Kapitel 6 ~ Erinnerungen

Ellie

Slytherins waren schon immer anders als die übrigen Schüler Hogwarts. Vor allem unsere Schlafräume unterscheiden sich maßgeblich von denen der anderen Häuser. Denn wir haben keine Schlafsäle, jeder Slytherin besitzt sein eigenes Schlafzimmer. Um gemeinsam zusammen zu sitzen, haben wir unseren Gemeinschaftsraum, aber jeder hatte auch sein eigenes Zimmer, in das er sich jederzeit zurückziehen konnte. Gegenüber dem Kamin befindet sich eine Treppe, die auf sieben verschiedene Ebenen führt - für jedes Schuljahr eine eigene. Jede Etage besitzt genauso viele Zimmer wie Schüler dieses Jahrgangs. An jeder Tür hängt ein kleines, silbernes Schildchen mit dem Namen des Bewohners. Der Raum passt sich automatisch seinem Besitzer an und sieht genau so aus, wie dieser es sich wünscht. Dracos Schlafzimmer beispielsweise hat grüne Wände und in der Mitte thront ein riesiges, schwarzes Bett. Aber es stehen auch ein Sofa, sowie ein Schreibtisch darin.
Gerade sitze ich auf seinem Bett, während er sich entspannt darauf ausgebreitet hat und an die Wand über uns blickt, die immer einen nächtlichen Sternenhimmel imitiert. Die Geschlechtertrennung beginnt erst ab 19:00 Uhr, zuvor kann man sich gegenseitig besuchen. Ein paar Ältere haben uns mal völlig aufgelöst erzählt, dass sie aus dem Bett geschleudert wurden, als sie versuchten mehr als nur sich zu küssen. Das Paar hatte noch ganze drei Wochen auf der Stirn stehen, dass sie nicht hatten huren können. Angeblich hatte sich das Mädchen die ganze Zeit auf dem Krankenflügel versteckt und so getan, als hätte sie Drachenpocken.
„Ellie?", wispert Draco plötzlich und ich wende mich ihm zu, um zu bemerken, dass er mich verunsichert betrachtet. „Bist du eine Erbin Slytherins? Ich meine damit nicht den Erben, der die Kammer geöffnet hat, sondern nur, ob er einer deiner Vorfahren war?"
Ich kann nicht anders als Lachen. Ich weiß, dass es ihm ernst ist, deshalb versuche überlege ich, wie ich es ihm erklären kann. Gedankenversunken spiele ich mit der Kette, einem Geschenk meines Dads an meine Mom, die ich seit dem Tod meiner Mom nie abgelegt habe. Es ist ein kleines Medaillon, welches ein kleines Bild meiner Eltern beherbergt.
„Mein Vater", beginne ich um Ernsthaftigkeit bemüht. „Kann nicht mit ihm verwandt gewesen sein, da er fast die gleichen Vorfahren hatte wie du. Aber der Stammbaum meiner Mutter ist um ein Vielfaches komplexer. Nein, er gehört nicht zu meiner direkten Blutlinie, aber ich glaube es ist möglich, dass Salazar und ich den gleichen Parsel sprechenden Vorfahren haben..."
Nach ein paar Minuten des Schweigens stehe ich auf und will zurück in mein Zimmer. Als meine Hand schon an der Türklinke ist, bittet er mich zu bleiben. Kurz zögere ich, doch dann drehe ich mich wieder um und setze mich neben ihn. Draco ist einer der wenigen Slytherins, die wie ich einen eigenen Kamin in ihrem Zimmer besitzen. Schweigend betrachten wir die kleinen Flammen. Eine innere Stimme flüstert mir zu, ich solle die armen Dinger wachsen lassen. Diesem inneren Instinkt folgend strecke ich meine Hand nach dem Feuer aus und augenblicklich werden die Flammen höher und höher.
