Kapitel 3
Alles andere als schön
Ich sah mich um. Rose war nicht mehr da. Ein Flüstern um uns herum hob an. Einige Vampire sahen zu Leaf, winkten oder reckten die Daumen hoch. Doch mehr Blicke ruhten auf mir. Ich war die Neue. Es wurde mit Fingern auf mich gezeigt und auf mein recht üppiges Dekolleté geglotzt. Ach, verdammt! Ich wollte doch noch ein anderes T-Shirt angezogen haben. Egal, jetzt gab es kein zurück mehr. „Mach mir einfach alles nach", flüsterte Leaf mir zu. Hatte sie meine Gedanken gelesen? Sie hüpfte auf die Bühne am anderen Hallenende zu. Dort standen schon ein paar andere Neumutierte. Als wir dort ankamen, betrat Cory das Podium. „Hallo!", begrüßte er die Menge, „Hier sind wir nun wieder bei unserem monatlichen Empfang der Neueinsteiger. Ich fasse mich kurz." Mit diesen Worten wandte er sich an uns. „Wenn ich euch aufrufe, stellt ihr euch hier auf die Platte, wo euer Stärkegrad ermittelt wird. Dann meldet sich einer der älteren Agenten um euch als Mentor zu unterrichten. Alles klar? Gut. Der erste ist... Nicolas Wang!" Es gab etwas Applaus von den Umstehenden. Ein asiatischer Vampir von vielleicht 25 Jahren betrat das Podium. Cory lächelte ihm ermutigend zu und bedeutete ihm, sich auf die Metallplatte zu stellen. Nicolas hatte die Platte kaum berührt, als sein Körper auch schon zu leuchten begann. Eine Messlatte wurde neben ihm eingeblendet, auf der ein Balken nach oben raste. Dann wurde ein Wort eingeblendet. Stark. Applaus aus dem Publikum. Sofort meldeten sich einige Vampire als Mentoren. „Okay, das sind viele Bewerber", sagte Cory, „Wer hatte denn längere Zeit keinen Schüler mehr? Ähm... Lisa Johnsen!" Diesmal gab es mehr Applaus. Eine junge Frau schlängelte sich durch die Menge, sprach ein paar Worte mit Nicolas und ging dann mit ihm in die Menge zurück. Ich entdeckte Rose unter den Vampiren. Sie lächelte und reckte die Daumen hoch. Nach Nicolas wurden noch mehr Neue aufgerufen und dann nannte Cory Leafs Namen. Sie zitterte, als sie auf die Platte trat. Die Spannung war kaum auszuhalten. Und dann sah ich Leafs Ergebnis. Es war ein sehr kleiner Balken und die Worte schienen alle von Leafs Hoffnungen zunichtezumachen: sehr schwach. Es konnte einfach nicht wahr sein. Niemand meldete sich als Mentor. Leaf sah so unglücklich aus. Ich blickte zu Rose. Verzweifelt sah sie mich an. Sie hatte sich melden wollen, aber wenn Leaf sehr schwach war, würde sie nicht lange Leben und Rose wäre am Boden zerstört. Bitte! Formte ich mit den Lippen. Du hast es ihr versprochen! Rose verstand. Sie musste es tun. Ganz langsam schob sie sich nach vorne durch. Es gab nur vereinzelt höflichen Applaus, aber nichts Anerkennendes. Und dann rief Cory mich auf. „Susan Brickland!" Mir war ganz schwindelig. Was war, wenn auch ich sehr schwach war? Schlimmer als Leaf konnte es mir ja nicht gehen. Ein letztes Mal tief Luftholen. Ich trat auf die Platte. Energie schoss durch meinen Körper. Vorsichtig sah ich zu der Anzeige. Der Balken fuhr noch immer nach oben. Er war über meinem Kopf und dann leuchtete das Ergebnis auf: sehr stark. Sehr stark?! Doch noch bevor sich Mentoren melden konnten, erhob Cory wieder die Stimme: „Für Susan findet keine Mentoren Auswahl statt. Sie ist ein Sonderfall. Ihr Mentor ist Oryx Black." Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Womit hatte ich das verdient? War das Corys Strafe für Oryx, unter der auch ich zu leiden hatte? Auch Oryx sah so aus, als hätte er sich am liebsten übergeben. Dann versteinerte sein Gesichtsausdruck. Innerhalb weniger Sekunden stand Oryx vor mir. Ohne ein Wort zu sagen, packte er mich am Handgelenk und zog mich von der Bühne. Aber nicht, um den Rest anzusehen. Stattdessen öffnete er die Tür und zerrte mich aus der Halle. „Warum sehen wir uns nicht den Rest an?", fragte ich verstört. „Weil ich nicht wegen dir begafft werden will!", blaffte er. So sauer hatte ich ihn bisher noch nie erlebt. Noch nicht einmal, als er mich im Flur fertig gemacht hatte. Es war fast unheimlich, dass er nicht vor Wut rot wurde. „Was habe ich dir getan?", fragte ich. Auch ich war jetzt wütend. „Ist doch egal. Reicht es dir denn nicht, dass ich dich hasse." Autsch! Das hatte wehgetan. „Nein", erwiderte ich, um ihn zu ärgern. „Dann ist das nicht mein Problem." „Du kannst mich auch loslassen. Ich kann auch alleine gehen", fauchte ich und Oryx ließ mich los, als hätte er sich verbrannt. „Wohin gehen wir?", fragte ich. „Kannst du vielleicht mal aufhören, dauernd irgendwelche Fragen zu stellen?" Ich stemmte meine Beine in den Boden. „Wenn du es mir nicht sagst, gehe ich keinen Schritt weiter", stellte ich klar. „Oh, doch. Das wirst du!" Oryx packte meinen Oberarm so kräftig, dass es wehtat. Am liebsten hätte ich aufgeschrien, doch die Blöße wollte ich mir nicht geben. Als er mich weiterzog, hatte ich entweder die Möglichkeit mit ihm mitzugehen oder aber der Länge nach hinzuschlagen. Ich entschied mich für die erste. Der Punkt ging an ihn. Nach einer halben Ewigkeit öffnete Oryx eine Tür. Es war eine Sporthalle. „Lauf", sagte Oryx ruhig. „Was?", fragte ich entgeistert. „Du sollst laufen", wiederholte Oryx, als wäre ich schwer von Begriff. Besorgt blickte ich auf meinen Ausschnitt. Keine gute Idee, so zu laufen. „Nicht in den Sachen", widersprach ich. „Ach, nein? Möchtest du lieber in Unterwäsche laufen?", flüsterte Oryx bedrohlich. „Nein", gab ich kalt zurück, „ich werde gar nicht laufen." Ich wollte mich an Oryx vorbei zur Tür schieben, aber er brauchte nur den Arm auszustrecken, um mich daran zu hindern. Also ging es nur mit Gewalt, doch ich hatte mich noch nicht einmal bewegt, als ich eine Ohrfeige verpasst bekam, die mich zu Boden gingen ließ. „Zieh dein Shirt aus." Gerade wollte ich entgeistert was fragen, als Oryx sagte: „Du hast mich schon verstanden." Als ich mich immer noch nicht rührte, knurrte er: „Entweder du machst es, oder ich. Mir ist es egal." Wahrscheinlich wäre es nicht besonders angenehm, wenn Oryx mich auszog. Jedenfalls nicht unter diesen Umständen. Außerdem kannte er mich in Unterwäsche. Ich atmete tief durch und zog mein T-Shirt aus und warf ihn damit ab. Er fing es ohne Probleme auf. „Und jetzt lauf." Langsam stand ich auf und warf ihm einen letzten Blick zu. „Schneller", kommentierte Oryx. Mürrisch lief ich schneller. Ich spürte seinen Blick schwer auf mir lasten. Schnell wurde es anstrengend, doch ich machte weiter. Nach etwa einer halben Stunde kamen die anderen dazu. Sofort blieb ich stehen, als mir einfiel, dass ich nur einen BH „obenrum" trug. „Hab ich gesagt, dass du stehen bleiben sollst?", blaffte Oryx. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Die anderen guckten nur dumm. Dann liefen sie mit. