Kapitel 27
Die Sache, die irgendwie zwangsläufig passiert, wenn man mehr oder weniger non-stop bei seinem Seelenverwandten und dessen Sippschaft lebt, anstatt Zeit mit der eigenen Familie zu verbringen, ist, dass man Dinge verpasst.
Man verpasst, dass der kleine Bruder sein erstes Fußballspiel mit der neuen Mannschaft hatte und dass die kleine Schwester die Lieblingsfarbe von Pink zu Grün gewechselt hat. Man verpasst, dass das Gäste-WC einen neuen Anstrich bekommen hat - hellblau, schrecklich, wie ich persönlich finde - und man verpasst, dass die Mütter der Nachbarschaft sich schon seit Wochen jeden Sonntag zum Wettbacken treffen.
Mit dem Ziel eines harmonischen Familienlebens im Hinterkopf sind das nicht zwingend ideale Vorraussetzungen, aber dennoch zu überwindende Trivialitäten. Umstände, die sich durch einen warmen Nachmittagskaffe und einen intensiven Spieleabend beheben lassen. Keine große Sache.
Gleichzeitig verpasst man allerdings auch die wichtigen Geschehnisse des Lebens und wenn man dann endlich mal versucht, sein davongelaufenes Familienleben einzuholen, stellen sich eben diese also nicht so leicht zu reversieren heraus.
Wie zum Beispiel, dass der eigene Vater sich in der Zwischenzeit dazu entschlossen hat, dass vielleicht manchmal eintönige, aber dennoch liebevolle Familiendasein mit der Mutter hinter sich zu lassen. Und vermutlich mit seiner Kollegin abgehauen ist. Aber da ist sich die Mutter wohl nicht ganz so sicher. Wer weiß, was Wut und Eifersucht so alles dazu dichten.
Man verstehe also die Überraschung und den Schock, die sich nun in mir breit machen, als ich nach einer Woche, in der ich mein Rudel abzulenken vom Tod ihres Alphas und zu unterstützen versucht habe, zum ersten Mal die Haustür aufschließe und mein Familienhaus betrete.
Und wie das erste Mal fühlt es sich definitiv an.
Es ist still, als wäre niemand zu Hause. Und da ist eine gewisse Kälte in den modernen Möbeln, die mich erschaudern lässt und an die ich mich nicht erinnern kann, als ich das Haus vor einer Woche verlassen habe.
Ich würde gerne meine Anwesenheit ankündigen, aber ich fühle mich angespannt, wie das eine minderjährige Tochter vermutlich tut, wenn sie seit einer Woche spurlos verschwunden ist und sich spärliche zwei Mal per SMS gemeldet hat. Habe ich schon erwähnt, dass ich soeben den Preis für Tochter des Jahres bekommen habe?
Die Sonne strahlt durch die halbgeschlossenen Vorhänge hindurch und taucht das Haus in grelles Licht, aber ich ziehe mir trotzdem die Ärmel von meinem - Trents - Hoodie über die Hände, um meiner Gänsehaut entgegen zu wirken. Ich zwinge mich, einen meiner Erziehungsberechtigten aufzusuchen und mich deren Zorn zu stellen. Besser jetzt als später, wenn May und Timothy aus der Schule zurück kommen.
Meine Mutter sitzt am Küchentisch, eine Flasche Wein und eine Flasche Whiskey neben ihr - wer trinkt denn so eine Kombi? - und sie sieht absolut demoliert aus. Haare ein Vogelnest auf dem Kopf, Bluse zerknittert und schwarze Mascara Striemen schmücken ihr rot geflecktes Gesicht. Ihre Augen sind verquollen.
Die Szene kommt mir vague bekannt vor, und bringt mein Herz zum Pumpen. Definitiv kein schöner Anblick, die Mutter am helllichten Nachmittag sturzbesoffen in der Küche aufzufinden, mit dem Wissen, dass etwas schlimmes passiert sein muss, was sie dazu bringt, nicht in der Lage zu sein, sich um die eigenen Kinder zu kümmern.
"Mom", frage ich mit zittriger Stimme. "Was ist passiert?"
Eigentlich möchte ich das gar nicht wissen. So übel das auch klingen mag, aber ich wäre jetzt lieber bei meinem todtraurigen Mate und Rudel, anstatt mich mit der Scheiße rumzuschlagen, in die sich meine Eltern unvermeidlicher Weise immer wieder hinein reiten.
Weder May, noch Timothy, noch Toby, noch ich selbst können etwas dafür, dass die beiden ihren Kram nicht zusammen kriegen. Und trotzdem sind wir diejenigen, die am meisten darunter leiden müssen.