„Was machst du da?", fragt Draco sichtlich nervös und sofort zieh ich meine Hand zurück. Im selben Moment fallen die Flammen wieder zurück auf ihre ursprüngliche Größe. Das war ja mal cool. Anscheinend kann ich Feuer kontrollieren, ohne meinen Zauberstab zu benutzen. Mit großen Augen sehe ich ihn an und meine, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe. Eine Weile sitzen wir einfach nur stumm nebeneinander und betrachten die kleinen Flammen im Kamin.
„Ellie?", unterbricht er wieder meine Gedanken. „Ich hab ein etwas vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für dich. Mach die Augen zu!"
Nur zu gerne spiele ich in diesem Stück mit und schließe meine Augen. Das Rascheln der Decke sagt mir, dass er aufgestanden ist. Als nächstes höre ich die seltsamsten Geräusche von verschiedenen Flecken seines Zimmers. Plötzlich wispert er in mein Ohr, dass ich jetzt die Augen öffnen soll und blicke direkt in ein Paar dunkler Augen: In ihrem kleinen Käfig hängt eine winzige Fledermaus, die Fledermaus, in die ich mich in der Winkelgasse verliebt hatte.
„Du hast sie gekauft?", schreie ich und versuche hastig den Käfig zu öffnen.
„Oh bitte, lass sie nicht hier raus!", unterbricht mich Draco sofort und schiebt augenblicklich den Riegel wieder zurück. Die Fledermaus fiept leise. „Ja, ich habe mit Vater geredet und hier: deine eigene Fledermaus. Die Hexe hat Vater gesagt, dass du sie nicht mit den Eulen halten darfst, weil diese sie als Rivalen ansehen und nicht akzeptieren. Es hat ewig gedauert, bis Severus die Erlaubnis vom Schulleiter hatte, aber sie darf in deinem Zimmer leben"
„Großartig", meine ich, dann drehe ich mich zu meiner kleinen Fledermaus und flüstere sanft, dass ich sie Blacky nennen werde, damit jeder weiß, dass sie zu mir gehört. Aufgeregt schlägt die Kleine mit ihren Flügeln und vor Glück kann ich nicht anders als breit zu Grinsen. Schnell gebe ich Draco einen dankenden Kuss auf die Wange.
„Tausend Dank, Dray", jauchze ich und er versucht sein Gähnen zu verbergen. „Aber jetzt lasse ich dich erst mal schlafen. Gute Nacht, Dray"
Dann verschwinde ich auch schon in mein Zimmer. Kaum ist die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, öffne ich Blackys Käfig und lasse sie mein Zimmer erkunden. Mein Zimmer sieht vollkommen anders aus als das von Draco, denn es sieht genauso aus wie mein altes Zimmer in dem Haus meiner Mutter am Meer. Vor meinen Fenstern flattern weiße Vorhänge, in der Mitte steht ein großes, weißes Himmelbett. An den Wänden befindet sich meine Bibliothek an Lieblingsbüchern, während meine Schulbücher, Federn und Pergamentbögen den Blick auf die Unterwasserwelt von ihrem bequemen Fleck auf meinem weißen Schreibtisch genießen, der direkt vor dem großen Fenster steht. Auf der linken Seite neben der Tür spendet mein Kamin ein kleines, gemütliches Feuerchen.
Den leeren Käfig stelle ich unter meinen Schreibtisch und öffne die Klappe, die in der rechten Ecke neben dem Fenster aufgetaucht ist, damit sie über ein spezielles Tunnelsystem nach draußen in die Nacht hinausfliegen kann. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und mein Blick bleibt an dem Bild auf meinem Nachttisch hängen. Es zeigt meine ganze Familie und wurde zu meinem ersten Geburtstag von Lilly Potter aufgenommen. Wir waren am Strand und mein Dad hat mich auf den Arm genommen, damit ich ihm etwas erzählen kann. Liebevoll sieht er auf mich herab und lacht. Im Hintergrund versucht meine Mutter meinen Zwillingsbruder Castor zur Strafe zu Kitzeln. Bis heute weiß ich nicht, was er getan hatte. Während Castor sich lachend aus dem Griff meiner Mutter zu befreien versucht, meine Mutter blickt glücklich lächelnd zu meinem Dad und mir.
