1100 | Roberta
Auf dem Weg zurück zu der Wohnung meiner Bekannten, achte ich penibel darauf, nicht entdeckt zu werden. Eine ganze Weile habe ich noch unter dem Tatort gelegen und gewartet, bis die Luft auch sicher rein war. Auf keinen Fall wollte ich den Fehler begehen und mich von Moser und Darell erwischen lassen.
Durch die Tiefgarage gelange ich schließlich wieder in den Hausflur und lege meine Verkleidung ab, bevor ich den Briefkasten öffne und mein Handy hervorhole. Die App ist noch immer geöffnet und ich grinse, weil sie mir quasi ein wasserfestes Alibi verschafft. Ich stecke das Handy ein und beschließe noch schnell die Blumen meiner Nachbarin zu gießen. Wenn ich grade schon hier bin...
Da der Fahrstuhl kaputt ist, muss ich leider die sechs Stockwerke bis zur Wohnung zu Fuß bewältigen. Kurz vor dem Treppenabsatz zum fünften Stock, vibriert die Uhr an meinem Arm und ich nehme zufrieden zur Kenntnis, dass ich meine Schrittzahl für den heutigen Tag bereits erreicht habe. Aus Gewohnheit greife ich nach meinem Handy und öffne meine Fitness-App, um mir meinem wohlverdienten Sticker abzuholen.
Während ich noch darüber nachdenke, dass es verrückt ist, dass mich ein digitaler Sticker tatsächlich dazu motiviert mehr Sport zu machen, zeigt mir die App neben meinem Wochenfortschritt, auch meine Route mit den meisten Schritten an und fragt, ob ich diese für die nächste Trainingseinheit als Referenz speichern möchte. Grade will ich den Vorschlag annehmen, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag trifft.
„Ich dämlicher Idiot! Ich Esel!" schreie ich durch das Treppenhaus, welches meine Worte mit einem unheimlichen Echo zurückwirft, mache auf dem Absatz kehrt und renne, mehrere Stufen auf einmal nehmend, wieder hinunter. Im zweiten Stockwerk stolpere ich beinahe über meine eigenen Füße und kann mich grade noch so am Geländer festhalten, bevor ich meinen Lauf fortsetze und ziemlich erschöpft am Fuße der Treppe ankomme.
Etwas weniger hektisch, da zu auffällig, gehe ich über den Weg bis zu meinem Wohnhaus, fühle mich von zwei sichtlich aufgeschreckten Männern kurz beobachtet, stratze in meine Wohnung, dessen Tür ich sofort hinter mir schließe, und fahre den Rechner hoch. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, bis ich mich angemeldet habe.
Als erstes lade ich die Daten meiner Uhr auf meinen Computer. Bingo! Auf dem großen Bildschirm kann ich genau nachvollziehen, wo ich gewesen bin. Anders als in der kostenlosen App auf meinem Handy, die mir nur eine stilisierte Karte anzeigt, legen sich hier die Wegpunkte bis auf 20 Meter genau auf die Map-Anwendung einer großen Suchmaschine. Aufgeregt verfolgen meine Augen meinen Weg: Heute Morgen war ich bei Theo, bin dann zu meiner Wohnung gefahren und dann zu Alex. Alles gut dokumentiert auf einer kleinen Karte, die unsere Stadt zeigt.
Und Freitag? Mit klopfendem Herzen gehe ich in den Daten zwei Tage zurück. Die feine rote Linie zieht sich gut sichtbar durch die Stadt: Meine Wohnung. Café. Wunder-Bar. Meine Wohnung.
Was ist mit Samstag? Mein Herz klopft heftig in meiner Brust und ich kann nicht sicher sagen, ob es Angst oder Vorfreude ist, auf das was sich einige Sekunden später bestätigt. Ich atme laut aus. Es ist tatsächlich, wie ich vermutet habe. Die rote Linie zeigt es klar an: Meine Wohnung. Café. Polizeirevier.