"Dein Vater is 'nen Arschloch, weißt du das?", lallt sie und hält ihren Kopf in den Händen, als könne sie sich sonst nicht aufrecht halten. "Das Einzige, um das er sich schert, ist er selbst. So ein Dreckskerl!"
Ich schließe für einen Moment die Augen und atme tief durch. "Wie viel hast du getrunken?", frage ich harsch nach.
Anstatt mir zu antworten sinkt ihr Kopf auf ihre Schulter und sie murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Ich habe die unbestimmte Befürchtung, dass sie sich gleich auf ihren Ärmel übergeben wird. Als ob ich das jetzt noch brauchen würde. Ich fasse sie an den Oberarmen und lenke Ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Ich warte, bis sie mir widerwillig in die Augen schaut und wiederhole dann: "Wie. Viel. Hast. Du. Getrunken."
Ihre Augen ziehen sich zusammen und sie scheint zu überlegen, doch dann verdrehen sie sich in ihrem Hinterkopf und sie lässt den Kopf nach hinten fallen. Mit zitternden Händen greife ich nach ihrem Kinn, aber ihre Augen scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, sich zu fokussieren. Ich lasse sie wieder los und würde am liebsten zurück zum Packhouse rennen und heulen, aber ich glaube, dass ich heute meine Geschwister aus Schule und Kindergarten abholen muss. Gleich nachdem ich meine Mutter vor einer Alkoholvergiftung gerettet habe.
Ein Teil von mir, auf den ich nicht stolz bin, würde sie gerne so dasitzen lassen und dann sehen was passiert. Der andere Teil ist schon unterbewusst dabei, die Flaschen zu entsorgen und hievt sie aus dem Stuhl. Ich lege einen Arm um ihre Taille und nehme einen von ihren um meine Schultern. Sie ist zierlich, weshalb es nicht schwer ist, sie die Treppen hoch in ihr Schlafzimmer zu transportieren, auch wenn sie mir unvorteilhafte Beschimpfungen und Proteste zu murmelt.
Das Bett ist noch gemacht. Mein Vater war also letzte Nacht nicht hier. Was für rosige Nachrichten.
Ich helfe ihr ins Bett und sollte sie jetzt dazu bringen, mindestens einen Liter Wasser zu trinken, aber in diesem Moment gönne ich ihr das nicht. Ich stelle trotzdem einen Eimer aus dem Badezimmer neben ihr Bett und fülle ihr Wasserglas auf dem Nachttisch auf. Für wenn sie aus dem Rausch aufwacht. Dazu lege ich ihre Aspirintabletten aus der Schublade und zwinge mich seufzend, ihr ein kaltes Tuch auf die Stirn zu legen.
Das ist deine Mutter, erinnere ich mich selbst.
Auch wenn sich das nicht so anfühlt. Kein Kind sollte das miterleben müssen, und dennoch habe ich mich schon damit abgefunden, dass das nicht das letzte Mal war, dass ich mich um meine betrunkene Mutter kümmern muss. Und das erste Mal war es ja sowieso schon nicht.
Eine gute Tochter würde sich jetzt zu ihrer Mutter setzen und aufpassen, dass sie nicht an ihrer eigenen Kotze erstickt.
Eine gute Mutter würde ihre Tochter gar nicht erst in eine derartige Situation bringen, in der sie sich so um ihre unzurechnungsfähige Alkoholikerin von Mutter kümmern muss.
Wir sind also beide nicht gut.
Wie passend.
Ich wische mir die Tränen, die irgendwann - zwischen dem Entsorgen des Alkohols und dem Versorgen meiner Mutter - zu laufen begonnen haben, von den Wangen und stapfe aus dem Zimmer. Ich kann das nicht länger mit ansehen.
Auf dem Küchentisch steht ein benutztes Weinglas, das meine Mutter vermutlich nach einem ersten Entleeren aufgegeben und stattdessen aus der Flasche getrunken hat.
Sie macht mich so wütend.
Meine Sicht verschwimmt an den Rändern und ich kann meine Schluchzer nicht mehr unterdrücken.
Das ist nicht fair.
Warum muss ich mit so einer Mutter gestraft sein?
Warum muss ich so etwas mit ansehen und warum muss ich diejenige sein, die sich darum kümmern muss?
Wo ist mein Vater?
Und warum zur Hölle kann ich meine Mutter nicht dafür hassen?
Wutentbrannt schmeiße ich das Weinglas an die Wand.