Als ich gehört hatte, dass ich bei den Slytherins ein Einzelzimmer bekommen würde, war ich unheimlich erleichtert gewesen. Meine Vergangenheit holt mich immer wieder ein, sobald ich eingeschlafen bin und oft wache ich schreiend mitten in der Nacht hoch. Ich schließe meine Augen und lasse mich in diese vergangene Zeit fallen.
Einen Tag, bevor sich alles änderte, nahm mich mein Vater mit zum Strand. Immer wieder hatte Dumbledore ihm gesagt er solle das Haus unter keinen Umständen verlassen. Denn mein Geburtstag war der 6. Juli, genau wie der meines Zwillingsbruders. Deshalb konnte auch er der „Auserwählte" sein wie Neville Longbottom oder Harry: drei Jungs, eine Prophezeiung. Wen sich der dunkle Lord aussuchen würde, war ungewiss, deshalb mussten alle drei besonders geschützt werden. Aber mein Vater war niemand, den man im Haus einsperren konnte. Immer wollte er nach draußen und ein kleines Risiko eingehen. Also nahm er mich mit sich und wir hatten immer eine Menge Spaß. Wie so viele Male zuvor haben wir zusammen eine Sandburg gebaut, als mein Daddy plötzlich aufgehört hat, um mir ins Ohr zu flüstern: „Helena, du bist die Einzige, der ich das erzählen werde, weil ich dir vertraue. Was ich dir jetzt sage, muss unser kleines Geheimnis bleiben, denn nur so können wir Harry und seine Eltern beschützen. Wir haben uns für Peter entschieden, nicht für mich. Er wird ihr Geheimnis bewahren, meine Kleine. Die perfekte Täuschung"
Danach hob er mich hoch und sind zurück ins Haus gegangen. Cas spielte mit seinem Besen, Mommy machte gerade das Essen. Es wurde ein sehr schöner Abend. Daddy brachte uns ins Bett. Wie jeden Abend sagte er uns, wie sehr er uns liebt bevor er das Licht ausmachte.
Am nächsten Morgen wurde ich nicht aufgewacht, weil Daddy oder Mommy uns geweckt haben. Jemand war in der Nähe der Grenze appariert. Vorsichtig drehte ich mich zu Cas, der schlief allerdings noch tief und fest. Ich krabbelte aus meinem Bett und rüttelte an Cas' Arm. Bis jetzt hatte noch keiner von uns beiden einen Satz fließend herausgebracht, nicht weil uns die Wörter nicht über die Lippen kommen würden, sondern weil wir nicht miteinander sprechen mussten. Cas und ich konnten leicht in die Köpfe anderer Leute eindringen, wenn wir es wollten und uns so mit ihnen unterhalten. Gerade wenn wir etwas bestimmtes wollten, war es einfach schneller, Mommy oder Daddy es zu zeigen. Gerade teilte ich ihm das Geräusch und meine Angst vor diesem Fremden mit.
Müde blinzelte er und fragte träge: „Mommy?"
Das war einfach typisch für meinen Bruder. Während ich ein richtiges Daddy-girl war, war Cas vollkommen auf unsere Mom fokussiert. Dabei war mein Bruder meinem Daddy wie aus dem Gesicht geschnitten, während ich das Aussehen unserer Mommy geerbt hatte. Nur ein Muttermal hatten Cas und ich von Daddy geerbt: Über unseren Herzen trugen wir den gleichen, fast vollen Mond.
