101 | Das Revier
„Ich bin es nicht gewesen!", wiederhole ich nun bereits zum vierten Mal. Mein Gegenüber scheint mir nicht glauben zu wollen. Obwohl er ruhig und beinahe reglos vor mir sitzt, spüre ich seine Anspannung. Der glatte, kalte Metalltisch, der uns voneinander trennt, vibriert kaum merklich unter meinen Händen und ich bin mir sicher, dass es sein nervöses Bein ist, das den Boden und damit diesen Tisch in Schwingungen versetzt.
Warum mich das Ganze grade so kalt lässt? Seit man mich in diesen weißen, beinahe leeren Raum ohne Fenster gebracht und mir für das Verhör Handschellen angelegt hat, habe ich auf Abwehr-Modus geschaltet. Ich bin normalerweise durchaus gewillt mich kooperativ zu verhalten, aber die Art und Weise, wie mich der Bullige mit den fettigen Haaren vor allen Leuten aus dem Café geschleift hat, gefiel mir gar nicht. Deswegen sitze ich jetzt hier, mit versteinertem Gesicht, und warte, bis die Prozedur vorbei ist.
„Wenn Sie nicht endlich reden, werden Sie die Nacht im Gefängnis verbringen!", blafft er mich ungeduldig an und Tropfen von Spucke landen auf dem Tisch. Angeekelt bringe ich meine Hände in Sicherheit.
Als ich beharrlich schweige, schüttelt der Dicke entnervt den Kopf und fummelt umständlich ein Handy aus seiner Hosentasche.
„Dann wollen wir doch mal sehen, was du dazu sagst!", brummt er und knallt das Telefon auf den Tisch. Dann wischt er einmal mit dem Finger über das Display und auf der verspiegelten Scheibe hinter ihm, erscheint plötzlich ein Bild. Es ist so groß, dass ich eine ganze Sekunde brauche, um es zu erfassen:
Es scheint eine Szene aus einem Schlafzimmer zu sein. Das Foto zeigt einen Körper, der auf dem Bett liegt. Doch die Umrisse des Körpers sind unscharf. Meine Augen suchen den Fokus und landen am Ende des Bettes, an dessen Wand ein großer Kleiderschrank steht. Die Türen des Schrankes sind aus Spiegelglas und nun sehe ich es: In der Mitte des Bildes spiegelt sich etwas, das abgeknickt vom Rand des Bettes hinunter hängt, in den Schranktüren. Ich erkenne einen Kopf, dessen leere Augenhöhlen mich durch das Foto hindurch anzustarren scheinen.
Auch ohne Augen als Anhaltspunkt ist mir nun klar, das war Alex!
Eine eisige Hitzewelle schwappt über meinen Körper und möchte das Frühstück am liebsten auf direktem Wege wieder ans Tageslicht bringen.
Ich brauche eine Weile, bis ich mich wieder gefangen habe und mich traue, aufzusehen. Zu meiner Erleichterung hat der Dicke das Bild von der Scheibe wieder in sein Telefon eingesperrt.
„Redest du nun endlich oder soll ich dir den Rest auch noch zeigen?", fragt er sichtlich amüsiert über meine deutliche körperliche Reaktion und scheint nicht zu verstehen, dass ich keinerlei Befriedigung dabei verspüre, mir solch einen schrecklichen Tatort anzusehen.
Noch bevor ich dem Bulligen antworten kann, klopft jemand heftig gegen den großen Spiegel hinter ihm. Sicherlich ist das eine von diesen Scheiben, hinter der sich eine ganze Armada von Polizisten verbirgt.
Der Dicke lässt einen Fluch aus, als einer von ihnen nun tatsächlich durch die Tür kommt, um den Kotzbrocken abzulösen. Ich sehe interessiert in die Richtung und muss mich korrigieren: Es ist eine Polizistin. Mal sehen, ob sie nun der gute, oder ein noch böserer Cop ist. Sie wirft ihrem Kollegen einen eiskalten Blick zu und ich sehe, dass er für einen kurzen Moment ein wenig kleiner wird; mir dann einen ebenso finsteren Blick zuwirft und beim Hinausgehen schwungvoll die Tür hinter sich schließt, so dass der laute Knall mich kurz zusammenfahren lässt.
Die Frau mit den kinnlangen roten Haaren scheint davon völlig unbeeindruckt zu sein und stellt den Stuhl ein Stück näher an den Tisch, bevor sie sich setzt.
