Kapitel 3
Was?
Der redet doch nicht etwa von mir, oder?
Für einen kurzen Moment steht alles still. Er knurrt noch einmal. Wie ist das überhaupt möglich? Wie kann ein menschliches Wesen knurren? Er atmet schwer. Seine Brust hebt und senkt sich langsam, seine Nasenflügel flattern. Plötzlich zuckt seine Oberlippe und er fletscht die Zähne. Ich zucke zusammen. Hat der seine Pillen heute morgen nicht genommen oder so? Was ist falsch bei dem? Hält der sich für einen Hund?
Seine Augen verengen sich zu Schlitzen und in Sekundenschnelle steht er hinter Megan. Er knurrt und zieht sie an ihrem T-Shirtkragen ruckartig zurück. Sie schreit kurz auf, stolpert ein paar Schritte nach hinten und fällt mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Zischend zieht sie Luft ein. Mit einem schmerzverzehrten Gesicht drückt sie ihren linken Ellenbogen an ihren Körper.
Ich sehe wieder zu dem Verrückten Hundetypen. Seine Augen sind schwarz wie die Nacht. Was stimmt mit dem nicht? Er hat gar keine Iris mehr, nur noch eine Pupille. Er knurrt noch einmal. Erst jetzt, wo er direkt vor mir steht, kommt mir der Gedanke, wegzulaufen. Aber ich bin immer noch wie versteinert. Er hebt seine Arme. Oh Gott. Er wird mich umbringen. Ich werde sterben. Meine Kehle schnürrt sich zusammen. Ich kneife meine Augen zusammen und erwarte den Schmerz. Aber er kommt nicht. Stattdessen schlingen sich seine muskulösen Arme zärtlich um meine Taille und er zieht mich liebevoll an seine steinharte Brust. Sein Kopf vergräbt sich in meinem Nacken und er fährt immer wieder mit seiner Nase über meinen Hals.
Eine Gänsehaut breitet sich über meinem ganzen Körper aus und mich überkommt ein wohliger Schauer, als er mit seinen Fingerspitzen über meinen Rücken streicht. "Meins", murmelt er immer wieder leise vor sich hin und presst mich noch näher an sich. Für einen Moment vergesse ich alles um uns herum und schließe meine Augen. Nur sein warmer Körper ist da, und sein Geruch. Ich seufze auf, er riecht nach Zimt und frischer Waldluft. Alles kribbelt. Sein heißer Atem streicht über meinen Hals. Meine Arme legen sich wie von selbst um seinen Nacken.
Doch dann schaltet sich mein Gehirn wieder ein und mir wird klar, dass ich hier gerade mit einem wildfremden Mann in einem Schulgang kuschele. Und dieser wildfremde Mann scheint zufällig zu glauben, dass ich ihm gehöre. Ich erstarre und lasse meine Arme von seinem Nacken gleiten. Ich spüre, wie er seine Stirn an meinem Hals runzelt. Er knurrt leise und nimmt meine Handgelenke in seine riesigen Pranken. Er zieht meine Arme wieder um seinen Hals und schmiegt sich an mich. Dann führt er mich, ohne auch nur einen Millimeter mehr Platz zwischen uns lassen, einige Schritte rückwärts, bis mein Rücken gegen einen Spind stößt. Er knurrt, diesmal allerdings nicht angriffslustig, sondern eher zufrieden. Mit der einen Hand fährt er mir durch die Haare, die andere liegt ruhig auf meiner Hüfte, sein Kopf immer noch vergraben in meinem Nacken.
Was stimmt bitte nicht mit mir, dass ich mir das einfach so gefallen lasse? Ich kenne den Typen doch überhaupt nicht? Und was hat der eigentlich für Probleme? Warum betatscht der mich grundlos? Das Gefühl von Sicherheit, das ich bis gerade eben noch in seiner Nähe verspürt habe, verwandelt sich langsam aber sicher in Angst. Ich fange wieder an zu zittern und drücke mit meinen Händen gegen seine Brust. Meine Atmung wird flacher. "W-Was ma-machst du da?", frage ich atemlos und versuche, ihn von mir weg zu drücken, aber er bewegt sich kein Stück, sondern knurrt nur. Ich höre meinen rasenden Herzschlag in meinen Ohren. "Lass mich los!", rufe ich lauter. Eine Welle der Panik überrollt mich. Was, wenn er mir etwas antun will?