Endlich bewegte sich Cas aus seinem Bett und gemeinsam suchten wir Mommy, die sich nur hastig eine Strickjacke über ihr dünnes Nachtkleidchen gezogen hatte und unserem Gast Tee kochte. Sobald wir in die Küche tapsten, begann Castor zu strahlen und zu ihr zu rennen.
„Tante Molly!", rief er begeistert und sprang auf ihren Schoß, während ich mit einem unguten Gefühl zu Mommy lief. Lautlos liefen mir Tränen die Wangen herab. Sobald Mommy es bemerkte, legte sie ihre Arme um mich. Auch Tante Molly begann zu weinen und konnte ihr freundliches Gesicht nicht mehr von meinem abwenden. Dann holte sie tief Luft und sagte mit zittriger Stimme zu Mommy, dass gestern du-weißt-schon-wer in Godrics Hollow gewesen sein soll. Mommy wurde ganz blass, der Tee war nun endlich fertig. Mit zittrigen Händen schüttete sie den Tee in zwei Tassen ohne mich loszulassen, dann reichte sie eine an Tante Molly und setzte sich zu ihr.
„Was ist mit...", brachte Mommy mühsam heraus und Tante Molly schüttelte traurig den Kopf. Halt suchend kletterte ich auf Mommys Schoß, die mich sanft wieder in den Arm nahm.
„Lilly und James sind tot, Ellie! Der kleine Harry hat es irgendwie geschafft zu überleben und du-weißt-schon-wen zu zerstören. Peter... hat deinen Mann gesucht und ihn auch gefunden. Er meinte, dass das alles Sirius' Schuld sei und er schon immer du-weißt-schon-wens Spion gewesen wäre. Daraufhin hat Sirius die Straße hochgejagt, 13 Menschen - 12 Muggel - sind dabei ums Leben gekommen. Sie haben ihn sofort ohne Verhandlung nach Askaban gebracht"
„Nein!", murmelte Mommy kraftlos und im selber Moment sprach ich meinen ersten, fließenden Satz: „Daddy ist unschuldig"
Tropfen fielen auf mein Haar und ich wusste, dass Mommy angefangen hatte zu weinen. Tante Molly versuchte ihren Blick von mir zu lösen, aber es gelang ihr einfach nicht. Nun kam auch Cas zu Mommy und mir und schlüpfte in den schmalen Spalt zwischen uns. Schweigend beobachtete uns Tante Molly. Ich sah, dass sie am liebsten so weit wie möglich wegrennen wollte, dass sie zurück zu ihrer Familie wollte und mit ihr glücklich sein wollte. Also sagte sie: „Es tut mir so leid, Ellie. Du kannst immer zu mir kommen, meine Liebe. Aber ich muss jetzt wirklich los"
So schnell wie möglich verließ sie das Haus und ließ eine nun für immer unvollständige Familie zurück.

Normalerweise verändert sich der Traum immer an diesem Punkt und springt an diesen einen grauenhaften Tag. Cas und ich hatten erst vor kurzen unseren dritten Geburtstag gefeiert und es war so ein wunderschön sonniger Tag, dass uns nichts im Haus halten konnte. Mommy hatte zurück ins Haus gehen müssen, weil Cas mal wieder sein Handtuch vergessen hatte. Aber ich wollte nicht mehr länger warten. Mit war so warm, dass ich einfach schwimmen musste. Castor habe ich versucht zum Mitkommen zu überzeugen, aber er wollte noch warten. Er befürchtete, dass Mommy sich Sorgen machen würde, wenn wir beide verschwunden wären. Deshalb spielte er friedlich im warmen Sand, während ich schwamm und Mommy im Haus herumwirbelte.
Und dann apparierten sie aus dem nichts im perfekten Kreis um meinen Bruder. Zaubersprüche trafen seinen kleinen Körper und er sackte kraftlos in sich zusammen. Als sie sich zu mir wendeten, kam Mommy schreiend angerannt und feuerte einen Fluch nach dem anderen auf die vermummten Gestalten ab. Alle disapparierten.