„Herr Renner, ich bin Kommissarin Moser, von der Mordkommission", stellt sich die attraktive Frau mit der viereckigen Brille vor. Sie scheint mir ein wenig besser gesonnen zu sein als ihr Kollege, doch ich registriere auch, wie sie mich misstrauisch scannt: Ihre Augen wandern über meine Hände, hoch zu meinen Armen und bleiben dann auf meinem Gesicht liegen. Dann sieht sie mir in die Augen.
„Entschuldigen Sie!", bricht sie das Schweigen und ich spüre erst jetzt, dass ich die letzte halbe Minute die Luft angehalten habe. „Ich bin erst eben darüber informiert worden, warum man sie hier festhält. Dennoch bin ich mir nicht ganz sicher, ob Sie das auch so genau wissen", sagt sie und sieht mich fragend an. Als ich nicht antworte, spricht sie weiter.
„Ihrer deutlichen Reaktion nach zu urteilen, hat Sie das Bild, das mein Kollege Ihnen gezeigt hat, nicht kalt gelassen", stellt sie sachlich fest.
„Ist das wirklich Alex?", löse ich schließlich mein Schweigen. Ich will immerhin wissen, was hier los ist und vielleicht bekomme ich durch die Kommissarin endlich antworten.
Tatsächlich gibt sie mir bereitwillig Auskunft. „Ihr Name war Aleksandra Schubert. Sie hat gestern Abend ihrem Mörder bereitwillig ihre Wohnungstür geöffnet, bevor er sie kaltblütig umbrachte. Und Sie, Herr Renner, waren der Letzte, mit dem sie Kontakt hatte, bevor sie starb. Wir haben ihre Nachrichten auf ihrem Handy gefunden und sie wussten demnach auch, wo sie wohnt."
„Moment!", fahre ich der übereifrigen Frau Moser nun dazwischen. „Wenn sie auf diese Nachricht im Chat anspielen, die habe ich nicht geschrieben! Ich habe erst heute Morgen gesehen, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Und die davor, war nicht von mir! Ich hatte gar keinen Grund, das zu schreiben!", plappere ich nun darauf los.
„Ach ja, warum hatten sie keinen Grund?", fragt sie beiläufig, aber ich merke, dass ich besser die Klappe halte, bevor ich noch einen Fehler mache und tatsächlich im Gefängnis lande.
„Ich will meinen Anwalt sprechen!", fordere ich entschlossen. Nicht dass ich einen Anwalt hätte. Welcher Student hat mit Mitte zwanzig schon einen Anwalt? Aber ich hoffe, dass ich dadurch etwas Zeit zum Nachdenken gewinne. Und die gute Moser weiß auch, dass sie mich ohne konkrete Beweise nicht allzu lange festhalten darf.
„Ich würde mich sehr freuen, Herr Renner, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten würden", bittet sie schon fast freundlich.
„Und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir die Handschellen abnehmen würden", antworte ich ebenso gespielt herzlich.
Ein winziges Lächeln huscht über ihre mit Rouge gefärbten Wangen. „Natürlich. Da war mein Kollege wohl etwas übereifrig", gibt sie zu und schickt dann einen tadelnden Blick Richtung Spiegelscheibe. Mit geübten Fingern öffnet sie meine Fesseln und legt diese, wie als stille Warnung, in die Mitte des Tisches. Ich reibe mir über die Handgelenke und hoffe, dass dies das letzte Mal gewesen ist, dass ich diese Dinger außerhalb eines Rollenspiels tragen muss.
„Wo waren Sie gestern, zwischen 22 Uhr und Mitternacht?", fragt Frau Moser, unbeeindruckt von meinen Schmerzen. Weil ich endlich hier raus will, entscheide ich, das Spiel mitzuspielen.
„Ich war bei mir zuhause und habe geschlafen", antworte ich trocken.
„Und sie waren allein?"
„Ja." Das ‚leider' spare ich mir hier besser.
„Dann haben sie kein Alibi für die Tatzeit."
„Ich bin wohl nicht der Einzige in dieser Stadt, der die Nacht allein verbracht hat!", kontere ich und kann mir nicht verkneifen einen Blick in Richtung ihrer rechten, ringlosen Hand zu schicken. Das mag zwar gar nichts bedeuten, aber ihre Arroganz ärgert mich.
„Sie wohnen in der Schwalbengasse. Nicht grade weit entfernt vom Tatort", stellt sie fest.