Er knurrt aggressiv. Ich zucke ängstlich zusammen. Was will der von mir? Ich kenne den Typen doch gar nicht! Und warum zum Teufel will der mich nicht loslassen? Eine Träne läuft über meine Wange. Hysterisch versuche ich, seine Hände von meiner Taille zu lösen. Erst jetzt hebt er seinen Kopf aus meinem Nacken. Seine pechschwarzen Augen starren mich empört an. "Meins", zischt er. Ich schüttele meinen Kopf und mehr Tränen rollen mein Gesicht hinunter. "Bitte lass mich los", flüstere ich mit kratziger Stimme. Anstatt mir zu antworten, zieht er mich nur wieder näher an sich heran. Leise beginne ich zu schluchzen. Ich balle meine Hände zu Fäusten und schlage verzweifelt auf seine Brust ein. Er bewegt sich kein Stück und macht auch keine Anzeichen, dass ihm meine Schläge irgendetwas ausmachen oder er Schmerzen verspürt. Er wirft mir einen finsteren Blick zu und nimmt meine beiden Handgelenke in eine seiner monströsen Hände. Mit dem Daumen seiner anderen Hand wischt er meine Tränen von meinen Wangen. "Tu mir nicht weh, bitte", meine Stimme bricht am Ende des Satzes. "Niemals", antwortet er entschlossen, aber lässt mich immer noch nicht gehen, sondern drückt mich mit dem Gewicht seines Körpers nur noch fester in den Spind.
"Trent?", fragt Megan leise. Ich versuche, zu ihr zu sehen, aber er ist zu groß, ich kann nicht über seine Schultern gucken. Auch der Rest seines gigantischen Körpers schirmt mich von Megans, Ricks und Jeremys Blicken ab. Ich höre, wie Jeremy einige Schritte auf uns zu macht. "Jo, Bro, beruhig dich mal, okay?" Trents Kopf dreht sich in Jeremys Richtung und er atmet kurz durch die Nase ein, als ob er seinen Geruch aufnehmen würde. Sein Kopf dreht sich schlagartig wieder zu mir und er fängt an, an meiner rechten Schulter zu riechen. Er fletscht seine Zähne und starrt Jeremy wütend und herausfordernd an. "Sie gehört mir!", knurrt er bedrohlich in seine Richtung. "Wie kannst du es wagen, sie anzufassen?" Jeremy wird kreidebleich im Gesicht und stolpert ein paar Schritte rückwärts. "I-Ich ha-hatte ja kei-keine Ahnung", stottert er, die Angst ist ihm ins Gesicht geschrieben. Trent beginnt, vor Wut zu zittern. Seine Hände Ballen sich zu Fäusten und er verkrampft sie so stark, dass seine Knöchel weiß werden.
Meine Angst wird mit jeder Sekunde größer. Ich kauere mich näher an den Spind hinter mir, während immer mehr Tränen meinen Augen entwischen. "Trent", sagt Megan sanft. Er knurrt auch sie an, als sie versucht, einen Schritt auf uns zu zu machen. Ich schluchze auf. Was ist das für ein durchgeknallter Psychopath?
"Du machst ihr Angst, Trent", flüstert sie eindringlich. Langsam schleicht sie sich auf uns zu. Dann legt sie ihm eine Hand auf die Schulter. Er dreht seinen Kopf zur Seite und fletscht seine Zähne in ihre Richtung. Beruhigend flüstert sie weiter auf ihn ein: "Du willst sie doch nicht sofort verjagen, oder?" Trent atmet immer noch schwer und versucht, Megans Hand abzuschütteln, aber sie fährt unbeirrt fort. "Lass sie los. Ich bin's nur. Ich will sie dir nicht wegnehmen." Ihre Stimme hört sich an wie Samt. Trents Atmung wird ruhiger. Sein leicht schmerzhafter Griff um meine Handgelenke löst sich. Seine Arme fallen schlaff an seinem Körper herab. Er atmet einmal mit geschlossenen Augen tief durch. "So ist's gut. Ich kümmere mich um sie, okay? Alles ist in Ordnung", flüstert Megan. Trent tritt einen zögerlichen Schritt von mir weg. Sofort greifen Rick und Jeremy nach seinen Oberarmen und versuchen, ihn weiter von mir weg zu zehren. Er reißt seine Augen wieder auf und wirft ihnen wütende Blicke zu. Sein Atmung wird erneut flacher, seine Augen dunkler.
