The Bully

Nein, das konnte nicht sein.

Alessia merkte, wie ihr Herzschlag merklich schneller wurde. Ohne Grund, denn sie hatte sich sicher nur getäuscht. Eine simple Einbildung, weiter nichts.

Sie lächelte, ebenfalls ohne Grund, denn sie hatte nichts zu verbergen,was man mit einem Lächeln überdecken könnte. Langsam blickte sie auf und schaute einmal quer durch den Bus, mit dem sie von der Uni nach Hause fuhr, zu dem alten Mann der gerade diesen betreten hatte.Den Herren beachtete sie jedoch kaum, weder wie er aussah, noch wie er gekleidet war, vielmehr zog die Tageszeitung, die er in seinen faltigen händen hielt, ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Doch auch hier interessierten Alessia die Schlagzeilen nicht, alles was sie sehen konnte war das kleine Schwarz-weiß-Foto rechts unten auf der Rückseite.

Obwohl es höchstens zehn Zentimeter hoch und fünf Zentimeter breit war, war es als würde jemand das Bild größerzoomen und den Rest ihresgesamten Sichtfeldes mit einem Weichzeicher unscharf machen.

Sie senkte ihren Blick wieder auf ihr Smartphone und scrollte durchverschiedenste Apps, damit sie sich ablenken konnte. Immer wieder sagte sie in Gedanken zu sich sebst: „Bild dir nichts ein, du hast damit nichts zu tun!" Doch irgendwie konnte sie sich nicht selbst überzeugen.

Es fühlte sich an, als würde jeder sie mit einem vorwurfsvollen Blick mustern, ganz ähnlich wie der des Jungen auf dem Foto.

Nein, sie musste es einfach vergessen, sie hatte damit absolut gar nichts zu tun, keiner machte sie für das Geschehene verantwortlich! Warum machte sie sich darüber überhaupt noch Gedanken?

Sie schloss die Augen, öffnete sie aber sofort wieder, weil sie vorcihrem inneren Auge noch immer das Foto war. Wie eintätowiert in ihre Netzhaut.

Alessias Kopf fühlte sich an, als würde ihr Gehirn Sekunde für Sekunde durch Watte ersetzt weden, kein einziger klarer Gedanke formte sich mehr, wie sie es als strukturierte Studentin gewohnt war. Alles war nur ein dumpfes Durcheinander, das mit der Zeit immer wirrer wurde.Alles drehte sich um ihn.

Schon fast verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, ihre Gedanken wieder frei zu bekommen, es konnte doch nicht so schwer sein aufhörenvan etwas zu denken!

Musik! Ja, Musik hatte immer geholfen. Mit zitternden Fingern fummelte sie die zu einem ordentlichen Paket zusammengeschnürten In-Ear-Kopfhörer aus einer der Seitentaschen der überteuerten Lederhanddtasche, welche sie von ihrer besten Freundin zu Weihnachten bekommen hatte.Nachdem sie nach mehren Anläufen endlich die Kopfhörer in die dafür vorgesehene Öffnung am Smartphone engesteckt hatte, rammte sie sich die Mini-Lautsprecher etwas zu schwungvoll in die Ohren und lehnte sich mit einem angespannten Seufzen in den ungemütlichen Bussitz zurück, bewusst darauf achtend den Blick nicht zu hoch zu richten,um nicht abermals mit der schmerzhaften Wahrheit konfrontiert zuwerden.

Erst nach einer Weile fiel Alessia auf, dass sie gar keine Musik hörte.Sie hatte vergessen den Play-Button zu drücken. Und natürlich hatte sie anstatt die fehlende Musik zu bemerken wieder nachgedacht. Über das Tabu-Thema.

Am liebsten hätte sie sich selbst jetzt mit der flachen Hand, gegen die Stirn geschlagen, das konnte doch nicht wahr sein!

Der Bus hielt mit einem Zischen, Menschen standen auf und verließen das Gefährt. Um sich zu beschäftigen, startete sie ein weiteres Ablenkungsmanöver gegen den Gedanken, der sich so hartnäckig wie ein Staubsaugervertreter an der Tür in ihrem Kopf festklammerte,loszuwerden und fing an sämtliche Staßenschilder zu lesen. Als ihr Blick eher durch Zufall auf die Bushaltestelle fiel, musste sie feststellen, dass das Schild, das an einer Laterne angebracht war, den Namen der Bushaltestelle trug, an der sie aussteigen müsste.

