1011 | (Fast) Das Schlafzimmer

Meine Beine wollen nicht so, wie sie sollen. Starr stehe ich im Türrahmen und traue mich nicht, hindurchzugehen. Das Schlafzimmer liegt vor mir und vielleicht gibt es einen Hinweis auf meine Unschuld darin, doch ich kann es einfach nicht über mich bringen, es zu betreten. Ja, ich weiß, die sterblichen Überreste sind schon längst nicht mehr hier. Aber auch ohne Alex leblosen Körper, kann ich das Grauen noch immer erahnen.

Ich stelle mir vor, wie sie mit ihrem Peiniger durch diese Tür gekommen ist. Wie er sie aufs Bett geworfen hat. Wie er ihr ein Kissen auf den Mund presste, um ihre Schreie zu unterdrücken. Schreie, die auch die Nachbarn gehört und daraufhin die Polizei gerufen haben. Er muss stark gewesen sein. So stark, dass er sein voll Adrenalin gepumptes Opfer überwältigen und festhalten konnte. Erst hatte ich den Verdacht gehabt, dass der Mörder sein Opfer vielleicht betäubt, oder gefügig gemacht hatte. Aber das Detail mit dem Spiegel spricht eigentlich dagegen.

Im Bericht der Presse hieß es, der Mörder habe seine Opfer bei ihrem Todeskampf zuschauen lassen. Ich hatte das erstmal als gegeben hingenommen, doch nun fängt mein Gehirn an, zu überlegen.

Die Presse ist ja für gewöhnlich nicht am Tatort. Sie kann also nur von der Polizei erfahren haben, dass die Opfer zum Spiegel schauend aufgefunden wurden. Das könnte allerdings alles bedeuten. Entweder hatte man sie bewusst so positioniert, als sie bereits Tod waren. Oder der Täter hatte sich bei seiner Tat selbst zuschauen wollen. Die Annahme, das Opfer habe sich zusehen sollen, kam mir etwas zu weit hergeholt vor. Wie kam die Presse auf diese Idee? Gab es vielleicht einen Hinweis, den die Polizei geteilt hatte, den ich übersehen habe?

Vielleicht hatte es etwas mit den Augen zu tun, die dem Opfer herausgetrennt worden waren. Höchstwahrscheinlich hatte die Polizei ermittelt, dass dies erst nach dem Tod geschehen war und angenommen, die Augen hätten vorher noch den Zweck gehabt, etwas zu sehen! Wo waren die Augen jetzt eigentlich? Hatte der Täter diese mitgenommen? Wollte er sie vielleicht als Trophäe behalten?

Ich schaudere bei den Gedanken und ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Da ich nicht vorhabe, das Schlafzimmer zu betreten, wende ich mich unverrichteter Dinge zum Gehen. Hier werde ich wohl keine Antworten auf meine Fragen finden.

Meine Hand ist schon an der Klinke, als ich von der anderen Seite der Wohnungstür Stimmen vernehme. Sofort verharre ich in der Bewegung. Innerhalb von Sekundenbruchteilen ist mein Körper angespannt und Adrenalin durchflutet mich. Alle meine Sinne sind geschärft und ich versuche auszumachen, ob die Stimmen näherkommen oder vorbei gehen.

„Es waren bestimmt wieder irgendwelche Jugendliche, die sich einen Spaß erlaubt haben. Eine Mutprobe, oder so", höre ich eine tiefe Stimme sagen.
„Ein toller Spaß, dass wir extra hierherfahren müssen, anstatt uns mit wichtigen Dingen zu beschäftigen, wie der Ergreifung des Täters", antwortet eine Frauenstimme mürrisch. Die Stimmen kommen definitiv näher und ich habe die zweite von ihnen erkannt.

Verdammt, das ist die Moser! Bestimmt mit ihrem schmierigen Kollegen. Und sie kommen hier her; sie wollen in diese Wohnung, in die Wohnung, hinter dessen Tür ich grade stehe und in der ich mich nirgendwo verstecken kann!

In plötzlicher Panik stolpere ich einen Schritt zurück und sehe nur zwei Möglichkeiten: Entweder stürze ich, die Kapuze über das Gesicht gezogen, nach draußen, sobald sie die Tür öffnen. Oder ich verstecke mich und hoffe, dass sie mich nicht finden. Problem: Der einzige Raum, in dem ich mich verstecken kann, ist das Schlafzimmer!

Was soll ich tun? Kampf oder Flucht?

„Lass uns nur schnell nach dem Rechten sehen und dann wieder abhauen. Ich habe einen Bärenhunger", höre ich die männliche Stimme direkt von der anderen Seite vorschlagen und flüchte, so schnell und leise wie möglich in das Zimmer, dass ich nicht betreten wollte. In der Hektik habe ich zum Glück nicht viel Zeit, mir groß Gedanken zu machen und funktioniere nur noch wie im Automodus. Das Bett steht in der Mitte des Raumes und eine Tagesdecke mit bunten Blumen hängt so weit über den Rand, dass sie fast den Boden berührt. Ich werfe mich auf den Boden, rolle in zwei Umdrehungen unter das Bett und sehe grade noch, wie die Tagesdecke hinter mir zurückschwingt und fast gänzlich den Blick nach draußen verdeckt. Nur ein winziger Spalt gibt den Blick auf das Zimmer frei.

