Kapitel 14 - Schattenleben

Ellie

Ich weiß sofort, dass etwas falsch ist. Benommen setze ich mich auf und schaue mich um. Die Stille ist ohrenbetäubend und das Licht ist seltsam. Neben mir liegt ein Junge mit geschlossenen Augen im Gras und er ist das Einzige, was mir an diesem Ort real erscheint. Als ich die Hand nach ihm ausstrecke, um ihn anzustupsen, halte ich mitten in der Bewegung inne. Mein Körper ist durchsichtig wie bei den Geistern in Hogwarts. Vollkommen entgeistert starre ich an mir herab.
„Es ist alles gut", wispert der Junge und setzt sich langsam auf. Seine dunklen Haare fallen ihm verwegen in die Stirn. Schnell blicke ich zu ihm und als er die Augen öffnet, erkenne ich ihn sofort. Unsicher fährt er sich mit der Hand durchs Haar und an seinem Handgelenk blitzt ein Armband auf. Mein Armband. Castor schenkt mir ein unsicheres Lächeln.
„Hallo, kleine Schwester", meint er sanft und reicht mir seine Hand. „Willkommen in der Schattenwelt"
Zögerlich ergreife ich sie und lasse mir von ihm aufhelfen. Natürlich habe ich tausend Fragen an ihn, aber sobald er meine Hand loslässt, werfe ich mich ihm an den Hals und atme seinen Geruch ein. Er sieht nicht nur so aus wie Dad, er riecht auch genauso. Er hat mir so gefehlt.
Du hast mir auch gefehlt, wispert Castors Stimme in meinen Gedanken und ich fahre erschrocken zusammen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, dass meine Gedanken nicht mir allein gehören, sondern von jemand anderem mitgehört werden können. Lächelnd löse ich mich von ihm und folge ihm durch dieses seltsame Land. Das Schattenland.
„Warum ist hier so viel Licht?", frage ich und Castor bricht in schallendes Gelächter aus. Prustend antwortet er: „Glaube mir, Schwesterchen, diese Frage habe ich mir sehr oft gestellt. Aber es gibt keine Erklärung dafür. Komm, sie wollen dich sehen"
Verwirrt folge ich ihm durch das Licht und bevor ich weiter fragen kann, gibt Castor seine Gedanken für mich frei und erklärt mir diese seltsame Welt. Die Schattenwelt ist das Reich der Toten und im Gegensatz zu den anderen Toten, die hier weiterexistieren, ist Castors Existenz durch mich immer noch mit der Welt der Lebenden verbunden, weshalb er altert. Wie die Geister in Hogwarts gehöre ich nicht in diese Welt, deshalb kann ich die Schattenwelt nur als Schatten betreten. Solange mein Körper sich von dem Gift erholt, sitze ich hier fest. Laut Castor erhalten wir dadurch die Chance gemeinsam unseren Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Suchend greife ich in meinen Ärmel, aber mein Zauberstab steckt nicht darin. Castor kichert leise und erst da begreife ich, dass er meine anderen Fähigkeiten meint. Vor einem tempelähnlichen Gebäude hält er inne und lächelt mich aufmunternd an. Dann gibt er mir telepathisch zu verstehen, dass ich den letzten Weg allein zurücklegen muss. Nervös streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, laufe die Stufen empor und betrete das Gebäude. In der Mitte des Raumes steht Mom und lächelt mich sanft an. Sofort renne ich auf sie zu und schlinge meine Schattenarme um sie. Ein betretenes Hüsteln sorgt dafür, dass wir uns voneinander lösen. Um uns herum sitzen hunderte Hexen und blicken uns abwartend an. Schnell entschuldige ich mich. Mom nimmt ihren Platz zwischen Castor und einer seltsam gekleideten Hexe ein. Sie trägt ein blassblaues Kleid und wirkt irgendwie sehr römisch.
„Willkommen in der Schattenwelt", begrüßt mich die Hexen. „Ich bin Livia und es ist an der Zeit, dass deine eigentliche Ausbildung beginnt"
„Wie du bereits weißt, sind wir Hohepriesterinnen die Beschützer aller Welten, Helena", fährt Mom ernst fort. „Wir haben deine Entwicklung aufmerksam beobachtet und deine Kräfte sind bereits gewaltig, aber solange du sie nicht kontrollieren kannst, sind beide Welten in großer Gefahr"
„Was passiert, wenn das Gegengift nicht gefunden wird?", frage ich und Mom sieht mich mitleidig an.
„Dein Lehrer für Zaubertränke arbeitet bereits am richtigen Gegengift, meine Liebe", meldet sich eine weitere Hohepriesterin zu Wort. „Dein Besuch wird dieses Mal nicht von Dauer sein. Aber wenn deine Blutline versiegt, wird die Natur eine andere Familie mit diesem Schicksal versehen – insofern das dann noch möglich ist. Bisher ist es nur ein einziges Mal vorgekommen und die Konsequenzen waren gewaltig. Beide Welten hätten es fast nicht überlebt"
Als endlich alle Fragen geklärt sind, beginnt meine Ausbildung in der Schattenwelt.

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