The Truth
Ich habe niemals die Wahrheit gesagt, selbst wenn man mich dazu zwang.
Damals war ich noch ein törichtes Kind, dass seine Schwester als Sündenbock benutzte und wenn man mal so darüber nachdenkt, war meine Schwester immer der Sündenbock. Ich schob ihr die Schuld zu, als ich wegen ihr trauerte und nannte sie zu schwach um ein Kind zu gebären.
Ich gab ihr die Schuld, wenn meine Eltern mich verheirateten wollten und dabei war ich immer diejenige, die dumme Dinge tat.
Ich gab Annabell die Schuld für die Streitereien zwischen meinen Eltern, als sie starb und obwohl sie der Sündenbock war, hasste sie mich nie. Natürlich fand sie es als Kind ungerecht, aber sie war eine treue Seele, die nicht mal Fliegen töten wollte. Im Nachhinein bereue ich es doch so ein schlechter Mensch zu sein.
Ich war so schlecht zu Annabell, Elliot und meinen Eltern. Ich verschwand aus der Stadt, kehrte letzteren den Rücken zu und ließ sie mit der Lüge leben, dass ihre einzige Tochter nicht mehr Zuhause bleiben konnte und sie nahezu verachtete, weil ich mich nie meldete und sie mich nie erreichen konnten.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie darunter gelitten haben und erst im Dezember 1984, also zwanzig Jahre später, traute ich mich meiner Vergangenheit zu stellen. Ich konnte mir endlich die Wahrheit eingestehen, dass ich nicht Annabell war. Da besuchte ich das erste Mal meinen Geburtsort und fing, nachdem ich im Hotel eingecheckt hatte, an zu weinen. In all den Jahren hatte ich kein einziges Mal wegen meiner Vergangenheit geweint und plötzlich holten mich alle Gedanken und Gefühle wieder ein, sodass ich, kaum hatte ich die Gräber meiner Familie besucht, die Stadt wieder verließ.
Ich konnte und wollte die Wahrheit immer wieder verdrängen und ersticken mit meiner Lüge, was aber auch geklaptt hatte. Ich war fertig mit Kathrina Hegen. Ich wusste nicht mal, warum meine Eltern verstorben waren. Ich traue mich nicht mal, irgendeinem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen und verstecke mich deshalb unter einem Hut.
Vielleicht hat mich jemand erkannt und redet nun darüber, dass Kathrina, die tot geglaubte Tochter, zurück sei, aber das ist reines Wunschdenken. Dafür war und bin ich zu unwichtig, obwohl diese Kleinstadt doch nichts anderes zum Reden besitzt.
In all den Jahren halte ich es kaum mehr als zwei Tage in meiner Heimat aus, weil mich alles an Annabell und meine Eltern erinnerte und wäre ich in mein Haus zurückgekehrt und hätte ich mir die Zimmer angesehen, wären mir dir Tränen gekommen. Vater, wie er lautstark mit irgendwem in seinem Arbeitszimmer stritt. Mutter, die in der Küche saß und sich, wie die elegante Dame, die sie war, eine Zigarette anzündete. Annabell, die in ihrem Zimmer saß und Tränen vergoss. Ich war ihre große Schwester, ich hatte doch die Verantwortung für sie und habe kläglich versagt. Ich war eine schreckliche Person, wie ich jetzt feststelle. Vermutlich war das einer der vielen Gründe, warum ich Annabell sein wollte und wurde.
Irgendwann musste ich mir ja eingestehen, dass ich eine schreckliche Frau war und mich deshalb als Annabell ausgegeben habe, um neu anzufangen, freundlicher zu werden und Freunde zu finden. Natürlich musste ich mir den ein oder anderen Spruch verkneifen, aufhören mit meinen Augen zu rollen und mich höflich und anständig benehmen. Es fiel mir nicht leicht, aber ich nahm mir Annabell als Vorbild. Irgendwann musste ich mir wirklich die Wahrheit eingestehen, die große Wahrheit, dass ich Annabell, obwohl ich sie meistens nicht ausstehen konnte, mit meinem ganzen Herzen geliebt habe. Ich konnte sie nicht ausstehen, weil sie alles hatte. Eine wirkliche Familie, die sie sich aufgebaut hat mit ihrem Verlobten zusammen und dem Kind und dem Haus, während ich auf dem Sofa lag und der Mittelpunkt der Streite meiner Eltern war.
Als Kathrina war ich nur eine faule Tochter, die nichts wirklich erreicht hat und eine Schwester, die keine wirkliche Schwester war. Annabell erhielt so viel Aufmerksamkeit und jeder liebte sie, während ich das schwarze Schaf der Familie blieb und hinter ihrer strahlenden Persönlichkeit stand. Mir hat es nie wirklich etwas ausgemacht und ich fand mich damit ab, Menschen zu verachten. Ich habe sie alle verachtet in meinen Zeiten als Teenager.
Allerdings hatte ich eine Eigenschaft von mir selbst noch behalten. Meine Liebe für klassische Musik. Annabell war eher der lustige, verspielte Typ und sie liebte es, auszugehen und zu feiern. Sie liebte die Musik, die sie in Bars und auf der Tanzfläche spielten, während ich mir immer die Ohren zuhielt und das Gebäude verließ.
Als ich Michael am nächsten Tag anrufe, hat er sich die ganze Nacht Fragen für mich ausgedacht. Er möchte mich damit nicht belästigen, aber ich sage ihm fröhlich, dass ich gespannt auf seine Fragen bin. Eine seiner Fragen bringt mich für ganze fünf Minuten zum Schweigen.
,,Hast du dich all die Jahre verstellt und bist jemand gewesen, der du eigentlich nicht warst?"
Ich höre, wie Michael am anderen Ende der Leitung leise seufzt und sich für die Frage entschuldigen will, aber ich stoppe ihn dabei.
,,Nein, alles ist okay. Die Frage kam nur unerwartet und ich weiß nicht so recht, wie ich sie beantworten kann."
Ich möchte das erste Mal in meinem Leben ehrlich sein und ihm die Wahrheit sagen.
,,Vielleicht habe ich mich ja wirklich all die Jahre versteckt und wirklich hart versucht, wie meine Schwester zu sein, aber es hat geklappt und ich weiß nicht mehr, wie ich aufhören kann, sie zu sein."
Manchmal, wenn ich in Gedanken schwelgte, war ich immer noch Kathrina, das gehässige und unhöfliche Mädchen. Ich fühlte mich, als hätte ich zwei Persönlichkeiten mit eigenen Namen und Annabell hat die Oberhand, da Kathrina nicht mehr wollte. Kathrina war fertig mit ihrem Leben und der Welt, aber Annabell erblühte geradezu und freute sich auf ihre Zukunft.
Es ist schon viel zu spät, um jetzt noch alles klarzustellen und ehrlich zu sein, aber wenn ich doch schon die Gelegenheit dazu habe, dann sollte ich sie nutzen.
Im besten Fall bleiben mir noch zwanzig Jahre, vielleicht auch weniger und nun kann Michael seinen zukünftigen Kindern von der besten Freundin seiner Mutter erzählen, die für ihn wie eine zweite Mutter war. Die zweite Mutter mit der größten Lüge, die er je gehört hat, wie er selbst sagt.
,,Ich hoffe, es ist das, was du hören wolltest. Die Wahrheit meiner größten Lüge und meines Lebens", sage ich Michael noch am Telefon, bevor ich mich verabschiede und auflege.
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