"Jungs", mahnt Megan. "Lasst ihn los. Je näher ihr Caroline kommt, desto bedrohter fühlt er sich. Also macht ein bisschen Platz." Rick hebt abwehrend die Arme und er und Jeremy treten den Rückzug an. Trent beruhigt sich wieder etwas. Ich halte den Atem an. Langsam entfernt er sich von mir. Er sieht mir nicht in die Augen, aber sein Gesichtsausdruck wirkt niedergeschlagen. Ich wage es immer noch nicht, mich zu rühren. Als er ungefähr zehn Meter von mir entfernt ist, kommt Megan zu mir geeilt und zieht mich an meinem Ellenbogen mit sich auf die Treppe zu. "Alles okay?", fragt sie und wirft mir einen besorgten Blick zu. Ich starre ausdruckslos auf den Boden und schüttele den Kopf. Sie presst die Lippen aufeinander. "Ich bring dich hier raus, alles wird gut."
Sie zieht mich die Treppen herunter und auf den Haupteingang zu. Wo bringt sie mich hin? Die ganze Zeit über flüstert sie mir Irgendetwas ins Ohr, aber ich kann ihre Worte nicht ausmachen. Ich höre nur meinen dumpfen Herzschlag und unsere hallenden Schritte auf dem Kunststoffboden in den menschenleeren Schulgängen. Außerdem kann ich nicht mehr richtig sehen, alles ist verschwommen und kleine schwarze Flecken bilden sich an den Rändern meiner Sicht. "Megan, ich... ich kann nicht...", keuche ich. Obwohl mein Satz unbeendet ist, scheint sie mich zu verstehen und legt meinen Arm um ihre Schultern. "Ist schon okay, Care. Ich bring dich hier weg", versichert sie mir.
Wir haben gerade den Ausgang erreicht, als wir ein lautes Fauchen hören. "Mist!", flucht sie und zieht hektisch die schwere Glastür auf. "Care, wir müssen uns beeilen, komm!" Sie zieht mich hastig die Steintreppen herunter. Ich stolpere und kralle mich gerade noch so an Megans Unterarm fest, aber ihr scheinen meine bohrenden Fingernägel nichts auszumachen, sie stützt mich weiter auf den Parkplatz zu.
"Warte doch mal", krächze ich abgehackt, ich schnappe nach Luft, meine Atmung hat sich immer noch nicht beruhigt. Sie wirbelt herum und wirft mir einen giftigen Blick zu. "Ich versuche dir hier zu helfen. Und wenn du nicht nackt mit Trent im Wald landen willst, dann würde ich dir raten, deinen Allerwertesten in mein Auto zu bewegen, und zwar zackig", zischt sie herausfordernd. Sie dreht sich wieder um und stakst auf ein silbernes Auto zu. Meine Augen weiten sich und ich jogge hinter ihr her. Sie setzt sich vors Lenkrad und wartet ungeduldig auf meinen Einstieg auf der Beifahrerseite. Noch bevor ich die Autotür richtig hinter mir zugezogen habe, startet sie den Motor und düst vom Parkplatz.
Nach wenigen Minuten biegen wir in eine schmale steinige Abzweigung von der Straße in den Wald ein. Ich habe mich etwas beruhigt, aber in meinem Kopf schwirren noch etliche unbeantwortete Fragen herum. Ich werfe Megan einen zögerlichen Blick zu. Sie starrt bitter auf den Feldweg vor uns. Ich sehe unsicher aus dem Fenster. Der Wald um uns herum wird immer dichter, je weiter wir den Weg entlangfahren und auch der Untergrund wird holpriger. Meine Finger trommeln ungeduldig auf meinen Oberschenkel.
