The Present

Es war im Sommer 2016, dass ich das erste Mal jemandem die ganze Geschichte von Kathrina Hegen erzählt habe. Michael, der schon längst bei den Hatherleys ausgezogen war und auf eigenen Beinen stand, fand den Ausweis von Annabell, meiner Schwester, bei der Suche nach Familienfotos von mir und den Hatherleys. Ich hatte eine Schublade voller alter Erinnerungen in meinem Appartement, wo ich auch den Ausweis meiner Schwester aufbewahrte. Normalerweise befand sich dieser immer in meinem Portmonee, aber im Laufe der Jahre hatte ich ihn weggelegt. Er fand ihn, sah das Bild, dass nicht nach mir aussah und vergleichte das Bild, aber auch das Geburtsdatum mit meinem tatsächlichen Ausweis.

Er stellte mich zur Rede und ich war wie erstarrt. Ich konnte endlich mein Geheimnis jemandem erzählen, ich hatte die Gelegenheit und nutzte sie endlich. Ich hätte Mrs Hatherley damals meine Geschichte erzählen können und habe es abgelehnt.

,,Heißt du wirklich Annabell Hegen?", hatte mich Michael gefragt und ich musste lange für diese Antwort überlegen. Ich hätte die Frage vor einigen Jahren sogar noch ohne zu zögern bejaht, aber die Vergangenheit als Kathrina Hegen holte mich ein und brachte mich durcheinander.

,,Ich habe meinen Namen offiziell in Annabell Hegen geändert und hier kennt mich jeder nur als Annabell."

Wie hätte ich diese Frage auch anders beantworten können?

Ich bin nach dem Gespräch mit Michael in meine Heimatstadt gefahren und sitze nun in einem eher billigen Hotelzimmer. Das Bett ist weich, frisch bezogen und das Zimmer an sich sehr klein, aber ich werde nur einige Tage bleiben. Ich weiß nicht mehr wirklich, warum ich unbedingt nochmal zurückkommen und Kathrina Hegens Erinnerungen erleben wollte, aber es war lange her, seit ich das letzte Mal hier war. Die Stadt hat sich verändert, neue Läden wurden eröffnet, neue Häuser gebaut und neue Menschen geboren.

Michael, der bald heiraten wird und eine Familie gründet, hatte natürlich keine Ahnung, dass ich kurzzeitig abreise. Mr Hatherlay, der bereits schon im stolzen Alter von Fünfundachtzig war, wollte Michael zwar das Haus überlassen, aber dieser weigerte sich. Er wollte kein altes Haus haben, in dem seine Mutter verstarb, was er wohl nie gesagt hat, aber wir alle wussten.

Mrs Hatherley verstarb vor drei Jahren an einem Herzinfarkt. Sie wollte unbedingt Michaels Hochzeit miterleben, aber leider kam der Tod ihr zuvor. Es gab eine riesige Beerdigung, da Mrs Hatherley viele Schwestern und Brüder hatte und in all den Jahren sah ich Mr Hatherlay das erste Mal weinen. Ich selbst konnte an der Beerdigung einfach nicht teilnehmen, weil es mir zu schwer fiel, aber ich besuche ihr Grab einmal in der Woche.

Einzig und allein zu Michael, dem Ältesten ihrer Kinder, habe ich noch Kontakt. Loreen, die Jüngste, schickt mir manchmal noch Postkarten aus Kanada und zu Mr Hatherlay habe ich seit dem Tod von Mrs Hatherley keinen wirklichen Kontakt mehr. Er hatte seine Frau tot aufgefunden und alles in die Wege geleitet. Als ich wie üblich zum Kaffee und Kuchen am Mittag vorbeikam, stand er mit Tränen in den Augen vor der Tür und erklärte mir, dass Mrs Hatherley, meine älteste Freundin, von uns gegangen sei.