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Zwei Stunden. Zwei ein halb. Alles verschwamm vor meinen Augen und als ich sie das nächste Mal öffnete, lag ich auf dem Boden. „Sue?", fragte Rose. Sie sah erleichtert aus, als ich sie ansah. „Leaf, bringst du ihr mal eine Flasche." Über mir waren lauter besorgte Gesichter und ein neutrales. Das gehörte Oryx. Ich setzte mich auf und Leaf drückte mir eine Flasche in die Hand. Sofort wusste ich, was in der Flasche war. Mein Instinkt erwachte. Blut. Ich wollte es nicht, doch ich kam nicht dagegen an und riss Leaf die Flasche aus der Hand. Das Blut schmeckte anders. Nicht metallisch, so wie es sonst immer war. Es war ein seltsam frischer Geschmack. Gerade noch hatte ich mich schwach und benommen gefühlt, doch jetzt hatte ich wieder Kraft und sprang auf die Beine. „Gut", sagte Oryx, der neben mir stand, „Jetzt kannst du ja weiterlaufen." Und da war sie wieder. Die Wut. „Weiterlaufen? Geht's noch? Ich bin gelaufen bis zum Umfallen, bin ohne T-Shirt vor allen gelaufen und jetzt soll ich weiterlaufen? Ich mach das nicht mit!", schrie ich. Meine Stimme war entsetzlich schrill. „Ich habe nicht gesagt, dass...", begann Oryx ärgerlich, doch ich unterbrach ihn: „Es ist mir egal, Oryx! Es ist mir egal! Hast du mich denn heute nicht schon genug gedemütigt?" Wütend rauschte ich an ihm vorbei und hob mein T-Shirt auf. „Lass sie gehen", hörte ich Rose hinter mir sagen. Dann verließ ich die Halle. Am liebsten hätte ich geheult, doch mein Körper konnte keine Tränenflüssigkeit mehr produzieren. Jede Flüssigkeit in meinem Körper war gefroren, bis auf die Spucke. Warum auch immer. Ich wollte in mein Zimmer, doch ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Nun hatte ich zwei Möglichkeiten. Die eine war zur Sporthalle zurückzugehen. Die andere war auf gut Glück mein Zimmer zu finden, während ich die Gänge entlang lief. Ich wählte die zweite. Es wäre zu peinlich, jetzt wieder in die Sporthalle zurückzugehen. Ich rannte die Gänge entlang und hatte schon bald vollständig die Orientierung verloren. Kurz danach ließ ich mich erschöpft und enttäuscht gegen eine Wand sinken. Was hatte ich Oryx getan, dass er mich so behandelte? „Hallo? Geht es dir gut? Kann ich dir irgendwie helfen?" Ich sah auf. Ein Junge stand vor mir. Und wenn ich jetzt sage ein Junge, dann meine ich das auch so. er war höchstens 15. „Ich bin John", stellte er sich vor. Früher waren seine Augen einmal blau gewesen. „Endlich mal jemand mit einem normalen Namen", begrüßte ich ihn. „Ich bin Sue." Er gab mir die Hand und zog mich hoch. „Wirklich alles okay?", fragte John. „Ich hab mein Zimmer gesucht. Keine Ahnung, wo das ist", sagte ich und ließ den Kopf hängen. „Hast du irgendeine grobe Ahnung, wo es ist? Die Etage vielleicht? Oder, ob es in der Nähe von irgendwas ist?" Ich schüttelte den Kopf. „Wo bist du denn zuletzt gewesen?" „In der Sporthalle." „In welcher?" „Gibt es mehrere? Wir sind gelaufen." „Ah du bist neu hier. Na, dann. Komm mit. Ich weiß, wo wir hin müssen", sagte John und führte mich mehrere Gänge entlang. Ich war weiter gelaufen als gedacht. Aus der Halle drangen nur noch vereinzelt Stimmen und ehe ich ihn daran hindern konnte, war John schon hinein gegangen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. „Irgendwer hier wird schon wissen, wo du wohnst. Ist dein Mentor noch da?", fragte John. Ich sah mich um. Oryx war nicht mehr da. Zum Glück. Ich schüttelte den Kopf. Aber