Plötzlich stöhnt Megan auf und wirft mir einen genervten Blick zu. "Ich kann deine Ungeduld und Unbehaglichkeit quasi spüren. Frag einfach", sagt sie schnippisch. Ich räuspere mich und kratze mich unbeholfen an der Augenbraue. "Was ist hier los, Megan? Was wollte der Typ von mir? Warum ist der der Meinung, ich gehöre ihm? Warum kann der knurren? Und wohin fahren wir bitte?", frage ich zitternd.
"Genau. Fang mit der einfachsten Frage an", antwortet sie sarkastisch. Nervös lacht sie wenige Sekunden später auf. Dann murmelt sie leise zu sich selbst: "Oh Gott, wo soll ich bloß anfangen?" Für einen Moment sagt keine von uns beiden etwas. Mit einer Hand fährt sie sich durchs Gesicht. "Okay, das wird jetzt kompliziert, aber ich gebe mein Bestes."
Ich nicke ihr zu und sie fährt fort: "Alle Leute, die du heute kennengelernt hast, also Sierra, Jeremy, Rick, einfach alle, sind Werwölfe." Ich sehe sie entgeistert an, aber sie sieht nicht aus als ob sie Scherze machen würde, ihre Miene bleibt ernst. Ich fange dennoch an zu kichern. Sie wirft mir einen unbeeindruckten Blick zu und zieht eine Augenbraue hoch. "Du verarschst mich, oder?", frage ich und sehe sie erwartungsvoll an. Sie verdreht die Augen. "Sehe ich etwa so aus?"
Ich schüttele den Kopf. "Ich bin echt nicht in der Stimmung für Scherze, Meg. Es gibt keine Werwölfe." Sie sieht mich finster an. "Ach ja? Und wie bitte willst du mir dann erklären, dass Trent knurren kann? Oder dass er sich extrem schnell bewegen kann? Oder dass seine verdammten Augen schwarz werden können?", zischt sie wütend. Ich zucke zusammen. Mit offenem Mund starre ich sie an und durchforste mein Hirn nach Antworten. Sie hat Recht, ich habe keine anderen Erklärungen dafür, aber Werwölfe?
"Du siehst aus wie ein Fisch", sagt sie beiläufig und abrupt schließe ich meinen Mund. "Hör zu, Care, ich weiß, dass das alles echt überwältigend ist, aber vertrau mir einfach, okay?" Ihre Stimme klingt weicher, verständnisvoller. Ich sehe sie mit großen Augen an und nicke kaum merklich. "Das heißt aber nicht, dass ich dir das mit dem Werwolfkram abkaufe", füge ich schnell hinzu. Megan verdreht die Augen. "Wie auch immer."
Sie atmet einmal tief durch. "Also du kennst die Werwölfe aus Teen Wolf und The Vampire Diaries?"
Ich nicke.
"So sind wir nicht", setzt sie fort. "Wir haben keinen Blutdurst oder brechen uns alle Knochen, wenn wir uns verwandeln. Wir sind vielleicht ein wenig... impulsiv und temperamentvoll, aber sonst sind wir eigentlich wie jeder andere Mensch auch, eben bis auf die Tatsache, dass wir uns in riesige Wölfe verwandeln können." Sie lächelt mich an.
"Und was habe ich damit zu tun?", frage ich etwas nervös. "Du... ähm", sagt sie zögernd und kratzt sich mit einer Hand am Hinterkopf. "Also jeder Werwolf hat einen Seelenverwandten, einen Partner fürs Leben, einen Mate, der für ihn oder sie bestimmt ist. Und du bist Trents Mate."
Ich sehe sie verwirrt an. Trocken sage ich: "Ich bin aber kein Werwolf."
"Das hat nichts damit zu tun. Du bist trotzdem Trents Mate", sagt sie und wirft mir einen prüfenden Blick zu. Ja klar. Das glaube ich ihr natürlich sofort. Man bemerke den Sarkasmus.