Zwischen Freitag und Samstag gab es kein Anzeichen dafür, dass ich bei Alex war! Nicht Freitagnacht; nicht Samstagmorgen. Ich. War. Nicht. Da!
Erleichtert schlage ich meine Hände vors Gesicht und würde am liebsten vor Freude weinen. Damit kann ich doch zur Polizei gehen, oder? Obwohl, wenn ich ihnen zeige, wo ich heute war... Dumme Idee. Aber für mich steht nun fest, dass ich nicht verrückt bin. Dass ich niemanden beim Schlafwandeln umgebracht habe! Dass es einen anderen Täter geben muss. Und je mehr ich darüber nachdenke, fällt mir eigentlich nur einer ein, der es gewesen sein könnte. Allerdings muss ich erst noch einmal auf die Website, um wirklich sicher zu sein.
Aufgeregt nehme ich vor meinem PC platz und rufe THE BLIND SITE auf. Dort gehe ich auf das F&A und tippe etwas in die Suchleiste. Sofort poppt ein Fenster vor meinen Augen auf.
„Guten Tag, Kasimir. Wie kann ich dir heute helfen?"
Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt wie immer höflich und nett. Ich lehne mich im Stuhl zurück und antworte ihr.
„Hallo Roberta, ich habe eine Frage zu meinen Zugangsdaten. Kannst du mir weiterhelfen?"
„Das sollte kein Problem darstellen. Möchtest du deine Frage selbst formulieren oder soll ich dir die gängigsten Anfragen zur Auswahl zeigen?"
„Ersteres", wähle ich und überlege kurz. „Wie kann ich mich in meinen Account einwählen?"
„Welches Medium möchtest du benutzen?",
will die Stimme wissen.
„Die App", entscheide ich.
„Du kannst deine App mit Hilfe deines Usernamens und deines Passwortes öffnen. Alternativ kannst du die App durch deinen Fingerabdruck entsperren, wenn dein Smartphone diese Funktion unterstützt. Beantwortet dies deine Frage?"
„Wenn ich mein Passwort vergessen habe, wie kann ich meinen Account dennoch öffnen?", frage ich weiter, denn die bisherige Antwort befriedigt mich noch nicht.
„Du kannst dein Passwort über die ‚Passwort Vergessen-Funktion' zurücksetzen lassen. Diese Möglichkeit wird innerhalb von 24 Stunden aktiviert."
„Geht das auch schneller?" hake ich nach.
„Leider nein. Dies ist eine Sicherheitsmaßnahme gegen unbefugtes Eindringen",
antwortet die KI.
„Und kann es trotzdem vorkommen, dass sich jemand unbefugt Zugriff auf meinen Account verschafft? Jemand vom Kundenservice, vielleicht?", mutmaße ich.
„Unser Kundenservice hat zu
keiner Zeit Zugriff auf deine Daten.
Eine Ausnahme stellt lediglich die
„Gefahr in Verzug"-Klausel dar,
die es in seltenen Fällen erlaubt,
Daten an Behörden, wie der Polizei
oder der Steuerbehörde, weiterzugeben",
erklärt Roberta.
„Das bedeutet, mein Account kann nicht gehakt werden?", fasse ich zusammen.
„So ist es. Habe ich deine Frage zu deiner
Zufriedenheit beantwortet,
oder hast du weitere Fragen?"
„Danke, das war dann alles", antworte ich gefasst.
Ich bin mir nun ziemlich sicher. Der Einzige, der zu meinem Account Zugang gehabt hatte, war:
Darell!
Nur diese Klausel in den AGB hat es dem dicken Darell ermöglicht, auf meinen Account zuzugreifen und diese ominöse Nachricht zu schreiben. Es kann nicht anders gewesen sein!