Leaf und Rose waren noch da. Leaf rannte wie eine bekloppte im Kreis herum und stand augenscheinlich kurz vor dem umkippen. Rose sah mich als erstes. „Wo warst du denn? Du siehst fertig aus." Vermutlich hatte sie Recht. „Mir geht's gut", log ich, „Ich habe mein Zimmer gesucht." „Nein", entgegnete Rose bestimmt, „Lüg mich nicht an. Ich erkenne jede Lüge. Das ist meine bekloppte Fähigkeit." „Fähigkeit?", hakte ich nach. „Die meisten Vampire haben eine Fähigkeit, die sie von anderen unterscheidet. Ich bin ein Lügendetektor, aber es könnte theoretisch alles sein", erklärte Rose. Ich gab auf. „Na, gut. Oryx hasst mich. Er hat mich vor allen Leuten blamiert. Und ich hasse ihn", sagte ich. „Aber, wenn ihr euch beide hasst, dann ist das doch okay", erwiderte Rose verständnislos. „Ja", jammerte ich, „Aber er ist mein Mentor. Das sollten wir doch miteinander klarkommen, oder nicht?" „Ach, komm schon. Morgen ist er bestimmt besser drauf. Und wenn nicht, hat die Sache einen Vorteil: Das Training wird effektiver, weil du ihn vermöbeln willst. Kommt, gehen wir erstmal was essen!", sagte Rose und Leaf und ich folgten ihr aus der Halle.
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Die Kantine war groß und modern und lag unter einem Glasdach. Von hier aus konnte man sogar die untergehende Sonne auf dem Glasdach von „the Gerkin" glitzern sehen. Zu essen gab es irgendwelche Klöße, die erstaunlich gut schmeckten. Ich hatte sie bereits im Gehen halb aufgegessen. Gerade hatte ich mich auf einen Stuhl an einem noch freien Tisch fallen gelassen, als Leaf hektisch sagte: „Oh, äh, Sue? Ich würde mich nicht dahin setzen." „Wieso?", fragte ich verwirrt. „Weil dein Mentor da immer sitzt und du glaube ich grade nicht in der Stimmung für einen Streit bist. Oh, zu spät. Da kommt er." „Ich bleibe hier. Ich will mich nicht klein kriegen lassen", flüsterte ich zurück. Rose und Leaf warfen sich noch einen blick zu. Dann verschwanden sie. „Kannst du dir keinen anderen Platz suchen?" Ich fuhr herum. Oryx stand vor mir und funkelte mich feindselig an. „Such du dir doch einen anderen Platz, wenn du ein Problem damit hast", gab ich bissig zurück. Ganz kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde, blitzte in seinen Augen etwas anderes auf als Hass. War es Überraschung? Freude? Ich wusste es nicht. „Willst du mich provozieren?", fragte er. Das Rot in seinen Augen gewann die Überhand. „Das war nie meine Absicht", flüsterte ich, aber er hatte mich nicht geschlagen. Er hatte mich stärker gemacht. Und wütend. Oryx begann zu knurren. Ich auch. Dabei fiel mir auf, dass ich nicht länger saß, sondern stand. Die Gespräche um uns herum verstummten. Wenn Oryx angriff, warf das kein gutes Licht auf ihn. Wenn ich angriff, würde ich mich haushoch blamieren. Also hatten wir gerade eine Pattsituation. Und Oryx wusste es auch. Unser beider Knurren verstummte. Möglichst lässig griff ich nach meinem Tablet und lächelte Oryx an. „Ich freu mich schon aufs nächste Training", sagte ich noch, doch dann griff Oryx nach meinem Arm und zwang mich stehen zu bleiben. Der Griff tat weh und doch auf eine seltsame Weise berrauschend. Ich sah Oryx in die Augen und zwang mich, keine Miene zu verziehen. „Worauf du dich verlassen kannst", flüsterte Oryx bedrohlich und mit einem unheimlichen Lächeln, ehe er mich losließ.
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