Hektisch packte sie ihre Sachen, sprang auf, eilte in Richtung Ausgang und verfehlte mit ihrer Tasche ganz knapp die Gehhilfe einer älteren Frau, die ihr auch prompt einen bissigen Kommentar hinterher spuckte.Ohne die verärgerten Blicke der Menschen zu beachten kämpfte sie sich weiter durch den überfüllten Bus, erreichte nach einigen schmerzhaften Ellenbogen im Magen schließlich den Ausgang und sprang mit einem Spagatsprung im letzten Moment noch in den Nieselregen.

Das war knapp gewesen, erleichtert strich sie sich die blonden Locken ausdem Gesicht und hängte sich die Tasche gemütlicher über die Schulter.

Langsam machte sie sich auf den weg nach Hause in ihr kleines Apartment, das irgendwo versteckt in den Hochhausreihen der Großstadt lag. Wolkenkratzer und heruntergekommene Industriegebäude türmten sich wie stille Riesen aus Beton um sie herum auf, irgendwie höher,dunkler, bedrohlicher als sonst. Von einem Dachvorsprung erklang der einsame Schrei einer Taube, seltsam wie so ein friedbringendes Tier so verächtlich und höhnend klingen konnte.

Fröstelnd verschnellerte sie ihre Schritte, sodass das Klackern ihrer Absätzefast wie der Herzschlag einer ängstlichen Maus klang. Je schneller sie zu Hause war, desto besser, dort wartete nur ein gemütliches Sofa, ein flauschiger Jogging-Anzug und eine heiße Tasse tee auf sie, und nichts wäre mehr dunkel und verachtend, wie das undankbare Industriegebiet, der überfüllte Bus und die viel zu große Stadt.

Während sie müde die Stufen , die zur bunten Fußmatte vor ihrer Wohnung führten, zum dritten Stock hinaufstieg, beobachtete sie die weitläufigen Risse im Putz der tristen Wände des Treppenhauses, noch nie waren sie Alessia aufgefallen.

Oben angekommen steckte sie mühsam den Schlüssel ins Schloss, nachdemsie mindestens drei Anläufe dafür gebraucht hatte, weil ihre Hände so verdammt zittrig waren.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, einmal kurz durchatmen, es war als hätte sie sich gerade erfolgreich ihre Verfolger bei einer Verfolgungsjagd abgehängt. Mit dem Unterschied, dass sie es keineswegs geschafft hatte, denn die Gedanken, die sie verfolgten ließen sich nicht durch Mauern eines Hauses ausperren.

Mittlerweile hatte sie sich aus den engen Klamotten gepellt und sich etwas Gemütliches übergeworfen, sie ließ einfach ihre tagtägliche Routine arbeiten. Die Devise: Bloß nicht nachdenken! Lass diese verseuchten Gedanken nicht an dich ran! Je mehr du denkst, desto mehr Chancen haben sie dich zu überwältigen.

Fix und fertig warf sie sich zusammen mit einer Tüte Chips und ihrem Smartphone auf ihr Bett. Heute würde es nichts Richtiges zum Abendessen geben, dazu hatte sie viel zu viel Angst versehentlich die Küche in Flammen zu stecken oder sich unabsichtlich mit einer gesunden Portion Rohrreiniger im Salat zu vergiften. Sie war ja sogar so neben der Spur gewesen, dass sie es nicht einmal geschafft hatte ganz normal Musik zu hören.

Musik.

Genau das war, was sie jetzt brauchte, einfach nur ohne groß nachzudenken, sich von den beruhigenden Klängen und Melodien in der Playlist auf ihrem Handy einlullen lassen. Langsam setze sie sich die Kopfhörer auf und drückte auf 'Play', bereit in die verzaubernde Welt des Rhythmus' und der Tonfolgen zu versinken. Die Welt, die eine solide Blase um Alessia bilden sollte, um sie vor dem schlechten Gewissen zu retten. Doch das tat sie nicht, im Gegeteil: Alles Erlebte prasselte nun tausendfach verstärkt auf sie ein. Wie ein gut platzierter Hieb in die Magengrube traf es sie, sodass aus ihrem Mund ein gepresster Laut herausplatzte, der so nie geplant war.

