Schlauer als die anderen

Wieder begann ein neuer Tag, an dem ich genug Zeit hatte, die Wand anzustarren und die Gedanken kreisen zu lassen. Noah würde sicher gleich seinen ersten Kontrollgang machen, um zu sehen, ob ich den Geist schon aufgegeben hatte. Mir tat er schon ein bisschen leid. Sicher machte er sich Sorgen um mich, aber ich musste mich erstmal selbst wiederaufbauen, bevor ich ihn aufmuntern konnte.

Sein Klopfen blieb aus, dafür klingelte es aber mehrmals an der Haustür.  Das Geräusch jagte mir einen Schauer über den Rücken und ließ mein Herz für einen Moment aussetzen. Jetzt würde ich also sterben, Noah wahrscheinlich gleich mit, das waren meine Gedanken und sie bereiteten mir schwitzige Hände.

Ich ging aus dem Zimmer und vorsichtig die Treppe herunter und sah Noah schleichend aus dem Wohnzimmer kommen. Er gab mir ein Zeichen leise zu sein, als ob es bei Werwolfsohren etwas bringen würde.
Das erneute Klopfen ließ uns beide zusammenzucken.

"Ich bins. Macht auf."
Meine Augen weiteten sich und pure Freude durchfuhr mich, als mir bewusst wurde, dass Resul vor der Tür stand. Ich lief an Noah vorbei um die Tür zu öffnen und  nahm den Werwolf fest in meine Arme. An seinen Locken hing ein Hauch des Geruchs meines Mates, was mir Tränen in die Augen trieb, doch ich riss mich zusammen und löste mich lächelnd von ihm. Er sah gut aus wie immer, mit seinem zu weiten blauen T-Shirt und der kurzen Jeans.

"Da hat mich wohl jemand vermisst", grinste er mich an und brachte mir damit, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment, ein gutes, vertrautes Gefühl.

"Bilde dir bloß nichts darauf ein." Ich  wuschelte ihm wild durch die Mähne und lachte herzlich dabei. Ich hatte es so lange nicht gehört, dass es mir schon fremd vorkam.

"Darf ich rein kommen?", fragte er  und schaute dabei zu Noah, der immer noch hinter mir stand. Dieser nickte und kam auf uns zu.
"Ihr beide habt sicher viel zu besprechen. Ich werde einen kleinen Spaziergang machen", teilte er uns mit, während er sich einen Sonnenhut von der kleinen Gaderobe nahm und an uns vorbei, Richtung Straße lief.

Wir schauten ihm noch kurz hinterher und gingen dann zusammen ins Wohnzimmer, um dort Platz zu nehmen. Ich setzte mich aufgeregt in den Sessel und Resul ließ sich gemütlich auf der Couch nieder, wo er anfing, seine Nase zu rümpfen. Sicher lag es an den Rosen. Es war wirklich ein stechender Geruch, aber ich hatte mich schon daran gewöhnt.
Ich lehnte mich nach vorne, um ihn genau anzuschauen.

"Wie hast du mich gefunden?", fragte ich ihn dann, ohne meinen Blick von ihm zu nehmen.
"Weil ich schlauer bin, als die anderen. Ich kann mir nur nicht erklären, was du hier machst. Du wirst ja wohl kaum Killian verlassen haben, für Noah." Er grinste kurz  und wurde dann plötzlich Ernst. "Oder etwa doch?"

"Ich hab Killian doch nicht verlassen, das würde ich ihm niemals antun und wie meinst du das? Schlauer als die anderen?", hakte ich weiter nach und beobachtete ihn dabei, wie er nervös an seinem T-Shirt herumzog.

"Naja. Ich bin zwar jünger als die anderen, aber genau wie du bin ich ein sehr aufmerksamer Mensch. Als Killian mir und Damiano erzählt hat, was passiert sein soll, wurde mir sofort klar, dass Caleb gelogen haben muss", meinte er und lehnte sich ebenfalls nach vorne.

"Und wodurch?"