Ich mache mich bereits fertig um die Gräber meiner Eltern aufzusuchen, so wie das meiner Schwester. Ich empfinde immer noch Schuld gegenüber meiner Eltern. Ich hätte sie nicht in solch schwierigen Zeiten verlassen sollen und ich kann niemanden fragen, wie es meinen Eltern vor ihrem Tod ging. Vermutlich dachten meine Eltern, ich wäre längst tot und ich denke, dass es so am Besten für alle war. Ich konnte meine Eltern doch nicht in dem Glauben sterben lassen, dass ihre letzte lebende Tochter ihnen nicht mehr in die Augen sehen konnte und deswegen in eine andere Stadt flüchtete. Besonders, weil sie Angst vor Verantwortung und der Realität hatte.

Damals glaubte ich noch, dass Annabell in mir weiterleben würde, wenn ich mich als sie ausgeben würde. So starb also nicht Annabell, sondern Kathrina. Ich wollte nicht mehr die Frau mit der toten Schwester sein, die jeder bemitleidete. Annabell war doch die Gute, Kathrina hätte an ihrer Stelle sterben sollen, munkelten sie alle hinter meinem Rücken. Jeder hatte Annabell geliebt.

Ich wollte jemand neues sein, eine neue Identität haben und in einer Lüge leben, einer schönen Lüge. Kathrina Hegen war eine Pessimistin, die nur auf der faulen Haut lag und sich weigerte, einen Mann zu finden und sesshaft zu werden, wie es jedes andere Mädchen tat.

Ich weiß nicht, ob mich irgendwer auf dem Weg zum Friedhof erkannt hat, da ich bereits Falten habe und meine Haare eine gräuliche Farbe besaßen. Der Friedhof war gepflegt und voller schöner Blumen, dass ich beinahe die Gräber meiner Familie verpasst hätte. Ich kenne keine Gebete, die ich sprechen kann für meine Familie, aber wüsste ich welche, würde ich sie aufsagen.

Das Grab meiner Mutter hatte einen frischen Blumenstrauß auf ihm liegen und ich ging davon aus, dass mein Onkel ihn dort hingelegt hatte. Mein Onkel und ich hatten eine gute Beziehung zueinander und von ihm hatte ich den Humor, aber nach der Beerdigung von Annabell sah ich ihn nicht mehr, sondern hörte ihn nur noch mit meinem Vater streiten. Mein Onkel war gegen eine arrangierte Ehe und pflichtete mir immer bei, dass ich weiter dagegen protestieren sollte.

Loreen hatte mich in ihren jungen Jahren einmal gefragt, warum ich nicht verheiratet sei und ich konnte ihr grinsend sagen, dass ich gegen Ehen war und nie heiraten wollte. Viele unterstellten mir deswegen eine romantische Beziehung mit Mr Hatherlay, aber Mrs Hatherley sah in mir keine Mistress ihres Mannes, sondern eine Freundin, die Schutz suchte. Für Mr Hatherlay war ich dagegen nur ein Mädchen, dass seine Frau angeschleppt hatte. Er nahm mich herzlich in seine Familie auf, sprach aber nie mehr als einige Sätze mit mir. Er interessierte sich ebenfalls auch nicht für meine privaten Angelegenheiten, sondern nur um die Arbeit.

Ich laufe noch einige Zeit durch meine Heimatstadt und erinnere mich an die schönen Tage, die ich dort verbracht habe. Meinen ersten Kuss mit einem schmierigen Jungen, meine erste Party mit meinen Freundinnen, Annabells ersten verlorenen Zahn und so weiter, bis ich letztendlich vor meinem alten Haus stehe. Es ist in die Brüche gekommen und der Vorgarten sieht schlecht gepflegt aus, aber dennoch normal. Die Haustür ist bereits in einer anderen Farbe lackiert worden und der Putz besitzt einige Risse.

Das wird mein letzter Aufenthalt in meiner Heimatstadt sein. Ich wurde zwar als Kathrina Hegen geboren, aber werde als Annabell Hegen sterben.

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