Nein, Musik alleine würde heute wohl nicht helfen.

Immer noch bebend, von der Wucht der Erinnerungen, die sie bis jetzt so erfolgreich ausgesperrt hatte, griff sie nach ihrem Handy, um ein bisschen im internet zu surfen. Denn wenn sie sich schon nicht mit ihrem eigenen Leben konfrontieren konnte, konnte sie sich möglicherweise so lang wie möglich in dem anderer Menschen verkriechen.

Und tatsächlich, es half ausnahmsweise. In Gedanken an die neuesten Instagram-Trends und den letzen Tweet der zuzeit beleibtesten Promineten, schaufelte sie sich eine Hand voll Chips nach der anderen in den Mund ohne auch nur an ihre strenge Diät zu denken.

Umso mehr schrak sie zusammen als plötzlich ein schriller Pfeifton aus ihrem Smartphone erklang. Anfängliche Verwirrtheit legte sich jedoch schnell, da gerade einfach nur eine Textnachricht ihrer besten Freundin angekommen war.

>Hey bbyyy!

OMG Hab grad voll was krasses in den Nachrichten gesehn!

Die Schwuchtel hat sich einfach mal so gekillt hahaha

is ja auch besser so keiner braucht die Lappen

Ham wir gut gemacht dass wir den son bisschen geärgert haben xD

OMGich bin so happy hahahaha

Stille. Die Playlist war zu Ende.

Das durfte nicht sein. Warum hatte sie so etwas geschrieben? Wie im Trauma sank sie nach hinten, hoffend einfach für immer zu fallen.
Eine Hoffnung, die schneller zerstört war als ihr lieb war, denn sie schlug mit voller Wucht auf die hintere Bettkante. So schmerzhaft es doch war, so gut tat es gleichzeitig. Wie eine Bestrafung, die sie mehr als verdient hatte.
Sie war mit ihrem schlechten Gewissen noch nicht ganz quit, das würde sie vermutlich niemals sein. Jedoch war so ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf ein nahezu perfekter Start, um es zu werden.
Vom einen Augenblick auf den nächsten war alle Watte aus ihrem Kopf verschwunden, endlich konnte sie wieder geradeaus denken und das Pochen im Hinterkopfbereich störte kein winziges bisschen dabei.
Zum ersten Mal in ihrem Leben tat es gut selbst zu leiden. Ihr war als wäre es gar nicht sie selbst, die bestraft werden müsse, sondern die alte Alessia. Die, die teure Handtaschen sammelte, die, ihre schwarzen Haare platinblond färbte, die, die es wahnsinnig cool und lustig fand schwule Kinder bis zum Selbstmord zu mobben.

Doch diese Person wollte sie nicht sein, diese Person war sie nicht mehr.

Sie stand auf. Ihr Blick fiel in den Wandspiegel über der Kommode. Sofort schaute sie wieder weg, denn ihr eigener Anblick ekelte sie an. Ihr Spiegelbild wirkte überzeichnet, eine Karikatur, fast eine Fratze, ihrer selbst.
Oder? Was, wenn sie wirklich so aussah?
Mit schnellen Schritten durchmaß sie den Raum, direkt auf ihren Arbeitstisch zusteuernd.
Sie hatte einen Plan, endlich.Das Planlos durch die Wohnung zu stolpern hatte sie schon sattgehabt, bevor sie überhaupt es überhaupt angefangen hatte.
Bedächtig nahm sie nun die große Schere aus der Schublade des Tisches. Langsam drehte sie sich zum Spiegel und setzte die Schere genau so bedächtig an den blonden Locken an. Nicht auf Achselhöhe, nicht auf Schulterhöhe, auch nicht auf Ohrhöhe. Sondern direkt am Ansatz, dort wo das gefärbte Blond schon in ihr natürlich italienisches Braun-Schwarz überging.
Noch ein paar Stunden zuvor hätte sie noch nicht einmal daran gedacht, die Länge ihrer engelsgleichen Haare zu verändern. Doch jetzt, jetzt konnte sie sich nichts schöneres vorstellen als den ganzen Balast endlich loszuwerden.

