Before
Ella P. o. V.
Da ich selber noch keinen Führerschein hatte, musste ich mit dem Rad zum Cafè fahren. Meine Hände schwitzten und zitterten schon wieder, als ich das Fahrradschloß umklammerte und es am grauen Ständer festmachte, wo bereits einige Räder standen.
Hektisch überprüfte ich mein Aussehen in der Autoscheibe eines weißen Lieferwagens, der gleich vor dem Cafè parkte.
Das Cafè, in dem Amelie arbeitete.
Das Cafè, das ich gleich betreten würde.
Bevor ich allerdings dazu kam, die dunkelbraune Klinke auch nur mit meiner stark bebenden Hand zu berühren, kriegte ich die mit einem Holzrahmen versehene Glastür fast gegen den Kopf, als ein junger, zornig wirkender Mann wutentbrannt aus dem Cafè stürmte.
"Verdammte Scheiße", knurrte er und eilte ohne mich eines Blickes zu würdigen oder sich gar zu entschuldigen über die Straße davon.
Erschrocken und verwirrt zugleich sah ich ihm nach. Sein langer, schwarzer Mantel wehte im Herbstwind, genau wie sein zerzaustes Haar, welches braun und lockig war. Er hatte eine sportliche Statur, welche auch unter seinen viel zu großen Klamotten nicht verloren ging. Er war attraktiv, das musste ich zugeben, selbst auf dem kurzen Stück, das ich ihn beobachtete, erntete er viele hoffnungsvolle Blicke von weiblichen Interessierten. Er war jedoch im Augenblick viel zu wütend, um diese wahrzunehmen.
Kopfschüttelnd setzte ich mich wieder in Bewegung. Hitze schlug mir ins Gesicht, als ich den Laden betrat, sodass ich mich gezwungen sah, meine runde Brille abzunehmen. Obwohl ich nun alles nur verschwommen sah, erkannte ich sogleich Amelie, die gerade den Tresen wischte.
Ihr weiches Gesicht war von Verbitterung und unterdrückter Wut gekennzeichnet, doch als sie mich erblickte, erschien ein strahlendes Lächeln darauf. Ihre schokobraunen Augen leuchteten vor Wärme und Zuneigung, was ein ganz eigenartiges Kribbeln in meiner Magengegend auslöste.
"Ella!", rief sie ehrlich erfreut und schmiss den Lappen hin. "Du bist wirklich gekommen, wie schön!"
Ich konnte nur überfordert nicken und ließ mich von ihr zu einem Tisch nahe des Fensters führen, von dem man noch immer den finster guckenden Mann mit den braunen Locken und dem langen Mantel sehen konnte. Amelie bemerkte meinen Blick und sofort verdüsterte sich auch der Ausdruck in ihren sonst so lieben, schokoladigen Augen wieder.
"Was war denn mit dem los?", wollte ich unsicher wissen und machte eine lasche Handbewegung in Richtung der Straße.
Amelie winkte rasch ab. "Ach, einige Gäste sind einfach unfreundlich und suchen jemandem, an dem sie ihren Frust auslassen können. Tja, das war dann in diesem Fall wohl eine unschuldige Kellnerin in einem Cafè in Graz." Sie schnitt eine merkwürdige Grimasse.
"Eine unschuldige Kellnerin in einem Cafè in Graz, die gerne Deutsche mit Steirischem Akzent in die Irre führt!", verbesserte ich sie schmunzelnd.
"Ihr lasst euch aber auch verdammt gern in die Irre führen, ihr Deutschen!", sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und wischte sich widerwillig lächelnd mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. "Wie dumme Wanderer, die gerne den Glühwürmchen folgen."
"Bringst du mir bitte einen Kaffe, du Glühwürmchen?", bat ich sie mit einem breiten Grinsen und legte meine Jeansjacke zur Seite.
Obwohl es mir in der Regel ausgesprochen schwer fiel, neuen Leuten zu vertrauen und mich in ihrer Gesellschaft wohl zu fühlen, einfach gehen zu lassen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie ich wirkte oder was ich sagte und tat, so konnte ich gar nicht anders, als genau das in der Gegenwart von Amelie zu tun.
In mir wuchs nun stetig der Wunsch, ihr ein wunderschönes Lächeln zu entlocken.
"Sehr gern", meinte sie und zupfte an einer rot-braunen Strähne, die sich aus dem lockeren Dutt gelöst hatte. Ein kläglicher Versuch, ihre beeindruckende Löwenmähne zu bändigen.
"Darf ich dir noch etwas zu Essen anbieten?", fragte sie galant und auf ein Nicken meinerseits fügte sie hinzu: "Vielleicht einen süßen Kaiserschmarrn à la Amelie?"
Ich runzelte die Stirn. "Wo besteht der Unterschied zu einem normalen Kaiserschmarrn?", erkundigte ich mich verwirrt.
Amelie unterdrückte ein Lachen (obwohl ich es, zugegeben, sehr gerne gehört hätte) und gab schmunzelnd zurück: "Er ist einfach weniger perfekt als der reguläre Kaiserschmarrn, gelegentlich auch zu süß oder viel zu zermatscht. Eine Empfehlung des Hauses!"