Zeitgleich erreichten wir die leblose Gestalt im Sand. Er war tot.
Normalerweise wache ich an dieser Stelle schreiend auf, aber heute geht der Traum weiter: Nach Castors Beerdigung zog Mommy sich immer häufiger zurück und las in einem alten Buch, das ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte. Als ich den Mut gefunden hatte, sie zu fragen, ob sie mir etwas aus dem Buch vorlesen könnte, schreckte sie zusammen, als ob sie eben erst daran erinnert worden wäre, dass ich noch da war. Lange sah sie mich an, dann stellte sie das Buch weg und meinte, dass ich noch zu jung für das Buch sei, aber, wenn die Zeit reif wäre, würde dieses Buch all meine Fragen beantworten und wenn ich jemals zweifeln würde, dann müsste ich nur zu diesem Regal laufen und das Buch aufschlagen.
Warm lächelte sie mich an und als ich dieses Mal erwache, geben mir ihre Worte neue Kraft. Entschlossen stehe ich auf, greife mir Feder und Pergament und beginne einen Brief.

Meine liebe Tante Cissy,

ich verstehe nicht, warum wir diese Weihnachten in Hogwarts verbringen müssen. Denn ich muss so bald wie möglich wieder nach Hause und etwas überprüfen. Diese Nacht habe ich davon geträumt, dass meine Mutter in unserem alten Haus am Strand etwas gelesen hat. Sie sagte zu mir, dass ich in diesem Buch die Antwort auf all meine Fragen finden würde. Ich muss es endlich wissen, liebe Tante. Ich muss es endlich verstehen - alles.
Bitte, lass mich an diesen Ort zurückkommen. Mit jedem Tag wächst in mir das Gefühl anders zu sein. Tief in mir lauert etwas, dass ich einfach nicht verstehe und das macht mir Angst. Ich möchte einfach nicht die, die ich liebe, verletzen, nur weil ich meine Magie nicht beherrsche. Bitte.
Danke für die wunderbare Fledermaus. Ich liebe meine kleine Blacky!

In Liebe
Deine Ellie

Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Schreibtischuhr. Es ist fast sechs, da macht es keinen Sinn mehr sich noch einmal hinzulegen. Außerdem ist Blacky gerade zurückgekommen.
„Bereit für deinen ersten Flug?", frage ich meine Kleine und sofort flattert sie auf meine Hand. Sanft streiche ich über ihren Kopf und befestige meinen Brief um ihren Hals. Zärtlich fährt sie mit ihren Flügeln über meine Handfläche, dann bricht sie zu ihrem ersten Abenteuer auf. Ich hoffe, dass ich sie mit ausreichend Schutzzaubern belegt habe.
Ich ziehe meinen Umhang an und verlasse mein Zimmer. Erst überlege ich schon mal in die große Halle zu gehen, aber dann fällt mir ein, dass es vielleicht keine gute Idee ist gerade jetzt als Slytherin alleine durch die Korridore zu spazieren... Meine Mitschüler reden schon genug über mich. Also setze ich mich auf eines der Sofas und warte. Nach einer Weile erscheint Draco neben mir und gemeinsam gehen wir. Auf dem Weg zum Frühstück bekomme ich keine Chance ihm von meinem Brief zu erzählen, weil Pansy ohne Unterbrechung immer wieder sich in unser Gespräch einklinkt und sie im Endeffekt nur mit ihm redet. Auch während des Frühstücks nimmt sie Draco ganz in Beschlag, der sein Essen lustlos in sich hineinstopft. Doch dann kommt Blacky mir Cissys Antwort angeflattert und schon ruht seine ganze Aufmerksamkeit bei mir.
