mussten bescheid sagen. Sie mussten jemanden informieren, dass dieser Ausflug nicht nach Plan verlaufen war. Das war das einzige, was sie tun konnten.

Es war eine gute Dreiviertelstunde später, als sie sich alle unten versammelt und gefrühstückt hatten, während Jan seinen Vorschlag zu Wort gebracht hatte, jemanden zu informieren. ,,Ich bezweifle, dass man hier oben Handy- Empfang hat, aber ich kann es ja mal versuchen.", sagte Sarah. Jan musterte sie ausgiebig. Von allen hatte Belas Verschwinden sie am meisten mitgenommen. Jan war sich zwar nicht sicher, aber er hatte den leisen Verdacht, dass sie Bela mochte und das nicht nur aus Freundschaft. Sarah stand auf und begab sich in Richtung Flur. Kaum war sie verschwunden, als sich Hanna auch schon zu Jan überbeugte und ihm ins Ohr flüsterte: ,,Ist dir das auch aufgefallen? ". Jan zuckte nur mit den Schultern, doch Hanna fuhr unbeirrt fort:
,,Nun ja, Sarah. Sie isst kaum noch, sie schläft nicht viel..." Sie machte eine kurze Pause, während der sie Jan tief in die Augen sah und als sie fortfuhr hatte sie ihre Stimme so tief gesenkt, dass es schon fast etwas unheimlich war. ,,Um ehrlich zu sein-" sie rückte noch ein Stück näher an Jans Seite, sodass dieser ihren warmen Atem in seinem Ohr spüren konnte ,,Sie führt Selbstgespräche. Das ist echt gruselig. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht, weil ich ein unheimliches Flüstern gehört habe und... naja, Sarahs Zimmer ist ja direkt neben meinem. Und als ich dann merkte, dass die Geräusche aus ihrem Zimmer kamen habe ich die Tür einen Spalt breit geöffnet und dann saß Sarah dort, zusammengekauert am Fussende ihres Bettes, mit weit aufgerissenen Augen und hat irgendein wirres Zeug genuschelt, während sie sich vor und zurückgewiegt hat. Ich hab' die Tür natürlich sofort wieder geschlossen, das war mir dann nämlich doch eine Spur zu gruselig. Was ich damit sagen will ist: Sie wirkt psychisch ein wenig labil und ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Situation hier sie in gewisser Weise... beeinflussen könnte. Verstehst du? Ich mache mir ernsthafte Sorgen um sie! Hast du gesehen wie ihre Knie gezittert haben, als sie aufgestanden ist? Hast du das gesehen? Ihr scheint das ziemlich zu schaffen zu machen.". Jan zog die Stirn in Falten. Er wusste ja, dass Sarah in schlechter Verfassung war, aber so drastisch hatte er sich das ganze nun auch nicht ausgemalt. ,,Und was sollen wir jetzt tun?" ,zischte er zurück, woraufhin Hanna das Gesicht zu einer ratlosen Grimasse verzog
,,Abwarten und hoffen, dass Sarah Erfolg mit ihrem Telefonat hat nehm' ich an." In diesem Moment vernahmen sie ein Fluchen aus der Richtung, in die Sarah gegangen war und kurz darauf hörten sie sie die Treppen runter rennen. Hanna sah ihr nur verdutzt nach, als Sarah mit ihrem Handy in der Hand wiederkam, an ihr vorbei stürmte und die Haustür hinter sich zu knallte. ,,Was war das denn?". ,,Ich geh mal nachsehen.", verkündete Jan und folgte Sarah nach draußen. Das Mädchen stand draussen auf der Veranda, ihr Atem stieg in Dunstwolken zum grau verhangenen Himmel hinauf. Sie zuckte zusammen, als sie die Tür zufallen hörte und als sie sich umdrehte konnte Jan den enttäuschten Ausdruck in ihrem vom Wind geröteten Gesicht erkennen. Ihre Augen wurden glasig, sie schien durch Jan hindurch zu sehen und dann öffnete sich ihr Mund, nur einen Spalt breit, gerade weit genug um sprechen zu können ,,Wir sitzen hier