Unwillkürlich entfuhr mir nun selber ein Lachen. Eigentlich mochte ich mein echtes Lachen nicht, es war viel zu laut und zu hoch, nicht selten erregte ich damit ungewollt Aufmerksamkeit. Doch wer wäre ich gewesen, wenn ich es in einer solchen Situation unterdrückt hätte?
"Gut, danke für den Tipp, den nehme ich dann bitte einmal", bestellte ich grinsend und pustete mir eine blonde, kurze Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Großartig!" Amelie klatschte einmal in die Hände. Sie zwinkerte mir ein letztes Mal schelmisch zu und verschwand dann hüfteschwingend in der Küche. Auf dem Weg dorthin musste sie sich an mehreren, eng beieinander stehenden Tischen vorbei und viele verschiedene Gäste passieren - gut gelaunte und weniger gut gelaunte, geduldige und ungeduldige, entspannte und verspannte Gesichter kreuzten ihren Blick. Doch jedem von ihnen entlockte Amelie mit ihrer strahlenden, einnehmenden Art zumindest ein kleines Lächeln.
Als sie schließlich zu meinem Tisch am Fenster zurückkehrte, den Kaffe und meinen gewünschten Kaiserschmarrn in ihren weichen, geschmeidigen Händen, beobachtete ich gerade eine ältere Dame, die soeben mit einem grimmigen Gesichtsausdruck den Laden betreten hatte.
Amelie ließ sich kurzerhand auf dem Stuhl gegenüber von mir nieder. "Ich frage mich", fing ich an und griff gierig nach der Gabel, um den Kaiserschmarrn zu essen, der wider Amelies Warnungen ziemlich gut gelungen war, "warum so viele Leute so missmutig und unfreundlich sind. Sie haben doch gar keinen Grund zum Meckern, oder nicht?"
Ich zog die Stirn kraus und leckte mir mit der Zunge über die Lippe.
Amelie schaute mich ernst an. "Das ist aber ziemlich viel, was du da von den Menschen verlangst, Amelie. Überleg doch mal, was das für ein unbeschreiblicher Aufwand wäre - man müsste die Mundwinkel anheben und die Lachfalten anspannen. Und - du meine Güte - man wäre zusätzlich auch noch gezwungen, das Lächeln zu halten, zumindest für ein paar Sekunden!"
Ein Glucksen entwich mir.
"Du hast Recht, das ist völlig unmöglich!", lenkte ich schließlich ein und nahm einen großen Schluck von dem Kaffe vor mir.
Ein ganz anderes Lächeln hatte sich nun auf Amelies pralle, rote Lippen geschlichen. Ein Lächeln, das vorher noch nicht da gewesen war und für mich, zumindest in diesem Moment, völlig neu. Ein Lächeln, das wahrlich die Augen erreichte und so selbstbewusst und sexy und zugleich aber auch schüchtern und liebevoll war.
Sie beugte sich zu mir vor und für einen kurzen, lächerlichen Augenblick dachte ich, sie würde mich küssen.
In der nächsten Sekunde bereute ich meine Gedanken schon wieder und der Scham durchfuhr mich, mir wurde pötzlich siedend heiß und ich hätte meine Verlegenheit und meine Verwirrung nicht in Worte fassen können, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Amelie hob ganz langsam ihre rechte Hand, wie in Zeitlupe, und wischte mir mit einem Finger ein bisschen weißen Kaffeschaum aus dem Mundwinkel. Das merkwürdige Lächeln war nun verschwunden und hatte einem ernsten, musternden Gesichtsausdruck Platz gemacht.
Ich wagte nicht, mich zu rühren. Wahrscheinlich hätte ich es auch gar nicht gekonnt. Mich rühren, meine ich. Meine Beine waren wie festgewachsen am Boden des Kaffes, ich konnte keinen Muskel bewegen und zuckte nicht einmal mit den Wimpern.
Schließlich ließ Amelie sich langsam zurückfallen in ihren Stuhl. Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben, ihre schokobraunen Augen huschten unruhig hin und her.
Keiner von uns wusste, was zu sagen oder zu tun war.
Amelie öffnete ihren Mund, doch bevor auch nur eine Silbe über ihre weichen, wunderschönen, roten Lippen kam, wurde sie von ihrer Chefin gerufen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert war, dass dieser komische, peinliche Moment nun vorbei war. Amelie hatte es jedenfalls auf einmal eilig, zurück in die Küche zu kommen und ich redete mir erfüllt von Verzweiflung ein, dass es nur aus Angst vor ihrer ungeduldigen Arbeitgeberin war.
"Die Rechnung?", fragte ich hoffnungsvoll und zückte rasch meinen Geldbeutel, um noch ein bisschen länger mit ihr reden zu können, sei es nur für ein paar Sekunden.
"Geht auf's Haus", erwiderte Amelie knapp und rang sich ein Lächeln ab, bevor sie mit schnellen Schritten zurück an die Arbeit eilte.
Dies war nicht ihr echtes Lächeln, es hatte nicht ihre Augen erreicht.
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