„Du hast meiner Mom geschrieben?", fragt er leise. Ohne ihm wirklich zuzuhören nicke ich und beginne meinen Brief zu lesen. Draco lehnt sich über meine Schulter, damit er unauffällig mitlesen kann und erspart mit somit eine Inhaltszusammenfassung.

Meine liebe Ellie,

es tut mir sehr leid, aber wir haben uns dafür entschieden, dass ihr den Rest des Schuljahres in Hogwarts bleiben werdet. Wie dein Onkel und ich euch bereits in unserem letzten Brief erklärt haben, müsst ihr beide über jeden Zweifel erhaben sein. Für all diese furchtbaren Dinge, die gerade passieren, wird man einen Schuldigen suchen, meine Liebe. Draco und du müssen unbedingt im Schloss bleiben. Nur dort werdet ihr sicher sein.
Ihr beide fehlt mir so sehr, du weißt gar nicht wie schwer es mir fällt, dass ich euch dies nicht ermöglichen kann. Umso mehr freuen wir uns darauf, dass ihr bald wieder bei uns sein werdet. Die Ferien werden schneller da sein, als du dir im Augenblick vorstellen kannst, meine Kleine. Nur darauf kommt es an.
Ellie, bist du wirklich bereit an diesen Ort zurückzukehren? Draco hat mir erzählt, dass dir in letzter Zeit deine Erinnerungen sehr zu schaffen machen. Wenn du diesen Ort aufsuchst, wird alles auf dich einstürzen und ich weiß nicht, ob du dafür wirklich schon bereit bist.
Außerdem ist das Haus seit über sechs Jahre unbewohnt, meine Liebe. Wir wissen nicht, ob es überhaupt noch bewohnbar ist.
Ich kann verstehen, warum dir diese Antworten so wichtig sind. Aber bist du dir sicher, dass du sie dort wirklich finden wirst? Auf keinen Fall möchte ich, dass du vorerst alleine dieses Haus aufsuchst. Wir reden noch einmal darüber, wenn die Ferien begonnen haben. Vielleicht würde so ein kleiner Urlaub am Meer Draco und dir gut tun.
Bitte, bleib im Schloss.

In Liebe
Tante Cissy

„Urlaub am Strand - das klingt doch fantastisch!", grinst Draco, doch tief in mir wächst Zorn. Wer glauben sie, wer sie sind? Das sind mein Haus, meine Erinnerungen und mein Leben. Warum kann ich nicht selbst darüber entscheiden, was das Richtige für mich ist?
Ohne mein Essen anzurühren, stehe ich auf und verlasse den Raum. Einfach nur weg von hier. Immer weiter laufe ich durch die Gänge und Korridore. Wohin ich laufe, nehme ich gar nicht wahr. Verwirrung und Wut vernebeln meine Wahrnehmung.
„Hey, Helena", ruft eine Stimme durch den Wirrwarr und ich erstarre, unfähig mich zu bewegen. Unkontrolliert beginnt mein Körper zu zittern. Ich zwinge mich dazu, mich langsam zu dem Jungen umzudrehen, der mir lässig den verlassenen Flur entgegenkommt.
„Warum kannst du nicht endlich aufhören mich so zu nennen?", frage ich mit rauer Stimme, während das Lächeln des rothaarigen Jungen mit jedem Schritt, mit dem er sich mir nähert, breiter wird. Er bleibt erst stehen, als er meiner zitternden Gestalt so nah ist, dass ich seine Wärme auf meiner Haut spüren kann. Ein kleiner Bewegung und wir würden uns berühren.
„Helena", flüstert er sanft. „Das ist dein richtiger Name, Liebste. Und mir gefällt:.."
Das ist einfach zu viel für einen Tag. Meine Wut kocht über und ich verliere das letzte bisschen Selbstbeherrschung.