Ich wundere mich, warum mir das noch nicht früher eingefallen ist. Er ist seit Anfang an mit den Fällen betraut; seinen Namen habe ich bei meiner Recherche in einem sehr frühen Artikel gelesen. Zu dem Zeitpunkt konnte ich nur mit dem Namen nichts anfangen. Und er hätte als Polizist alle Möglichkeiten gehabt, sich an die Opfer heranzumachen.
Vielleicht hat er vorgegeben, sie zu beschützen. Sie hätten ihn natürlich bereitwillig in ihre Wohnungen gelassen, nachdem er seine Marke gezeigt hat. Groß und schwer genug ist er auch, er weiß, wie man Beweise verschwinden lässt und kann sicherlich auch im Nachhinein noch Dinge regeln, wenn man ihm zu nah kommt.
Wie ein Tiger laufe ich inzwischen in meinem Zimmer auf und ab und versuche all die Puzzleteile zusammenzufügen.
Ich denke an die Szene im Revier und sein komisches Verhalten mir gegenüber. Er hat mich im Verhörraum vorgeführt, weil er mich als Sündenbock herausgesucht hat. Deshalb hat er mir auch das Tatortfoto gezeigt, damit ich auf dem gleichen Stand bin wie er und die Polizei in einen Lügendetektortest mich nicht mehr danach fragen kann.
Und die Moser denkt bestimmt nur, dass er ein Stümper ist, genauso wie die Tageszeitung, der er bestimmt das Detail mit den Augen gesteckt hat.
Ah, es ist alles so logisch, freue ich mich fast. Der Fall scheint endlich aufgeklärt zu sein.
Aber was mache ich jetzt mit dieser Info? Zur Polizei kann ich nicht so einfach gehen, ohne nicht vielleicht Darell in die Arme zu laufen. Am besten gehe ich zu Theo und frage ihn um Rat! Wahrscheinlich fragt er sich schon, wo ich bleibe. Ich bin heute Morgen so schnell abgehauen, dass ich ihm nicht mal meine Telefonnummer hinterlassen habe.
Wahrscheinlich denkt er jetzt, dass ich es gar nicht ernst gemeint habe mit ihm und das möchte ich nun wirklich nicht. Ich mag Theo. Im Gegensatz zu den Männern, denen ich sonst begegne, gefällt mir seine zurückhaltende Art. Er findet immer die richtigen Worte und natürlich gefällt er mir auch optisch. Das Universum hat bei ihm ganze Arbeit geleistet.
Ob ich mich noch ein zweites Mal an meinen Bewachern vorbeischleichen kann?
Mit einer großen Frischhaltedose, in die ich provisorisch ein paar Kekse gepackt habe, marschiere ich zum zweiten Mal an diesem Tag zu dem Haus meiner Nachbarin hinüber und spüre förmlich, wie die beiden Polizisten im Van mich beobachten. Am Haus angekommen stöbere ich mit der freien Hand in meiner Hosentasche nach der Pril-Blume, um die Eingangstür aufzuschließen, als ich plötzlich Schritte hinter mir höre, die langsam näherkommen. Wieso findet man eigentlich immer dann nicht, was man sucht, wenn man es am dringendsten benötigt?
Die Geräusche von Schuhen auf Steinboden sind nun schon sehr nah und ich überlege kurz, ob der Schlüssel vielleicht in der linken Hosentasche ist. Hastig nehme ich die Plastikdose in die rechte Hand und greife hinein. Bingo!
Schnell reiße ich die Hand nach oben und merke zu spät, dass der Schlüssel sich im Stoff meiner Hose verhakt und als ich etwas zu heftig an der Blume ziehe, der Schlüssel abreißt und durch den Schwung der Bewegung im hohen Bogen aus der Tasche fliegt. Klirrend fällt er hinter mir zu Boden.
Plötzlich ist es totenstill, die Schritte verhallt. Wer auch immer sich die letzten Sekunden auf mich zubewegt hat, muss nun direkt hinter mir stehen und ich habe keine Chance zu fliehen. Mit klopfendem Herzen drehe ich mich um.
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