Es zerbricht in tausend Scherben und ein wässrig roter Fleck, da, wo der kleine Weinrest aus dem Glas aufgekommen ist, bildet sich an der Wand. Direkt unter unserem letzten Familienfoto mit Toby. Da waren wir noch nicht ganz so kaputt. Da musste ich mir noch keine Sorgen um die Zukunft meiner kleinen Geschwister machen, wenn ich mal ausziehe. Da gehörte mein schwuler Bruder noch offiziell zur Familie.
Ich kann kaum noch atmen, vor lauter schluchzen. Mit einer Hand halte ich mich am Küchentisch fest und lasse mich auf den Boden gleiten. Ich umklammere das Tischbein und höre zu, wie mein Herz gegen das Holz des Tisches klopft.
Mir ist schwindelig und speiübel. Aber ich rühre mich nicht, sondern jammere mir nur selbst weiter zu, wie unfair es ist. So verdammt unfair.
Ich weiß nicht, wie lange ich da auf dem Boden sitze, aber ich hab mir bestimmt schon längst eine Blasenentzündung von den kalten Küchenfließen eingefangen, als mein Handy klingelt und mich aus meiner Trance rüttelt. Mit noch leicht zitternden Händen und Schluckauf ziehe ich es aus meiner Pullitasche. Ein Bild von meinem Vater taucht auf dem Display auf und ich drücke ihn instinktiv weg. Mir fehlen jetzt definitiv die Nerven, zivilisiert mit ihm zu reden.
Ein letztes Mal atme ich tief durch, wische mir Tränen und Schnodder aus dem Gesicht und mache mich daran, die Scherben aufzuwischen. Nachdem ich die größeren Stücke mit der Hand aufgesammelt habe, nehme ich sogar noch den Staubsauger, um auch die kleinsten Scherben zu entsorgen. Ich würde es mir nicht vergeben, wenn sich May oder Timothy verletzen würden, nur weil ich meine Wut und Verzweiflung nicht zügeln kann.
Wie eine Verrückte durchwühle ich dann die ganze Küche nach den geheimen Alkoholverstecken meiner Mutter und würde auch diese Flaschen am liebsten zerschmettern, aber ich möchte nicht den gleichen Fehler wie vorhin mit dem Weinglas machen. Stattdessen verstaue ich sie in einer Kiste in unserer Garage, mit dem Gedanken, sie demnächst in der Nachbarschaft zu verteilen, denn manche von diesen Menschen hier könnten eine kleine Auflockerung ganz gut gebrauchen. Oder jedenfalls mehr als die Person, die mich zur Welt brachte.
Danach schnappe ich mir die Autoschlüssel meiner Mutter und mache mich auf den Weg zu Timothys Schule. Ich bin zwar noch früh dran, aber ich kann einfach nicht länger zu Hause rumsitzen und nichts tun.
(Vielleicht hole ich mir auch vorher noch einen Milkshake und ein Käsesandwich und Hotdog für meine Geschwister - Kummerspeck und so - aber das muss ja niemand wissen.)
Während ich auf dem Parkplatz seiner Middle School stehe und warte, werde ich erneut von meinem Vater angerufen, aber ich ignoriere ihn. Mein kleines Zuckerhigh von meinem Shake wird er mir nicht nehmen!
Doch dieser eine Blick auf mein Handy macht mich stutzig. Da ist Blut auf dem Bildschirm und hinten auf der Handyhülle auch. Ich lege es vorsichtig auf den Beifahrersitz und betrachte meine rechte Handfläche.
Tatsächlich. Meine Hand blutet.
Komisch. Dass ich das gar nicht bemerkt habe. War ich wirklich so abgelenkt?
Beim genaueren Inspizieren meiner Fingerkuppen finde ich auch den Schuldigen. Kleine Glassplitter stecken in meiner Haut und scheinen sie aufgerissen zu haben. Ich war wohl nicht vorsichtig genug, als ich das kaputte Weinglas beseitigt habe.
Meine Finger pochen leicht und schwerschluckend streiche ich mit meinem Daumennagel über die Wunden. Zischend atme ich ein.
Ah. Wie schön. Da ist er ja, der Schmerz. Hatte ihn schon vermisst.
Ich nehme eine Packung Taschentücher und mein kleines Desinfektionsmittelfläschchen aus meiner Handtasche vom Beifahrersitz und fange an, das Blut von meinem Handy, dem, wie ich jetzt auch feststelle, mit Blut befleckten Lenkrad und meinem Milkshake herunter zu waschen, bevor ich mich sanft den Splittern zuwende und versuche, sie aus meiner Haut zu pflücken. Hätte der Schmerz nicht erst auftauchen können, nachdem ich meine Hand notbedürftig verarztet habe?