fest!" ,flüsterte sie und Jan lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es war die Art und Weise wie sie es gesagt hatte, nur ein paar gehauchte Worte der Verzweiflung. Langsam wurde sie echt gruselig. Reiss dich zusammen, Jan! Befahl er sich selbst. Du bist hier nicht in einem schlechten Horrorfilm, auch wenn das manchmal so scheint! Als Jan sich wieder einigermaßen gefasst hatte hakte er endlich nach: ,,Hast du keinen Empfang?". Sarah nickte, schien jedoch immer noch irgendwie abwesend. Sie tippte kurz auf ihrem ihrem Smartphone herum, sah dann jedoch deprimiert zu Jan. ,,Hier draussen auch nicht.". ,,Fuck!", fluchte Jan und biss sich auf die Unterlippe. Als die Zwei das Haus wieder betraten, liess sich ihr Scheitern von ihren Gesichtern ablesen. ,,Kein Erfolg?", fragte Hanna und Sarah schüttelte resigniert den Kopf. ,,Dacht' ich's mir doch.", kommentierte Riccardo. ,,Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben Hilfe zu holen!", meinte Jan und Anouk begann nachdenklich an ihrem Fingernagel herum zu kauen: ,,Die einzige Möglichkeit die mir in den Sinn kommt, ist zur Tankstelle zu gehen...". ,,Ich weiss nicht-". Hanna hatte noch ihre Zweifel. ,,Der Weg bis dort dauert einen ganzen Tag und es wurden heftige Schneestürme vorrausgesagt." Jetzt mischte sich auch Sarah in die Unterhaltung ein: ,,Das ist unsere Chance Hilfe zu holen, versteht ihr denn nicht? Mit jeder Sekunde schwindet die Wahrscheinlichkeit Bela lebend wiederzufinden. Wir können es uns nicht leisten noch mehr Zeit zu verlieren! Also: Ich schlage vor einer geht zu der Tanke und probiert von dort aus anzurufen während der Rest hier wartet. Wen wir alle zusammen gehen halten wir uns nur gegenseitig auf. Freiwillige vor.". Unsicher hob Jan die Hand. ,,Na ja, früher war ich mit meinem Dad immer viel wandern und daher glaube ich, dass ich am meisten Übung habe und es am schnellsten wieder hierher zurück schaffe, bevor der Sturm einsetzt."
,,Hervorragend!", rief Hanna. ,,Du musst dich beeilen, solange du noch Tageslicht hast. Wir packen dir einen Rucksack und du guckst, was du sonst noch so brauchst." Jan nickte bloß. Zugegeben, er fühlte sich nicht wirklich wohl in seiner Rolle und selbst die Tatsache, dass Hanna ihn mit ihrem vorgetäuschten Enthusiasmus aufzuheitern versuchte, half ihm auch nicht weiter. Er war zwar oft wandern gewesen, aber immer nur mit seinem Dad und das lag bereits Jahre zurück. Ihm graute ein wenig vor dem, was ihn erwartete, doch er schluckte den Kloss in seinem Hals mit Mühe herunter und zwang sich dazu noch etwas zu essen, immerhin würde das ein langer und anstrengender Tag für ihn werden.

Der Wind zerrte an Jans Kleidung und er konnte seine Nase schon nach so kurzer Zeit hier draussen kaum noch spüren. Die Stimmen der restlichen Gruppenmitglieder hallten ihm noch immer in den Ohren: Viel
Erfolg ; Pass auf dich auf! ; Beeil dich besser, sonst erwischt dich der Sturm!... Und trotzdem stand er nun hier in der Kälte und sah in den Schnee. Woher kamen nur diese Pfotenabdrücke? Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um Wolfsspuren handelte, aber was machten die hier, so nah an der Hütte. Seines Wissens nach waren Wölfe äußerst scheue Tiere. Jan seufzte. Er sollte sich wirklich nicht von solchen Kleinigkeiten ablenken lassen. Er holte tief Luft und schlug seinen Weg ein, bis ihn das Schwarz des Waldes verschluckte...

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