"Und naja", erklärt sie weiter. "Wenn ein Werwolf 18 wird und seinen Mate, ob das nun ein anderer Werwolf ist oder ein Mensch, ist egal, zum ersten Mal sieht, verspürt er den Drang... Wie soll ich sagen? Er möchte unbedingt Anspruch auf seinen Mate erheben. Gott, das klingt so komisch", murmelt sie. "Und dabei werden sie durchaus etwas ... besitzergreifend, wie du ja vorhin gemerkt hast. Trent konnte sich nicht mehr wirklich kontrollieren"
Was bitte labert die da? Das ist doch lächerlich. Was ein Quatsch. Ich mustere Megan ganz genau, aber sie wirkt total ernst. Schweigend fahren wir ein paar Minuten weiter durch den Wald. "Ich verstehe immer noch nicht, was für eine Rolle ich hierbei spiele", sage ich leise. Sie seufzt. "Du bist Trents Mate. Und weil er der zukünftige Alpha unseres Rudels ist, bist du seine zukünftige Luna."
Ich verdrehe genervt die Augen. "Wovon redest du? Was bitte ist eine Luna?" Sie beißt sich auf die Unterlippe. Dann antwortet sie: "Ein Alpha ist der Anführer eines Rudels und eine Luna, als seine Gefährtin, die Anführerin. Ein Rudel mit Luna ist stärker als eins ohne, sie ergänzt den Alpha, ist wie seine rechte Hand."
"Aha", sage ich nur unbeeindruckt. "Und der generelle Sinn eines Mates ist...?"
Sie wirft mir einen unsicheren Blick zu und konzentriert sich dann wieder auf den Weg vor uns. "Paarung, Fortpflanzung, nenn es wie du willst", antwortet sie nüchtern.
"Oh mein Gott", flüstere ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. In was für einer Freakshow bin ich hier gelandet? "Megan, ich will dich ja echt nicht angreifen oder so, aber das klingt alles total bescheuert. Ich meine-", sage ich aber sie unterbricht mich und erwidert mürrisch: "Ich bin noch nicht fertig. In jedem Rudel gibt es zusätzlich zum Alpha und der Luna noch einen Beta. Er belegt nach den Beiden den zweithöchsten Rang und ist sozusagen der Stellvertreter des Alphas. In unserem Rudel ist das Jared, mein Mate."
Ich presse die Lippen aufeinander. "Toll", sage ich ironisch. Megan sieht aus, als würde sie mir am liebsten jeden Moment an die Gurgel springen und mich strangulieren wollen. "Und ich glaube dir nichts von dem, was du mir gerade erzählt hast. Ist hier irgendwo eine versteckte Kamera oder so? Das ist doch alles nur eine dumme Art von Streich", sage ich säuerlich. Megan antwortet nicht, sondern ignoriert mich und richtet ihren Blick starr auf die Windschutzscheibe. Schweigend fahren wir einige Minuten weiter. Aber wohin eigentlich?
Ich äußere meine Gedanken und frage grob: "Wohin fahren wir?" Sie sieht mich aus dem Augenwinkel an. "Zum Packhouse", antwortet sie tonlos. Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. "Ein großes Haus, in dem unser ganzes Rudel lebt", erklärt sie eingeschnappt. Ich runzele die Stirn. "Wie groß ist das Rudel denn dann, wenn ihr alle in ein einziges Haus passt?"
"Vielleicht 200 oder 300 Werwölfe. Wir sind aber ein eher kleines Rudel." Ihre Stimme klingt gleichgültig. Meine Augen weiten sich. So viele? Und das bezeichnen die als klein? Ich öffne meinen Mund, um etwas zu fragen, aber Megan murmelt leicht verärgert: "Wir sind in ungefähr zwei Minuten da, also tu mir einen Gefallen und spiel den anderen wenigstens vor, du wüsstest von allem und glaubst mir." Ich nicke ein wenig eingeschüchtert, in ihrer Stimme schwingt ein aggressiver Unterton mit.