Mein Handy meldet sich wieder zu Wort und ich will eigentlich wieder direkt auflegen, aber diesmal ist es Toby, der mich zu erreichen versucht. Ich hab schon länger nicht mehr mit ihm gesprochen und er kann mir bestimmt helfen, mit dieser Situation klar zu kommen. Er hat das ganze ja vor dem Umzug selbst schon oft genug mitbekommen.
Ich drücke auf den grünen Hörer, doch bevor ich auch nur einen Ton sagen kann, fragt Toby hektisch: "Stimmt das?"
Ich mache den Lautsprecher an und lege mein Handy wieder auf den Beifahrersitz, damit ich meine Hand weiter versorgen kann.
"Hallo liebste Schwester, ich habe lange nicht mehr von dir gehört, wie geht es dir an diesem wunderschönen Nachmittag?", antwortete ich leicht schnippisch und mit Schmerz verzerrtem Gesicht. "Ah, Toby, danke der Nachfrage. Mir geht es wunderbar und wie ist es so bei meinem liebsten Bruderherz?"
"Caroline", sagt er entnervt. "Das ist nicht witzig. Ich bin halt nicht da und kriege das sonst nicht mit. Stimmt das?"
Ich runzele die Stirn. Wovon redet der? "Stimmt was?", frage ich also, nicht wirklich in der Stimmung, lange um den heißen Brei zu reden, wenn er so aufgeregt klingt.
"Du weißt es nicht? Du lebst doch bei ihnen?", wirft er mir entsetzt vor und seine Stimme wird mit jedem Wort höher und quietschender. Innerlich zucke ich zusammen. Leben tue ich bei meiner Familie in letzter Zeit nicht mehr ganz so wie ich eigentlich sollte.
"Ich weiß was nicht? Geht es um Mom und Dad? Und ich dachte du wüsstest nicht, ob es stimmt?", frage ich verwirrt, aber gleichzeitig auch peinlich berührt, dass ich tatsächlich keine Ahnung habe, was so Erschütterndes passiert ist.
"Ja, weil ich es einfach nicht glauben kann."
Stille. Spann mich nicht so auf die Folter, Toby.
Er räuspert sich.
"Dad hat Mom verlassen."
Mein Herz überstolpert den nächsten Schlag und ich habe das Gefühl, man hätte mir in die Magengrube geschlagen.
"Was?" Mein Hals ist staubtrocken und alle meine Glieder sind zu Stein erstarrt. Unmöglich.
"Ich weiß auch nicht, ob ich das glauben kann, aber Dad hat mir geschrieben, und allein das konnte ich schon nicht glauben, weil ich so lange nichts von unseren Eltern gehört habe und ich dachte noch nicht einmal, dass er meine Nummer noch hat, weißt du? Und fuck, aber er will das Sorgerecht, Caroline, nach der Scheidung und ich glaube, er will, dass wir alle wieder zu ihm ziehen, in das alte Haus, also praktisch in die gleiche Stadt, in der ich auch jetzt wohne und ich hab nicht den blassesten Schimmer, was ich davon halten soll, aber ich glaube das ist gut, oder? Ist das gut? Für uns, für May und für Timothy? Das ist einfach so surreal und ich kann das ..."
Weiter höre ich ihm nicht zu. "Toby", krächze ich, das Atmen fällt mir wieder schwer. "Ich muss los."
Ich lege auf, bevor er noch etwas anderes sagen kann. Ich werde mich einfach später entschuldigen.
Nur wenige Sekunden später werde ich von meinem Vater angerufen. Wenn man vom Teufel spricht. Diesmal drücke ich ihn nicht weg.
Seine Stimmt erscheint mir wie die eines Todesengels am Anfang der Apokalypse.
"Caroline. Wir müssen reden."
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[A/N] Frohes neues Jahr! Auf dass ich es endlich mal gebacken kriege, regelmäßig zu updaten!
Ich hoffe es hat euch gefallen.
Wenn dem so sein sollte, dann würde ich mich riesig über Votes, Kommentare und neue Follower freuen! ❤️
(Auch wenn ich so eine miserable Autorin bin, die wesentlich öfter neue Kapitel posten sollte und ich somit eigentlich gar nicht das Recht habe, nach überhaupt irgendwas von meinen Lesern zu fragen... oops)
Was denkt ihr passiert als nächstes?
Und habt ihr überhaupt noch Interesse an diesem Buch?
Let me know xx
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