Immerhin vier Bahnstationen, denke ich.
„Keine Ahnung, so gut kenne ich mich in dieser Stadt auch nicht aus!", antworte ich patzig.
„Sie waren vorher noch was trinken, in der Wunder-Bar", merkt sie an.
„Muss ich das bestätigen?", frage ich provokativ nach. Langsam reicht es mir. Wenn sie etwas gegen mich in der Hand hätte, würden wir hier nicht mehr sitzen.
„Nein, müssen sie nicht, wir besorgen uns einfach die Kontoauszüge", meint sie trocken.
Verdammt, darf sie das so einfach, oder blufft sie? Und woher weiß sie so schnell, dass ich da war? Vermutlich aus den Geodaten meiner App, schießt mir in den Kopf. Dort habe ich ja offiziell mein Date mit Alex beendet.
„Wenn Sie meine Geodaten haben, dann müssen Sie doch auch wissen, dass ich an dem besagten Abend zuhause war und nicht der Täter sein kann!", stelle ich klar. Immerhin lügen Daten nicht.
„Das kann ich leider so nicht bestätigen. Ihre Daten zeigen eindeutig unterschiedliche Standorte an", entgegnet sie. Das kann ich gar nicht glauben! Ich bin die ganze Zeit bei mir in der Wohnung gewesen!
„Sie bluffen", schreie ich sie zornig an. Meine Beherrschung habe ich nun endgültig verloren. „Wenn das stimmt, warum legen Sie keine Anklage vor?" Jetzt habe ich sie. Ihr Auge zuckt ein wenig, bevor sie sich strafft. „Geodaten aus dieser App sind nur auf etwa 150 Meter genau und reichen ohne weitere hinreichende Beweise nicht aus, um sie länger als 24 Stunden hier festzuhalten", gibt sie frustriert zu.
„Gut. Dann möchte ich jetzt gehen", sage ich entschieden, traue mich aber nicht, aufzustehen. Erst als die Kommissarin nickt und an die Scheibe klopft, erhebe ich mich.
„Sie dürfen die Stadt nicht verlassen", befiehlt sie und begleitet mich aus dem Verhörraum nach draußen auf den Gang und bis ins Foyer. „Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung", sagt Frau Moser noch, bevor sie sich umdreht und wieder in den Tiefen des Gebäudes verschwindet.
Das war ja jetzt einfach, denke ich überrascht und bleibe noch ein paar Sekunden lang einfach im Raum stehen.
Als ich plötzlich Schritte hinter meinem Rücken näherkommen höre, verkrampfe ich innerlich. Was, wenn sie noch nicht mit mir fertig sind? Eine große Hand landet von hinten auf meiner Schulter und eine tiefe Stimme löst endlich die Anspannung von mir.
„Da bist du ja endlich! Ich habe mir Sorgen gemacht!" Erleichtert drehe ich mich zu Theo um.
„Was machst du hier?", frage ich überrascht und sehe dann deutlich die Besorgnis in seinem Gesicht. Er scheint wirklich wegen mir hier zu sein.
„Hallo?!", sagt er aufgeregt. „Du wurdest aus meinem Café von der Polizei abgeführt. Da kann ich doch nicht einfach weitermachen und so tun, als hätte ich es nicht gesehen! Was ist denn überhaupt passiert? Geht es dir gut?"
Seine Sorge holt meine angestauten Gefühle der letzten Stunden hervor. Spontan umarme ich ihn. Meine Hände vergraben sich hinter seinem Rücken in seinem Pullover und mein Kopf sinkt gegen seine breite Schulter. Ich brauche jetzt einfach etwas Nähe.
„Sie glauben, dass ich Alex umgebracht habe!", stoße ich hervor und höre, wie brüchig meine Stimme plötzlich klingt. Ich erwarte, dass er mich wegstößt, doch er drückt mich fest an sich. Seine Stimme klingt fest und sanft zugleich. „Ich glaube nicht, dass du so etwas tun könntest!", flüstert er nahe an meinem Ohr.
„Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht", sage ich trotzig, weil die ersten Tränen sich aus meinen Augenwinkeln lösen und ich Angst habe, Theo in die Geschichte mit reinzuziehen.
„Ich weiß es einfach", flüstert Theo vertraut und streichelt mir kurz über meine verwuschelten Haare.
„Komm mit zu mir. Dann kannst du mir alles erzählen."
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