1001 | Profiling
Der Traum, aus dem ich eben erst erwacht bin, hält mich noch immer gefangen, als ich schließlich die Augen aufschlage und mich lautstark recke. Es war eine merkwürdige Nacht. Ich erinnere mich nur bruchstückartig an einige Szenen und kann dabei gar nicht genau sagen, ob es Erinnerungen aus der Erfahrung oder aus meinen Gedanken sind. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist bereits halb zehn. Was? Halb zehn?
Erschrocken setze ich mich auf. Welcher Tag ist heute? Und wo bin ich? Meine Augen wandern hektisch durch das Zimmer, das nicht meines ist. Weiße Wände, weiße Möbel, weiße Bettwäsche. Neben mir liegt ein dunkler Haarschopf. Das Laken liegt nur provisorisch auf dem durchaus attraktiven Körper. Die Rückenmuskulatur ist durchtrainiert und die Arme sehen ohne Hemd und Pullover noch viel definierter aus.
Moment! Habe ich auch nichts an? Fast schon in Zeitlupe sehe ich an mir hinunter. Fuck! Was war hier gestern los? Warum bin ich noch hier, ich wollte doch ein Taxi nehmen!
Nicht, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, die Nacht mit Theo zu verbringen. Aber doch nicht beim ersten Date. Und auch nicht so, dass ich mich am nächsten Tag nicht mal mehr daran erinnern kann!
Was war nur los mit mir? Warum hatte ich erneut ein Blackout? Warum hatte mein Gehirn die letzte Nacht aus meinen Erinnerungen gestrichen?
Ich muss hier raus, will nicht warten, bis Theo aufwacht. Ich will wissen, was hier vor sich geht, was mit mir los ist! Aber Antworten auf diese Fragen werde ich wohl kaum hier bei einem beinahe Fremden finden.
Leise ziehe ich mich an, schlüpfe in meine Schuhe und verlasse die Wohnung.
Immer noch ungläubig, was letzte Nacht passiert sein soll, komme ich in meiner Wohnung an. Der erneute Gedächtnisverlust hat mich unsicher gemacht. Kann es sein, dass ich tatsächlich, im festen Glauben zu schlafen, Dinge getan habe, an die ich mich danach nicht mehr erinnere?
Ich sehe mich um und frage mich, ob das hier die Wohnung eines Mörders sein könnte. Ein ungemachtes Bett; ein Haufen Wäsche daneben; dreckige Gläser und Teller in der Spüle. Im Spuren verwischen wäre ich sicherlich nicht so gut. Obwohl, auch Chaos verdeckt Spuren, oder?
Wieso mache ich mir darüber Gedanken, verdammt?!
Ich bin kein Mörder. Ich kann sowas gar nicht. Ich nicht!
Oder doch?
Wütend, dass ich es überhaupt in Betracht ziehe, lasse ich mich aufs Bett fallen und starre an die Decke. Theo hat mir diesen Floh ins Ohr gesetzt, schießt es mir durch den Kopf. Weil ich die Manipulation meines Accounts ausgeschlossen habe, überlege ich weiter. Warum eigentlich? So abwegig ist es doch gar nicht, oder?
Eine Idee schießt mir in dem Kopf und ich raffe mich auf, um mich an den Rechner zu setzen. Ich gehe auf mein THE BLIND SITE-Profil und versuche irgendeinen Anhaltspunkt dafür zu finden, dass ich Opfer eines Hacker-Angriffs geworden bin.
Zuerst gehe ich in meine Einstellungen. Hier finde ich auch die Einwilligung zur Weitergabe meiner Geodaten. Interessiert lese ich, was ich vor ein paar Wochen ohne große Prüfung bestätigt habe. Ein paar Details sind mir bereits aus der Nachricht des Support-Teams bekannt. Doch dann stolpere ich über einen sehr interessanten Absatz:
„Geodaten werden via WLAN und/oder durch die Nutzung eines Mobilfunknetzes (Gebühren können anfallen), beim Öffnen und Schließen der App und/oder durch Interaktion mit anderen Teilnehmern übertragen. Geodaten können immer einem Account und einer IP-Adresse zugeordnet werden. Die Daten werden bis zu sechs Monate gespeichert und können, im Falle eines „Gefahr in Verzug"-Momentes den Behörden zugänglich gemacht werden."
„Interaktionen mit anderen Teilnehmern...", wiederhole ich die Passage, die mir ins Auge gestochen ist. Welche Interaktionen hatte ich mit Alex? Zuerst rufe ich unseren Chat auf. Dort finde ich die mir bereits bekannten Nachrichten.
