11 | Die Bar

Die Wunder-Bar ist ein gemütliches Fleckchen. Ja, so kann man das schon sagen. Wir sitzen uns an einem Tisch für vier auf zwei, mit festen, roten Polstern bespannten, Bänken gegenüber; eine gedämpftes Licht verteilende Laterne über, und eine alte Backsteinmauer neben uns.

An dem langen Bartresen aus Holz steht ein Kellner, der in seiner schwarzen Weste aussieht wie aus der Bierwerbung, und an der breiten Wand dahinter strahlen die Spirituosen verführerisch im warmen Licht einer versteckten Hintergrundbeleuchtung.

„Wieso ist mir diese Bar vorher nicht aufgefallen?", frage ich mehr mich selbst als meine Begleitung.
„Vielleicht, weil du vorher nicht genau hingesehen hast?", vermutet Theodor und schiebt mir eine Getränkekarte herüber.
„Vermutlich", antworte ich und klappe die Karte auf. Zu meiner Freude stelle ich fest, dass die Auswahl gigantisch ist. Ich glaube, hier könnte ich alles bekommen, was ich mir wünschen würde.

„Ich denke, wenn man zu lange irgendwo wohnt, verlernt man manchmal auf Veränderungen zu achten", geht es mir durch den Kopf und meine Gedanken verlassen automatisch meinen Mund. „Und dann gewöhnt man sich so schnell daran, dass man danach gar nicht mehr genau sagen kann, wie es eigentlich vorher gewesen ist."

Ich sehe auf und blicke in Theodors grinsendes Gesicht. Wer findet noch, dass ich zu viel rede? „Normalerweise bin ich nicht so eine Labertasche", entschuldige ich mich.
„Ach was, ich finde es ganz wunderbar, dass du so gesprächig bist", grinst er und ich muss laut lachen, als mir auffällt, dass er den Namen der Lokalität in seinen Satz eingebaut hat. „Geht doch", grinst Theodor und legt seine Hand in die Mitte des Tisches. Will er, dass ich danach greife?

„Was trinkst du?", fragt er und sieht mich dann interessiert an.
„Ich weiß es noch nicht. Was nimmst du?", stelle ich die Gegenfrage.
„Ehrlicherweise wüsste ich gerne aus deinem Mund, ob du eher der Bier- oder Wein-Typ bist", erwidert er und ich spüre, wie sein Bein meines zufällig unter dem Tisch streift. Eine leichte Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus.

Was er wohl erwartet? Bin ich ein Bier-Typ? Klar, beim Fernsehen, in der Bar mit Freunden und am Feierabend trinke ich sehr gerne ein herbes Bier.
Aber Rotwein, bei einem romantischen Abendessen und Weißweinschorle, in einer lauen Sommernacht auf der Veranda, zollen diesen Momenten mehr Aufmerksamkeit, als Bier das könnte.

Jetzt grade fühle ich weder das eine, noch das andere. Ich horche in mich hinein. Ist es nicht auch egal, was ich sonst bevorzuge?

Sollte die Frage nicht eher sein, was ich jetzt will?

Meine Augen wandern zu Theodor, der seinen Blick in die Karte versenkt hat und erst aufsieht, als er sich beobachtet fühlt. Seine Augen treffen meine und dann weiß ich, was ich will.
„Ich nehme einen Cocktail. Den Swimmingpool!"

Wie auf Kommando steht ein Kellner neben uns und notiert meine Bestellung. „Gin Tonic", bestellt Theodor und klappt dann die Karte zu. Als der Kellner verschwunden ist, stütze ich mein Kinn auf meinen Händen ab, und sehe Theodor tief in die Augen.

„Darf ich dich was fragen, Theo", rutscht es mir raus und ich sehe an seinem Blick, dass er nicht damit gerechnet hat, dass ich ihm gleich am ersten Abend einen Spitznamen verpasse.
„Oder ist dir Ted lieber", schiebe ich schnell hinterher. Jetzt ist es eh zu spät.
„Ted nennen mich eigentlich nur meine Freundinnen", sagt er und zieht dabei schelmisch einen Mundwinkel nach oben. „Aber da ich grade keine habe, ist der Name zurzeit nicht besetzt", setzt er nach und fügt den anderen Mundwinkel für ein Lächeln hinzu.

Verdammt, ich fühle schon, wie mein Kopf schon wieder heiß wird. Das liegt an der Lampe, oder? Ist die nicht sehr warm? Immerhin steckt dort eine echte Kerze in der Laterne.

„Darf ich dich dann auch bei deinem Spitznamen nennen?", fragt Theo neugierig und stützt nun auch seinen Kopf auf den Händen ab. Ein paar schwarze Strähnen fallen in sein Gesicht.
Mein Herz beginnt spürbar zu klopfen, als ich realisiere, dass er meine Haltung spiegelt. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass dies ein Zeichen für Sympathie ist.
„Simi", flüstere ich fast.
„Theo, fürs Erste", bietet er mir an und ich spüre erneut sein Bein an meinem. Fürs Erste...

