Vicki

Ich betrat das Krankenhaus mit gemischten Gefühlen. Meine Empfangsdame war nicht da. Toll. Dabei verstand ich mich mit Doris doch so gut. Ich wollte einfach an ihr vorbeigehen, doch ich wurde unterbrochen:
„Wo wollen sie hin?"
Fantastisch, die Neue hatte nicht nur eine furchtbare Stimme, sondern war auch noch verdammt neugierig. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass es sie am wenigsten anging, wo ich hinging, doch dieser Ort raubte mir die Kraft um mich aufzuregen, daher ging ich einfach und ließ sie stehen. Lieber fragte ich eine der Krankenschwestern auf der Etage, falls meine Schwester nicht auf ihrem Zimmer sein sollte.
Der Fahrstuhl war defekt, weshalb die Treppen wesentlich voller waren als sonst. Vor mir war eine ältere Frau, die mit ihrem Rollator hantierte. Es war offensichtlich, dass die Treffenstufen viel zu schmal waren für dieses Unterfangen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Heute war einfach nicht mein Tag:
„Kann ich ihnen irgendwie helfen?"
Die Frau warf mir einen giftigen Blick zu:
„Ich schaff das schon!"
Und wütend vor sich hin murmelnd versuchte sie weiter die Treppe zu erklimmen; man merkte, dass meine Frage sie anspornte.
Die gefällt mir.
Schließlich erreichte ich meine Etage, widerstand dem Impuls der alten Frau zum Abschied zu winken und ging Richtung Zimmer 212. Meine Hände waren so verschwitzt, dass ich kurz befürchtete das Einwickelpapier der Blumen zu durchweichen. Dumm, ich weiß.
Kaum war ich in Vickis Zimmer öffnete ich das Fenster. Ich weiß noch, wie sehr sie es liebte den Wind in ihren Haaren zu spüren. Als ich mich dann endlich traute mich zu ihr umzudrehen, lag sie ganz friedlich da. Wäre es nicht wegen diesem ruhigen Gesichtsausdruck, hätte ich schon längst die Nerven verloren. So hatte ich wenigstens noch die Hoffnung, dass sie was angenehmes erlebte, wo auch immer sie gerade mit ihrem Kopf war.
Ich öffnete den Mund, doch merkte, dass ich einen Kloß im Hals hatte, weshalb ich mich erstmal räuspern musste:
„Hallo, Vicki. Ich hoffe es geht dir gut."
Auch wenn ich wusste, dass es albern war, versuchte ich meine Stimme fröhlicher klingen zu lassen. Genau wie früher:
„Ich hab Blumen für dich. Eigentlich sollte sie jemand anderes von jemand anderen bekommen, aber er hatte seine Chance verspielt und sie mir für dich überlassen."
Ich nahm die Vase, ging ins Bad und füllte sie mit lauwarmem Wasser, in welches ich den Strauß stellte. Dieser kam dann wieder sanft auf den Nachttisch:
„Ich glaube, ich habe dir noch nicht von Florence erzählt",
ich setzte mich auf den Stuhl neben Vickis Bett und nahm ihre Hand:
„Sie ist eine liebe und schüchterne Frau ungefähr in meinem Alter und arbeitet bei der Tanke in der Nähe meiner Wohnung. Für sie war der Strauß gedacht gewesen. Vom Lieferanten der Tanke, Danny, ein netter und hilfsbereiter Mann. Beide würden dir gefallen."
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich mit meinem Daumen leichte Kreise über Vickis Handrücken zog:
„Vielleicht sollte ich dir bald mal die Haare bürsten. Ich weiß, die Krankenschwestern kümmern sich gut um dich",
an dieser Stelle wurde meine Stimme plötzlich wacklig; ich versuchte es durch ein Schmunzeln zu verbergen:
„Du hast sie einfach in deinen Bann gezogen. Das konntest du schon immer."
Meine Hände zitterten leicht und der Kloß in meinem Hals war größer geworden. Nach ein paar Atemzügen konnte ich wieder halbwegs normal sprechen:
„Doch ich weiß ja, wie gerne du die Zöpfe getragen hast, als ich sie dir geflochten habe. Das könnten wir ja mal wiederholen."
Am Anfang fand ich es seltsam, keine Antwort zu bekommen, wenn ich redete. Dann bildete ich mir immer Reaktionen von ihr ein: ein Zucken des kleinen Fingers, ein Flattern der Augenlider. Immer wieder rief ich eine Krankenschwester, doch nie war es nachweislich passiert gewesen. Mittlerweile dachte ich mir immer meinen Teil, ließ ihr aber noch Zeit, falls sie mal eine Reaktion zeigen sollte:
„Mach dir keine Sorgen, Vicki. Ich krieg das schon hin. Und dann-"
Wie gerne hätte ich ihr davon erzählt, was wir alles in der Zukunft machen könnten. Doch ich wollte sie auch nicht unter Druck setzen, beziehungsweise schaffte ich es einfach nicht. Darum wiederholte ich einfach nur, was ich vorher gesagt hatte:
„Ich krieg das hin. Versprochen."
Erst jetzt merkte ich, dass das Bild vor meinen Augen verschwommen war. Schnell blinzelte ich diese bescheuerten Tränen weg; stattdessen umgriff ich die Hand meiner kleinen Schwester umso stärker.
Ich liebe dich, Tink. Bitte, verlass mich nicht.
Bitte leide nicht.
Stille, während sich nun doch eine Träne aus dem rechten Auge stahl. Ich konnte sie nicht wegwischen. Plötzlich fühlte ich mich so erschöpft. Und dann war da seine Stimme, die die Stille durchbrach:
„...Darum machst du das Ganze also."

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