„Ich habe grade gesehen, dass du dem Date zugestimmt hast 😄 Ich freue mich schon darauf, dich persönlich kennen zu lernen. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht 🙈."
„Ich glaube nicht, dass du mich enttäuschen könntest, Alex 😉 Ich denke, wir haben mehr gemein, als mir lieb ist 🙈."
„Kasimir möchte dir eine Nachricht schicken. Zum Bestätigen, klicke bitte HIER"
„Alex kann nun Nachrichten von dir empfangen."
„Hallo Alex, es tut mir sehr leid, wie das Date heute im Café gelaufen ist. Ich würde mich gerne persönlich bei dir entschuldigen und finde, wir sollten uns noch eine Chance geben ❤️"
„Das ist sehr lieb von dir! Ich habe mich auch falsch verhalten. Lass uns reden. Meine Adresse ist Kiefernweg 5. Klingel einfach bei Schubert. Bis gleich ❤️"
Oh man, das habe ich ja ganz vergessen! Nach dem abgebrochenen Date hatte mir die Seite automatisch eine Nachrichtensperre verhängt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass mir das passiert war, deshalb habe ich dem Ganzen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aber nun fiel mir auf, dass Alex erst eine Stunde nach meiner Nachricht die Sperre aufgehoben hatte und ich wohl sehr schnell danach eine Nachricht an sie geschrieben habe. Aber wie ich mit Theo schon festgestellt habe, muss ich zu diesem Zeitpunkt bereits geschlafen haben. Zumindest ist es das, woran ich mich erinnere...
Mein Gehirn rattert. Irgendetwas stört mich an den Nachrichten. Mal abgesehen davon, dass ich sie nicht geschrieben habe, natürlich. Vielleicht finde ich weiter oben im Chatverlauf einen Hinweis. Doch bis auf das hin und her der Nachrichten und Dutzenden Smileys, kann ich nichts Auffälliges finden.
Halten wir fest: In meinen Geodaten muss hinterlegt sein, wo ich zu den Zeitpunkten gewesen bin, als ich das Date beendete, den BOT nach einer Einwilligung fragte und Alex angeblich die Nachricht schickte. Die ersten beiden Punkte konnte ich klar beantworten, nur für den letzten brauchte ich eine Antwort.
Zu meinem Glück sind meine Geodaten auf der Website leicht zu finden und ich klicke die Datei mit den Daten der letzten Woche an. Solange mein Rechner die Datei herunterlädt, widme ich mich dem sogenannten DATE PLANNER. Hier haben Alex und ich unsere Wünsche für ein potenzielles Date festgelegt und bestätigt, dass wir uns treffen wollen. Meine Auswahl lief auf Café, Park oder Eisdiele hinaus. Alex wählte ebenfalls das Café, so dass wir eines in der Nähe zugewiesen bekamen.
Den Timer für das Date aktivierte ich um exakt 18:08 Uhr. Natürlich war ich pünktlich und wartete auf Alex. Ich nahm sie erst gar nicht wahr, als das Glöckchen über der Tür klingelte und sie das Café betrat. Erst, als die junge Frau an meinen Tisch kam und mich mit einem etwas verlegenen Lächeln ansah, fiel bei mir der Groschen.
Sie sprach mich mit Namen an und entschuldigte sich für die Verspätung, allerdings nicht für die Vortäuschung eines Penisses. Höflicherweise tat ich das auch nicht und wir orderten einen Kaffee. Hatten wir eigentlich bei Theo bestellt?
Angestrengt suche ich in den Tiefen meines Gedächtnispalastes nach der Information, ob mir Theo da schon aufgefallen war. Seine Augen wären mir sicherlich in Erinnerung geblieben, oder?
Heterochromie! Das war das Wort dafür! Ein sehr seltenes Phänomen, bei dem die Regenbogenhaut der Augen eine unterschiedliche Pigmentierung aufweist. Sie tritt häufiger bei Hunden auf und ist harmlos. Aber wieso kommt mir das jetzt wieder in den Sinn? Das war wohl die falsche Schublade meines Gehirns. Konzentrier dich gefälligst, ermahne ich mich.
Okay, ich stellte also den Timer und legte das Handy beiseite. Erst um 20:59 Uhr wurde er wieder beendet. Da war Theo grade zum Telefonieren weg gegangen. Mit wem hatte er eigentlich gesprochen? Das habe ich ihn gar nicht gefragt, fällt mir auf. Und auch nicht, wohin er danach so eilig verschwunden ist. Muss ja was Dringendes gewesen sein, unsere Verabredung lief bis dahin doch ganz gut.