Als unsere Getränke kommen, verstecke ich mich erst einmal eine paar Minuten hinter meinem Cocktail. Wir reden darüber, wie es schmeckt und ich muss sagen, ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Das süße Zeug, das sich Swimmingpool nennt, tanzt auf meiner Zunge und färbt meinen Gaumen, bevor es sanft und vollmundig meinen Hals hinabfließt und sich wohlig warm in meinem Magen ausbreitet.
Die Mischung aus blaugrüner Süße und kribbeligem Magenflimmern stimmt mich mutiger, so dass ich meine Frage, die ich noch nicht stellen konnte, wieder Richtung Mund schiebe.

„Theo?", setze ich an, als ein merkwürdiges Geräusch meine Gedanken unterbricht. Ein dumpfer Glockenschlag, wie der von der alten Standuhr, die im Wohnzimmer meiner Großeltern stand, kommt aus Theos Richtung, dicht gefolgt von einem zweiten und dritten. Theo fummelt aufgeregt in seiner Hosentasche und fördert sein Handy zutage. Den vierten Schlag höre ich klar und deutlich.

„Entschuldige, das muss ich leider annehmen", sagte er und ich nicke verständnisvoll, als er aufsteht und Richtung Bar davon geht. Witzig, dass ich vor wenigen Stunden dieses Verhalten glatt als billige Ausrede abgetan hätte, aber jetzt bin ich mir sicher, dass Theo gleich wieder zurückkommen wird.

Während ich warte, nutze ich die Zeit, die THE BLIND SITE App auf meinem Handy zu öffnen. Der Timer des Dates läuft tatsächlich immer noch und ich stelle ihn aus. Sofort stellt die KI, die ich scherzhaft Roberta genannt habe, eine Frage:

„Wir war dein Date?",
fragt mich die weibliche Computerstimme.

„Enttäuschend", gebe ich an.

„Wurde das Date abgebrochen?"

Ich schaue mich kurz um und sehe neben ein paar anderen Gästen auch Theo, der nicht weit entfernt mit dem Rücken zu mir steht und stelle die Konversation vorsorglich auf Schriftverkehr. Es muss ja nicht gleich jeder erfahren, dass ich heute schon einmal abserviert wurde.

Ich tippe:

Ja.

Wer hat das Date beendet?

Alex.

Was war der Grund?

Ein anderer Mann.

Die KI antwortet nicht. Muss sie etwa überlegen? Dann erscheinen neue Worte auf dem Display.

Es gibt einen neuen Match.
Soll ich dir Kim vorstellen?

Noch so ein zweideutiger Name, denke ich.

Vielleicht später.

Okay, ich setze Kim auf deine Liste.

Kannst du Alex eine Nachricht schreiben?

Ich werde ihn fragen, ob ich eine
Nachricht von Kasimir zustellen darf.

Danke.

Gern geschehen.

Sobald ich die App geschlossen habe, taucht Theo wieder am Tisch auf. Sein Gesicht sendet eine eindeutige Botschaft.
„Du musst gehen?", frage ich enttäuscht.
„Es tut mir schrecklich leid. Ich will dich wirklich nicht allein hier zurücklassen", sagt er mit Bedauern in der tiefen Stimme.
„Schon okay", antworte ich mit einem gequälten Lächeln. „Langsam bekomme ich Übung im sitzengelassen werden."

Theo zieht eine Flunsch, wie ich sie nur von meinem kleinen Neffen kenne, wenn er um weitere Süßigkeiten bettelt. Sofort wird mein Herz weich.
„Gib mir dein Handy, ich speichere dir meine Nummer, falls du Lust auf eine Fortführung unseres Gespräches hast", biete ich an und strecke meine Hand aus. Doch er schüttelt den Kopf.

„Gib mir deines!", besteht er und ich bin zu perplex, um ‚Nein' zu sagen.
Während er etwas umständlich seine Nummer in mein Telefon speichert, kann ich nicht verhindern, wie sich Freude in meinen Bauch breit macht. Dass er mir die Zügel in die Hand gibt, ehrt mich. Er zeigt mir damit, dass es meine Entscheidung sein wird, ob ich ihn anrufe. Obwohl, er weiß sicher schon, dass ich es tun werde. Auch wenn ich meine Frage nach seinen Präferenzen nicht stellen konnte, bin ich mir sicher, dass er mich auch mag.

Wie auch immer sich das hier entwickelt, glaube ich, dass er recht behalten könnte: Es ist verrückt und es ist Glück.
Zu welchen Teilen, wird sich zeigen.

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