Ich ziehe meinen Körper noch ein wenig weiter unter das Bett, damit man meine Füße im Spiegel nicht sehen kann und starre dann mit klopfendem Herzen an den Lattenrost über mir. Mein Atem geht so schnell, dass ich befürchte, man wird mein Schnaufen hören, doch es gelingt mir nur schwer, mich zu beruhigen. Sogar meine Armbanduhr signalisiert mir, dass ich grade Aktivminuten sammele. Mein Herz rast tatsächlich wie nach einer Trainingseinheit. 'Ruhig atmen', denke ich und ziehe die Luft durch die Nase ein. War das zu laut? Was ist, wenn sie mich gehört haben?

Angestrengt lausche ich nach den Stimmen, die inzwischen die Wohnung betreten haben müssen. Gedämpft dringen ein paar Worte an mein Ohr. Vermutlich befinden sich die beiden Polizisten grade in der Küche oder im Bad, die auf der anderen Seite der Wohnung liegen.

Langsam scheint sich mein Puls zu beruhigen und ich versuche weiter, ruhig zu atmen und mir nicht vorzustellen, wie vor ein paar Tagen über mir ein schreckliches Verbrechen stattgefunden hat. Plötzlich höre ich Schritte.

„Hast du eigentlich schon was Neues herausgefunden, über unseren Verdächtigen?", fragt der Mann und ich sehe die schwarzen Schuhe, die in das Zimmer kommen durch den Spalt zwischen Tagesdecke und Teppichboden.

„Meine Männer beobachten ihn, seit er das Revier verlassen hat, aber bisher ist noch nichts Auffälliges passiert. Gestern Abend ist er zu einem Bekannten gefahren. Zumindest glauben wir das, denn er hat dort übernachtet", erklärt die Moser ein wenig zu enttäuscht und ich sehe ihre ebenfalls schwarzen Hackenschuhe am Fußende des Bettes vorbei zum Fenster gehen. Ihre und meine Füße sind dabei nur etwa zwanzig Zentimeter voneinander entfernt.

„Ein Komplize?", vermutet ihr Kollege und lässt sich auf dem Bett nieder. Das plötzliche Gewicht senkt den Lattenrost und lässt ihn fast meine Nase berühren. Vor Aufregung halte ich die Luft an.

„Wohl eher ein Freund. Es ist der gleiche, der ihn vom Revier abgeholt hat. Ich habe ihn auch beschatten lassen. Er arbeitet in dem Café, in dem der Verdächtige und das Opfer ihr Date hatten. Vielleicht hat er es deshalb ausgesucht, weil er dort jemanden kannte", meint die Kommissarin und geht wieder zur Tür zurück.

„Ist dir eigentlich klar, dass du mit deinem dicken Hintern auf einem Tatort sitzt?", tadelt sie ihren Kollegen. Als sich das Lattenrost hebt, atme ich laut aus, was unter dem Geächze des Polizisten zum Glück untergeht.

„Wir haben doch schon alles abgesucht. Die SpuSi war hier und hat schon alles gefunden. Alles halb so schlimm", verteidigt er sich.
„Bis auf die Augen", ergänzt sie. „Die bleiben wie immer verschwunden."

„Es muss ein krankes Arschloch gewesen sein, das den hübschen Mädchen nach dem Tod auch noch die Augen entfernt und scheinbar mitnimmt. Man sollte das Gleiche mit ihm machen!", schlägt er erregt vor.
„Dann wären wir auch nicht besser als die Verbrecher", ermahnt sie ihn scharf. Das beste Verhältnis scheinen die beiden nicht zu haben.

„Um die Verbrecher zu bestrafen, wäre mir alles recht", platzt es aus dem Mann heraus und ich spüre die Spannung zwischen der Kommissarin und dem Polizisten förmlich bis unter die dicke Decke, die mich vor ihren Blicken schützt.
„Das habe ich jetzt nicht gehört!", antwortet die Moser warnend. „Du solltest nach der Sache mit dem Tatortfoto aufpassen, was du sagst und machst, Darell, ich bin grade die Einzige, die dir noch den Rücken freihält!"

„Ach komm," flötet er versöhnlich, „wenn das geklappt hätte und er alles zugegeben hätte, hättet ihr mich gefeiert!"
„Hätte, hätte", schnauft sie ungehalten. „Stattdessen kennt ein Verdächtiger nun Informationen, die wir bisher zurückhalten konnten. Bis auf diese Stümper vom Stadtanzeiger, die ihn als Spiegelmörder betitelt haben, haben bis heute auch alle dicht gehalten", erklärt Frau Moser.

„Na komm, hier ist nichts. Machen wir Feierabend", meint der Dicke. „Ich lade dich auf ein Stück Kuchen ein."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top