1010 | Alex Wohnung

Als ich aus der Tür meines Wohnhauses komme, schlendere ich langsam und bedächtig zu dem Haus auf der anderen Straßenseite hinüber. So wie es der Zufall will, wohnt hier meine liebe Nachbarin, die grade im Urlaub ist und mich gebeten hat, ihre Blumen zu gießen und den Briefkasten zu leeren.

In der festen Annahme, dass ich von den beiden Polizisten im weißen Van bereits beobachtet werde, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und täusche ein Telefonat vor. Die Polizei soll denken, dass ich mich mit jemanden in dem Haus gegenüber meiner Wohnung treffe und mich dort eine Zeitlang aufhalte. Demonstrativ sehe ich zu den oberen Stockwerken hinauf und positioniere meine Hand an der Türklinke, als ob ich auf den Summer warten würde. Grade will ich heimlich die Tür aufschließen, als mir ein älterer Herr die Tür von innen öffnet und ich in den Hausflur schlüpfen kann.

Nun muss es schnell gehen. Ich öffne die App, um die Geodaten zu aktivieren. So kann ich später beweisen, wo ich war. Warum sollte ich nicht die Technik zu meinem Vorteil nutzen? Dann schalte ich mein Telefon auf stumm und werfe es in den Briefkasten meiner Bekannten. Da ich den Schlüssel dafür habe, kann ich es dort später einfach wieder abholen. Dann laufe ich in den Keller und durchquere den dunklen Gang, bis ich zu einer Feuerschutztür komme. Dahinter liegt die Tiefgarage und die führt, was meinen Plan so genial macht, auf der anderen Seite des Wohnblocks wieder auf die Straße.

Als ich ins Freie trete, habe ich meinen dunklen Pullover über mein auffällig weißes Shirt gezogen, eine Cappi aus meinem Rucksack geholt und eine coole Sonnenbrille aufgesetzt. Fern vom weißen Van und gut getarnt, laufe ich im Schatten der Bäume zur nächsten Bahnstation und steige in Richtung Norden ein. In vier Stationen bin ich hoffentlich schlauer als vorher...

Hier ist es: Kiefernweg 5. Die Adresse, die mir Alex im Chat geschickt hat, stimmt bedauerlicherweise mit den Geodaten aus der Datei überein. Ich bin  also hier gewesen. Oder mein Handy? Auf jeden Fall mein Account!

Das vierstöckige Mehrfamilienhaus ist wie viele in dieser Stadt aus rotem Klinkerstein und wird, wie sollte es anders sein, von zwei viel zu großen Kieferbäumen flankiert. Für mich ist es gerade von Vorteil, denn ich will mich heimlich in das Gebäude und dann in die Wohnung von Alex schleichen. Wobei ich noch nicht genau weiß, wie ich das anstellen soll.

So warte ich einen Moment lang unschlüssig vor der Tür, bis eine ältere Dame mit einem Hund und einer großen Tasche auf das Haus zu schlendert. Schnell stelle ich mich an die Tür und hole den Schlüssel meiner Nachbarin heraus. Umständlich versuche ich, ihn in die Tür zu stecken. Leise fluche ich vor mich hin: „Komm schon, du blöder Schlüssel. Die arme Mieze braucht doch ihr Futter."

„Kann ich Ihnen helfen?", fragt die Dame, als sie an der Tür ankommt und mich mit dem Schlüssel hantieren sieht.
„Oh, hallo", sage ich betont erstaunt und trete einen Schritt zurück. „Wohnen sie auch hier?", frage ich das Offensichtliche.
„Ja, aber Sie habe ich hier noch nie gesehen", antwortet sie skeptisch. Ich lächele freundlich.

„Ich wohne auch nicht hier", sage ich ehrlich. „Ich habe nur den Auftrag eine Katze zu füttern, während ihre Besitzerin im Urlaub ist", erklärte ich und halte den Schlüsselbund meiner Nachbarin in die Höhe. Neben zwei Schlüsseln baumelt eine bunte, selbst gehäkelte Pril-Blume.
„Ach, die Frau Bresser aus dem zweiten Stock", fällt ihr ein. „Da haben Sie aber ein schlimmes Los mit ihrer Bekannten gezogen." Ich übergehe den abfälligen Kommentar und setze mein Lieber-Schwiegersohn-Gesicht auf.

„Leider scheint der Schlüssel zu klemmen. Ich komme einfach nicht rein", sage ich niedergeschlagen und sehe sie bittend an.
„Na kommen Sie, ich nehme sie mit rein", lächelt die Dame plötzlich wie verwandelt und schließt die Tür auf. Und schon bin ich drin.

Das Polizeisiegel vor der Tür im dritten Stock zeigt mir unverkennbar Alex Wohnung an. In einem aktuellen Artikel des Stadtkuriers habe ich vor meinem Aufbruch gelesen, dass ein anonymer Anrufer Schreie aus der Wohnung bei der Polizei gemeldet hat. Die Tür zur Wohnung hat die Polizei aufbrechen müssen, als niemand sie trotz Klopfen und Klingeln öffnete.