"Killian meinte, er hat dich im ganzen Haus gesucht und deine Koffer wären noch da gewesen und wer haut schon ohne Koffer ab? Außerdem hab ich eine gute Menschenkenntnis. Du hast ihn am Strand nicht alleine gelassen, wärst lieber mit ihm gestorben, als zu flüchten und dann lässt du dich markieren und haust einen Tag später ab. Sinnloser geht's ja wohl kaum." Er verdrehte die Augen und schaute mich dann fragend an.
"Was ist hier los, Alicia?"

Ich erzählte ihm alles, was ich wusste. Er war auf meiner Seite, darüber war ich mir sicher. Erst Noahs Geschichte und dann meine. Er hörte aufmerksam zu, nickte immer wieder besorgt und war fassungslos über die Wahrheit von Lindas Tod.

Nun wusste er alles und wir saßen uns schweigend gegenüber. Er blickte nachdenklich durch das Fenster zu den Rosen und schüttele ab und zu leicht den Kopf.  Wahrscheinlich ging er gedanklich alles nochmal durch und fand das ganze Spektakel genauso unnötig wie ich.

Als die Haustür dann aufging, schauten wir beide in die Richtung und Noah unterbrach die Stille.
"Killian sucht mit mehreren Rudelmitgliedern den ganzen Wald ab", teilte er uns außer Puste mit und sofort wurde mir so übel, dass ich tief durchatmen musste, um mich nicht auf der Stelle zu übergeben. Auch Resul sah gequält aus. Es tat mir so leid, ihn in alles mit rein gezogen zu haben. Die Leichtigkeit seines Charakters verschwand, umso mehr Geheimnisse ihn umgaben.

"Was sollen wir machen?", fragte er und ich hörte die Sorge in seiner Stimme, doch konnte sie ihm leider nicht nehmen.
"Wir könnten es einfach Killian erzählen, dann weiß er Bescheid und wird Caleb verstoßen", sprach er dann weiter, doch ich nahm ihm diese Hoffnung gleich wieder weg.

"Resul, verstehst du es nicht? Ich bin ein Mischling. Caleb ist in vollem Recht, mich  zu verstoßen. Keiner würde ihm widersprechen. Außerdem hat er mir gedroht, Killian zu töten, sollte ich ihm ein Wort sagen. Das riskiere ich ganz sicher nicht."
Ich lehnte mich zurück in den Sessel und atmete langsam durch, während Noah neben Resul Platz nahm.

"Dann müssen wir ihm eine Falle stellen. Caleb wird eure Verbindung nie zulassen und verstoßen können wir ihn nicht, er ist immerhin der Oberalpha. Wir müssen eine Situation erschaffen, in der Killian gezwungen ist, ihn zu töten. So hart es klingt", meinte Noah und wurde von Resul nickend angeschaut.

Zum ersten Mal wurde ich laut gegenüber Noah. Wütend stand ich auf und lief vor den beiden hin und her.
"Seid ihr verrückt geworden? Mit so einer Last soll Killian leben? Den eigenen Vater getötet zu haben? Das tue ich ihm nicht an. Es muss einen anderen Weg geben", zischte ich sie an, doch noch während ich das tat, tat es mir leid.

"Ist Killian nicht selbst ein Mischling, wenn seine Mutter einer war", warf Resul fragend ein und brachte auch mich damit zum Nachdenken.
Der Gedanke war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, doch es war nicht möglich .

"Ich würde sofort erkennen, wäre er einer. Ich denke man muss einen normalen Menschen als Elternteil haben, um so zu werden, wie ich", erklärte ich ihm dann, ohne zu wissen, ob es wirklich so war.

Stundenlang diskutierten wir hin und her. Darüber, Killian einzuweihen, darüber, wie weit Caleb gehen würde, darüber, abzuhauen und darüber, Caleb zu töten.

Draußen war es bereits dunkel geworden und trotzdem hatten wir immer noch keine Lösung, bis Noah eine Idee hatte.
"Ich hab einen Plan, um ihm seinen Rang abzusprechen. Das habe ich noch nie jemanden erzählt und es birgt viele Risiken, vor allem für Linda."

"Für Linda?", fragten Resul und ich gleichzeitig und schauten dabei verwirrt zu Noah, während dieser aufstand und bereit war, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. 

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