Wenig später biegen wir in eine Abzweigung ein und da steht es, das Packhouse. Ich kann meinen Augen kaum glauben. Es ist riesig, ja eigentlich schon monströs und es ähnelt mehr einem Hotel als einem Haus. Es ist fünfstöckig und steht auf einer kleinen Lichtung inmitten dichter Baumreihen. Mehrere Autos sind davor geparkt, an der rechten Seite scheint es aber auch eine Art Garage zu geben. Das Haus an sich hat viele große Fenster und die Wände sind aus dunkelbraunem Holz erbaut. Megan deutet auf das oberste Stockwerk. "Da wohnt der Alpha mit seiner Familie, das unterste Stockwerk wird von Wölfen, die ihre Mates noch nicht gefunden haben, bewohnt und die mittleren drei Stockwerke gehören den einzelnen Familien im Rudel."
Ich nicke, immer noch ein wenig ehrfürchtig. Megan parkt ihr Auto in der Garage und gemeinsam betreten wir durch eine schmale Tür das Haus. Aber anstatt in einem Wohnzimmer oder einer Küche zu landen, stehen wir in einem Treppenhaus, die Wände sind weiß angestrichen und der Teppich auf dem Boden ist dunkelrot. "Unten im Keller sind noch weitere Gemeinschaftsräume und ein großes Konferenzzimmer, die Küche und das Esszimmer befinden sich im dritten Stock", erklärt Megan mir schnell und öffnet eine hölzerne Tür zu meiner Linken. Wir treten in einen weitläufigen rechteckigen Raum. An der einen Wand befindet sich ein Flachbildfernseher und an den anderen Wänden sind mehrere dunkelblaue Couchen aufgereiht. In der Mitte des Raumes steht ein kleiner Tisch, auf dem eine große Schale mit Äpfeln, Weintrauben und Bananen steht. Außer uns ist niemand hier. Am anderen Ende des Zimmers befinden sich einige verschlossene Türen. Vermutlich führen die zu den Schlafzimmern der 'alleinstehenden' Werwölfe.
Megan streckt sich und lässt sich auf eines der Polster fallen. Ich stehe einen Moment lang unbehaglich in der Gegend rum, bis wir leise Fußschritte aus dem Treppenhaus hören. Die hellbraune Tür, durch die wir gerade eben noch selbst gekommen sind, öffnet sich und ein Mädchen mit langen roten Locken kommt herein. Sie ist etwas kleiner als ich und ist ein wenig stärker geschminkt. Ihre Lippen sind knallrot angemalt und ihre leuchtend grünen Augen werden von einem relativ dicken Eyelinerstrich betont. Sie grinst Megan aufgeregt an. "Ist sie das?", quietscht sie vergnügt. Megan nickt. Das Mädchen grinst noch breiter und geht mit großen Schritten auf mich zu. Als sie bei mir angekommen ist, breitet sie die Arme aus und drückt mich an sich. Meine Augen weiten sich. Was ist denn heute bloß los?
"Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dass du endlich aufgetaucht bist! Er hat schon so lange nach dir gesucht", erzählt sie mir hibbelig. "Oh Gott, ich freu mich so." Ich stehe immer noch hilflos und stocksteif in der Umarmung des Mädchens und werfe Megan einen hilfesuchenden Blick zu. Sie kichert hinter vorgehaltener Hand und sieht mich amüsiert an. Dann räuspert sie sich. "Ähm, Care, das ist Cheryl, Trents große, naja vielleicht nicht ganz so große, sagen wir lieber ältere, Schwester."
"Hey! So klein bin ich doch gar nicht!", ruft Cheryl empört. Sie lässt mich los und wendet sich Megan zu. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. "Du", sagt sie dann bedrohlich. Ihr Zeigefinger ist tadelnd auf Megan gerichtet. "Pass bloß auf. Mein Vater ist der Alpha dieses Rudels und mein Bruder wird bald seinen Platz übernehmen. Ich werde dir das Leben zur Hölle machen." Ich sehe Cheryl geschockt an. Meint die das etwa ernst? Vor wenigen Sekunden noch war sie zuckersüß und jetzt? Megans Kinnlade fällt herunter und eine angespannte Atmosphäre legt sich über uns. Es ist totenstill. Ich schlucke schwer.