Verstohlen sehe ich mich um. Die alte Dame hat zu meinem Glück den Fahrstuhl genommen und ist in den vierten Stock gefahren. Ich habe das Treppenhaus genommen und werfe nun einen Blick in den Laubengang, der Alex Wohnung mit den anderen verbindet.

Es ist mitten am Tag und wahrscheinlich sind die meisten Bewohner am Sonntag zu Hause, darum muss ich besonders vorsichtig sein. Mit einem letzten Blick auf den Gang atme ich tief ein und trete zielstrebig auf die Tür zu. Mit einem Gemüsemesser aus meiner Besteckschublade durchtrenne ich das Siegel und drücke die Tür mit dem Unterarm auf, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. In der Wohnung ziehe ich mir die Gummihandschuhe über, die ich sonst zum Abwaschen benutze und schließe die Tür hinter mir.

Nun stehe ich in einem engen Flur und die Wohnung dahinter sieht bis hierhin noch ganz normal aus. Nichts lässt auf einen brutalen Mord schließen. Aber laut des Fotos, müsste ich mich dafür auch ins Schlafzimmer begeben.

Ich sehe mich gründlich im ersten Raum um, stelle mir vor, wie hier vorgestern ein Besucher die Wohnung betreten und was er wohl danach getan hat. Mein Blick wandert über die Einrichtung, die sowohl geschmackvoll als auch nicht zu überladen wirkt. Mein Blick bleibt am Sofa hängen. Auf dem Couchtisch steht ein halbleeres Glas Wein. Ein Kissen liegt davor auf dem Boden.
An verschiedenen Plätzen in Zimmer stehen grelle Marker mit Nummern, welche die Beweise kennzeichnen, die von der Polizei gefunden wurden.

Plötzlich wird mir die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst. Bisher konnte ich die Bilder aus dem Verhörraum ganz gut zurückdrängen, doch nun scheint sie mich zu überrollen; die Gewissheit, dass in dieser Wohnung vor zwei Tagen ein Mord stattgefunden hat! Und das Opfer wahrscheinlich keine Chance gehabt hatte.

Scham darüber, dass ich mich an einem Tatort befinde, steigt in mir auf und ich versuche zwanghaft mich auf meine Mission zu konzentrieren: Beweise für meine Unschuld zu finden und somit dem eigentlichen Mörder ein bisschen näher auf die Schliche zu kommen.

Der Wein auf dem Tisch erinnert mich an den gestrigen Abend bei Theo. Vielleicht hatte Alex auch noch ein Date, und dieses Date hat sich in ihren THE BLIND SITE-Account gehackt und ich war das arme Schwein, dass er sich als Sündenbock auserkoren hat. Es könnte jeder sein!

Vorsichtig, damit ich keine Spuren hinterlasse, gehe ich durch das Wohnzimmer, lasse meinen Blick über Möbel und Gegenstände wandern und entdecke eine Vorrichtung für einen Vogelkäfig, die am Fenster steht. Der Käfig ist verschwunden, doch auf der Fensterbank steht noch eine angebrochene Packung Vogelfutter. Wahrscheinlich hat die Polizei das Tier mitgenommen und ins Tierheim gebracht.

Ich will mich grade weiter umsehen, als ich stutze. Das Vogelfutter zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, denn auf der Packung prangt ein blau-weiser Piepmatz, der offensichtlich kein Kanarienvogel ist. Ich kenne mich nicht allzu gut aus mit Vögeln, aber den Unterschied erkenne ich doch. Auch die Aufschrift bestätigt mir: Das ist ein Wellensittich! Hatte Alex nicht einen Kanarienvogel? Oder hatte ich das durcheinandergebracht? Und warum schien mir das ein wichtiges Detail zu sein?

Mit geschärften Sinnen setzte ich meinen Streifzug durch die Wohnung fort. Ich entdecke Fotos von Alex mit ihrer Familie, aber nie mit einem anderen Mann. Wenn sie einen Freund gehabt hat, gab es hier keine Bilder mehr von ihm.
Als ich am Bücherschrank vorbeigehe, fahren meine Finger automatisch an den Buchrücken entlang. Nur gut, dass ich die Gummihandschuhe übergezogen habe. Merkwürdig, alle Bücher stehen schnurgerade ausgerichtet an der Regalkante... Nein, das ist ein Zufall! Es gibt bestimmt Millionen Menschen, die diesen Tick haben, das muss gar nichts heißen!

Und doch gehe ich nun mit einem anderen Blick durch die Räume. Bis auf das Bücherregal ist es hier nicht akkurat ordentlich. Es liegt Staub auf dem Fernseher, es gibt Tassenflecken auf dem Couchtisch und in der Küche stehen die Kochbücher wild durcheinander. Es beschleicht mich der Verdacht, dass es nicht Alex war, welche die Bücher im Wohnzimmer so penibel arrangiert hat.

Hier war ein Monk am Werk!

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