Während ich so über den Abend nachdenke, schleicht sich bei mir ein merkwürdiges Gefühl ein. Hat Theo vielleicht etwas mit dem Fall zu tun? Er kannte immerhin Alex und ich weiß nicht, ob er ihr vielleicht doch seine echte Nummer gegeben hatte. Vielleicht hatte sie ihn angerufen? Aber war das nicht absurd? Würde eine Frau, die grade noch ein Date mit einem anderen gehabt hatte, tatsächlich am gleichen Abend noch einen weiteren Mann anrufen, den sie grade erst kennen gelernt hatte und ihm seine Adresse geben?
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Außerdem: Theo! Er hat sich so lieb um mich gekümmert und will mir helfen, meine Unschuld zu beweisen. Es muss noch einen anderen Verdächtigen geben, es muss einfach!
Ein kleines Symbol am oberen rechten Bildschirmrand zeigt an, dass die Daten vollständig heruntergeladen wurden. Jetzt kommt der Moment der Wahrheit: Wo war ich, zum Zeitpunkt der Nachricht an Alex?
Mit klopfendem Herzen klicke ich auf 'Datei öffnen'.
Enttäuscht starre ich auf den Bildschirm. Ich hatte irgendwie mit der Erleuchtung gerechnet, doch diese '.gpx Datei' muss ich erstmal lesen lernen.
Der Dateiname zeigt an, dass es sich hierbei um meine Geodaten aus dem Chat mit Alex handelt. Seufzend hangele ich mich durch die einzelnen Segmente.
</metadata>
<wpt lat"53.618611" lon"9.376111">
<time>2030-08-16T09:57:59Z</time>
<name>unknown</name>
<sym>City</sym>
</wpt>
<wpt lat"53.550554" lon"9.960317">
<time>2030-08-16T21:02:25Z</time>
<name>unknown</name>
<sym>City</sym>
</wpt>
<wpt lat"53.9466" lon"10.44412">
<time>2030-08-16T22:04:36Z</time>
<name>unknown</name>
<sym>City</sym>
Okay, ich bin kein IT-Fachmann, aber es gibt auch für meine Augen eine gewisse Logik. Die <wpt> Daten scheinen die Koordination zu sein. Ein schneller Check im Internet gibt mir Gewissheit. Die Herleitung des Wortes Wegpunkte, macht auch Sinn. Die Zeitstempel unter <time> stimmen auch mit den Nachrichten aus meinem Chat überein. Nun wird es spannend; meine Hände kribbeln bereits.
Wegpunkt eins war mein Zuhause. Er beginnt mit 53.6. So weit so gut. Wegpunkt zwei muss die Bar sein. Hier steht 53.5 an erster Stelle. Wegpunkt drei müsste, zu meiner Entlastung, logischerweise wieder mit 53.6 starten. Ich traue mich kaum hinzusehen. Und schlucke.
Ich gehe die Daten der Reihe nach noch einmal durch. Kein Zweifel möglich. Der Wegpunkt beginnt mit 53.9. Es ist also weder mein Zuhause noch die Bar. Die Moser hat also nicht gelogen!
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Er kriecht über meinen Nacken und vergräbt sich in meinen Haaren. Ich merke, wie mir schlecht wird. Spüre, wie Panik in mir aufsteigt. Das Kribbeln in meinen Händen wird stärker, mein Magen krampf sich zusammen.
Das kann nicht sein.
Das darf nicht sein!
Aber wie sagt man so schön: Daten lügen nicht.
Aber die Daten müssen falsch sein! Vielleicht hatte doch ein Hacker meine Daten manipuliert. Wer wäre zu so etwas fähig? Einer von THE BLIND SITE? Aber was hätten die davon? Immerhin ist es schlechte PR, wenn herauskommt, dass ein Mörder seine Opfer über ihre Plattform gefunden hat.
Obwohl... war Alex die Einzige, die über die App angemeldet wesen war? Das sollte die Polizei mal herausfinden! Wenn Alex nur eine von vielen war, müsste ich doch auch mit den anderen Mädchen Kontakt gehabt haben und dem war natürlich nicht so, weil sie ja nur zufällig eine Frau war!
Erschöpft vom vielen Nachdenken, lasse ich mich wieder auf mein Bett fallen. Wenn ich doch nur in die Wohnung von Alex könnte! Vielleicht würde ich dort einen Hinweis auf den Mörder finden. Nur wie kam ich an meinen Beschattern vorbei?
'Schatten!', denke ich und bin mit einem Mal hellwach. Das ist die Lösung! Sogleich beginne ich, einen Plan zu schmieden.
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