Schnipp. Die erste Strähne hielt sie in der Hand. Alessia wusste, dass es jetzt kein zurück mehr gab. Aber wollte sie überhaupt jemals zurück? Nein! Sie wollte ein anderer Mensch sein!
Strähne für Strähne arbeitete sie sich auf ihrem Kopf voran. Strähne für Strähne musste fallen. Strähne für Strähne wurde fein säuberlich auf die Kommode gelegt.
Als sie fertig war blickte sie auf und schaute in den Spiegel und obwohl sie ein bisschen wie ein schwarzhaariger Pumuckl aussah, war sie zufrieden. Voller neugeschöpfter Energie lief sie ins Bad und wusch sich das Gesicht. Die falsche Maske aus Make-Up musste auch verschwinden, jetzt brauchte sie sie nicht mehr. Kein Versteckspiel mehr mit irgendwem!
Sonst hatte sie ihr ungeschminktes Gesicht immer hässlich und müde gefunden, jetzt war es lebendiger als sie es mit Farbe jemals hätte sein können.
Als sie wieder zurück in ihr Schlafzimmer ging, sah sie ihr Handy auf dem Bett liegen. Anstatt dass sie wieder in ein sinnloses Trauma verfiel, ergriff sie dieses Mal endlich Maßnahmen.
Kontakte bis dato bester Freunde wurden gelöscht und blockiert. Nie im Leben würde sie mit diesen Menschen irgendetwas zu tun haben.
Sämtliche ihrer Social Media Accounts mussten ebenfalls das zeitliche segnen. Sie konnte so etwas nicht länger verantworten, nicht länger online lassen.

Der letzte Schritt, fiel ihr am schwersten. Lange sas sie da, das Handy im Schoß, die Nummer ihres Bruders schon gewählt.
Schließlich tat sie es einfach, sie drückte auf den grünen Hörer und hielt sich das Gerät ans Ohr.
Tuut.
Ihre Hand wurde immer schwerer.
Tuut.
Das gute Gefühl verließ sie.
Tuut.
Sie wollte auflegen.
Tuu...
Stille
Dann meldete sich eine vom Weinen kratzige Stimme: ,,Al? Warum rufst du mich an? Ist gerade ungünstig..."
Bei den letzten Worten versagte seine Stimme.
Alessia fasste sich ein Herz und begann zu sprechen: ,,Hör zu, es... es tut mir wirklich leid, für alles was... was mit deinem Freund, mit To, passiert ist. Ich möchte alles rückgängig machen, möchte ihn leben lassen, möchte euch zweien beim Glücklichsein zusehen, möchte dass ihr eine Familie gründen könntet. Aber ich weiß, dass das nie gehen wird. Es gibt aber noch andere Dinge, die ich mögen würde. Dinge, die zu schaffen sind, aber nur, wenn wir zusammen helfen: Ich möchte mich ändern, möchte, dass du mich wieder akzeptieren kannst, möchte dir helfen, möchte, dass dein Leben wieder so normal wie möglich wird, möchte, dass du mir verzeihst.
Bitte sag, dass das nicht zu viel verlangt ist!"
Tränen stiegen ihr in die Augen, wenn er sie jetzt abwieß, was durchaus verständlich gewesen wäre, war alles vorbei. Dann würde sie niemals über die Sache hinwegkommen.
Sie konnte hören, dass ihr Bruder auf der anderen Seite der Leitung angefangen hatte zu weinen, es brach ihr das Herz, aber gerade als sie etwas sagen wollte, erhob er zitternd seine Stimme: ,,Ja, ich verzeihe dir, du warst nicht... du selbst. Ich hätte dir nie zugetraut m-meine große Liebe zu zerstören", er musste absetzen, um sich zu sammeln, ,,es war diese falsche Schlange, sie hat dich manipuliert, dich verändert. Ich gebe dir keine Schuld, auch wenn mir das anfangs echt schwer gefallen ist, weil du ja doch direkt daran beteiligt warst." Dann überwältigte es ihn und er fing wieder an zu weinen.

So viele Dinge lagen Alessia auf der Zunge. Sie wollte sich bedanken, sich entschuldigen, ihn trösten.

Stattdessen sagte sie einfach nur: ,,Ich komm vorbei", schlüpfte in ihre Schuhe, nahm die Jacke vom Haken und stürmte in die Nacht.

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Wird überarbeitet

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