„Was, Fred?", unterbreche ich ihn schreiend. „Du findest, das klingt gut? Die Wunderschöne passt besser zu mir als Gott schwört? Es tut mir leid, Fred, aber Helena Black ist vor vielen Jahren mit ihrem Bruder und ihrer Mutter gestorben. Es ist niemand mehr übrig, der mich so nennt, weil sie entweder tot sind oder lebenslang in Askaban sitzen werden! Du kannst es dir nicht vorstellen, wie es ist seine Familie so zu verlieren und..."
In seinen Augen sehe ich nichts als Schock. Etwas in mir verliert nun vollkommen die Kontrolle und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ein kleines „Sorry" entschlüpft meinen Lippen, dann drehe ich mich um und laufe schnell weg von ihm. Aber ich kann seine Schritte hinter mir nur zu deutlich hören und ich weiß, dass ich ihm nicht davonlaufen kann. Er war schon immer schneller als ich. Doch warum um Merlins Bart muss er mir ausgerechnet jetzt folgen? Lautlos hinterlassen Tränen eine salzige Spur auf meinen Wangen.
Dann greift er nach meiner Hand und mit einem Ruck bleibe ich stehen. Zu ihm umdrehen kann ich mich nicht, denn ich will nicht, dass er mich so sieht: schwach und weinend. Sanft, aber bestimmt dreht er sich zu mir. Zärtlich streicht er die Tränen fort und nimmt mein Gesicht in seine großen Hände, sodass ich gezwungen bin ihm in die Augen zu sehen. In seinen großen, braunen Augen lese ich so viele Gefühle und ich spüre, dass egal was er mir auch sagt, in diesen Augen bin ich verloren. Ich weiß, dass mich diese Augen niemals belügen oder verraten würden.
„Ich wollte dich nie verletzen", sagt er leise. „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass dich dein Name so sehr verletzen würde. Aber wenn du mich fragst: Ja, er passt so viel besser zu dir und ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich dich eines Tages so nennen darf, weil das ist dein wahres und unverfälschtes Selbst. Ich hoffe, dass du aufhörst dich hinter dem Namen deiner Mutter zu verstecken. Noch nie wollte ich dich anders nennen als Helena, aber du warst so deprimiert... du wolltest, dass meine ganze Familie deinen Vornamen vergisst. Aber jetzt hat die ganze Welt ihn vergessen und manchmal glaube ich, dass du dich dadurch selbst verloren hast. Bitte, hör auf vor dir selber immer wieder davonzulaufen, Lena"
Als er fertig geredet hat, lässt er mich frei, dreht sich rum und geht, während ich allein und seiner Wärme abrupt beraubt wieder zitternd zurück bleibe. Meine Tränen versiegen. Denn er hat recht, ich wollte, die ganze Welt vergessen lassen, wer ich wirklich bin. Aber ich werde es niemals vergessen können.
„Warum hast du mich Liz genannt?", rufe ich, bevor er um die Ecke verschwunden ist. Über seine Schulter guckt er zurück zu mir und sagt: „Weil ich dir helfen wollte. Ich dachte, dass du einfach nur Zeit brauchen würdest, um über alles hinweg zu kommen. Aber ,Liz' und ,Ellie' wurden zu einer Maske, hinter der du dich mehr und mehr versteckt hast und ich habe Angst, dass es bald zu spät um das Mädchen ist, dass du wirklich bist, wenn du nicht bald damit aufhörst. Wenn du nicht ausbrechen kannst... das wäre... mehr als Schade, es wäre ein wahnsinnig großer Verlust"
Damit lässt er mich einsamer und verwirrter zurück, als ich zuvor schon gewesen bin. Heute ist einfach nicht mein Tag. Vielleicht kann ich eines Tages seine Helena sein, nichts wünsche ich mir in diesem Moment mehr und die Heftigkeit dieses Wunsches macht mir Angst.
Nicht heute. Von nun an nennt er mich nie wieder Ellie oder Liz, nur noch Lena - so hatte er mich schon einmal vor langer, langer Zeit genannt.

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