Dann prusten Megan und Cheryl auf einmal gleichzeitig laut los. Megan dreht sich auf der Couch auf den Rücken und hält sich vor Lachen den Bauch, während Cheryl sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischt, allerdings ohne ihren Eyeliner oder ihre Mascara auch nur im geringsten zu verschmieren. "Der war gut!", kichert Megan und Cheryl kann vor Lachen immer noch nicht sprechen, sie nickt nur mit hochrotem Kopf. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Was war daran jetzt bitte so witzig?
Die Beiden beruhigen sich wieder und Cheryl schnappt sich eine Banane und lässt sich neben Megan auf die Couch fallen. Sie fischt ihr Handy aus den Vordertaschen ihrer hautengen schwarzen Jeans und runzelt die Stirn. "Was wollt ihr eigentlich schon hier? Habt ihr nicht noch Schule?", fragt sie verwirrt. Megan zuckt mit den Achseln und antwortet desinteressiert: "Trent hatte einen kleinen Ausraster. Ist doch aber auch egal. Wir brauchen Schule ja sowieso nicht wirklich." Na Super. Direkt am ersten Schultag werde ich von irgendeinem Freak, Trent, zum schwänzen gezwungen. Meine Mutter wird begeistert sein.
"Du stehst da so unbeholfen rum, setz dich doch, Care", fordert Megan mich mit vollem Mund auf, sie hat sich ein paar Weintrauben aus der Schale genommen. Leicht verärgert setzte ich mich neben sie. "Wie hat sie es eigentlich aufgenommen, also das mit dem Werwolf sein und so?", fragt Cheryl Megan. Ich sitze direkt neben euch, danke.
Megan verdreht die Augen. "Sie glaubt mir nicht", sagt sie mürrisch. Cheryl kichert. "Na dann...", grinst sie und springt auf. Sie zieht uns mit sich auf die Beine. "Dann wird es aber mal höchste Zeit, dass wir dir das beweisen!" Sie hüpft aufgedreht aus dem Raum heraus. Megan stöhnt auf. "Bitte nicht", murmelt sie zu sich selbst zieht mich aber doch hinter Cheryl her. Wir gehen durch eine große Glastür und dann um das Haus herum auf eine kleine Wiese. Etwa 30 Meter weiter beginnt schon wieder der Wald. "Warum hast du mich eigentlich hierher gebracht und nicht zu mir nach Hause?", frage ich beiläufig.
"Trent hat es mir durch den Pack Link, also dadurch können wir uns in unseren Gedanken innerhalb des Rudels verständigen, aufgetragen. Damit er weiß, dass du in Sicherheit bist und sich beruhigen konnte", antwortet Megan. Aha. Der Psychopath schon wieder.
Cheryl dreht sich zu mir und faltet die Hände vor ihrem Mund zusammen. "Bleib genau hier stehen", weist sie mich an und geht ein paar Schritte rückwärts von mir weg. "Bereit?", quiekt sie. Ich nicke unbeeindruckt. Sie atmet einmal tief durch. Dann sieht sie mir tief in die Augen. Ihre normalerweise grünen Augen leuchten gelb auf. Ich zucke zusammen. Was?
Ein schrecklich lautes und angsteinflößendes Knurren ist zu hören. Cheryl springt in die Lüfte und ihr Körper macht ein grässliches Knackgeräusch. Ihre Kleidung zerreißt und ein rotbrauner riesiger Wolf landet auf vier Pfoten dort, wo sie gerade noch stand. Was zur Hölle?
Mein Atem stockt und ich mache instinktiv ein paar Schritte nach hinten, bis ich in Megan hinein pralle. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starre ich sie an. Ich schlucke schwer. Dann nicke ich langsam und flüstere zitternd: "Okay, jetzt glaube ich dir."
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[A/N] Danke fürs Lesen, Voten und Kommentieren!
Ich hoffe es hat euch gefallen.
Das Bild an der Seite ist Cheryl.
xx
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