6 - Verlogen
Die Tür fällt leise hinter Damian ins Schloss. Ich drehe mich auf die Seite und kuschele mich erschöpft in meine Bettdecke. Jetzt ist er weg. Ich bin wieder allein. Ich schließe meine Augen und denke an unsere gemeinsame Nacht zurück. Es war wieder so schön mit ihm, eben einfach wie sonst auch. Ich spüre, dass ich ein wenig traurig darüber bin, dass er gegangen ist. Wir sind fast nie nach einer gemeinsamen Nacht miteinander aufgewacht. Und doch sehne ich mich danach. Mit Lucie wacht er bestimmt morgens gemeinsam auf. Nimmt sie in den Arm. Streichelt ihren Rücken. Ein Stich in meinem Herzen. Ich darf mir all das nicht vorstellen. Ich habe alles nur noch viel schlimmer gemacht.
Hätte ich es dabei belassen, „damals" mit ihm geschlafen zu haben, wäre es nicht ganz so schlimm gewesen. Für Lucie sicherlich, aber ich hätte mich immer noch damit retten können, nichts davon geahnt zu haben. Jetzt habe ich mich aber viel tiefer hereingeritten in den riesigen Misthaufen. Ich stecke sozusagen bis zum Hals in der Scheiße und drohe daran zu ersticken. Denn diesmal wusste ich von Lucie. Von Damians Freundin. Die bis über beide Ohren, Hals über Kopf in diesen Mann verliebt ist. Verständlicherweise, wie ich zugebe.
Aber wieso hat er mit mir geschlafen? Wieso hat er Lucie ein weiteres Mal hintergangen? Es gehören zu dieser Sache ja bekanntlich immer zwei Personen, und es ist ja nun nicht so, dass ich Damian vergewaltigt habe. Ich seufze.
Was mache ich nur? Wieso mache ich alles nur noch schlimmer? Weil du ihn liebst!, schreit mein Herz. Ist das so? Liebe ich ihn? Kann ich jemanden lieben, mit dem ich bisher nur eine lockere Affäre geführt habe? Ob es Liebe ist kann ich selbst schlecht sagen, aber ich spüre wie mein Herz in seiner Gegenwart aufgeht, wie ich aufblühe, wie beflügelt ich mich fühle. In seiner Anwesenheit werden meine Knie weich, mein Bauch kribbelt und meine Finger werden abwechselnd heiß und kalt – wenn ich es zulasse und nicht verdränge. Und ich spüre, dass ich es genau jetzt zulasse. Ich bin verliebt – in meine Affäre, in den Freund meiner besten Freundin, in den Mann den ich nicht haben darf und auch nicht haben sollte. Ich verbrenne mir die Finger daran. Ich weiß es. Und doch habe ich mit ihm geschlafen. Ich schlage mir verzweifelt mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ich muss unglaublich bescheuert sein!
Ich schlage langsam meine Augen auf. Es ist bereits hell in meinem Schlafzimmer. Knurrend drehe ich mich von der einen Seite auf die Andere. Ich bin noch nicht bereit dazu, aufzustehen. Doch als ich gerade genüsslich meine Augen noch einmal schließe, höre ich aus dem Flur mein Handy klingeln. Ich beschließe, es zu ignorieren. Doch als es nicht verstummt, rolle ich mich mürrisch aus dem Bett. Ich bin noch immer nackt. Von meiner Nacht mit ihm. Ein stummes Lächeln schleicht sich bei der Erinnerung daran auf meine Lippen. Ich höre das Handy noch immer klingeln, reiße die Tür zu meinem Schlafzimmer auf. Wer ist denn das? Ich vermeide den Blick auf die Uhr. Wahrscheinlich habe ich meine Vorlesung bereits verschlafen, weil ich vergessen habe nach dieser Nacht meinen Wecker zu stellen. Ich stöhne leise auf.
Meine Eltern werden mich umbringen, wenn ich dieses Semester Modellentwicklung nicht bestehe. Ich studiere Textil- und Bekleidungstechnik, eigentlich total spannend, aber ich möchte später sowieso in die Gestaltung und das Design gehen und mich nicht mit der Produktion beschäftigen! Mein Leben lang schöne Kleidungsstücke für Frauen und Männer zu kreieren, die ihre körperlichen Vorzüge betonen und unterstreichen, ist wirklich mein Traumberuf!
Ich greife nach meinem Handy auf der Kommode. Noch immer klingelt es. Ein wirklich hartnäckiger Anrufer! Als ich einen vorsichtigen Blick auf das Display werfe, bleibt mein Herz eine Sekunde lang stehen. Lucie ruft mich an. Ob sie etwas mitbekommen hat?
Direkt hüllt mich das schlechte Gewissen ein und schnürt mir die Kehle zu. Ich kann mit ihr jetzt nicht sprechen. Was, wenn sie etwas weiß? Ich habe nicht einmal eine Taktik parat um ihre Vorwürfe zu zerstreuen und...Ich gerate eindeutig in Panik. Das Klingeln verstummt. Zwei versäumte Anrufe. Von Lucie. Sie hat also schon einmal angerufen. Meine Finger zittern. Die Vorstellung, sie könnte etwas wissen, bringt mich vollkommen aus der Fassung. Ich umklammere das Handy fest mit meinen Fingern und schlurfe in mein Schlafzimmer zurück, um mir etwas überzuziehen.
Das Frühstück schmeckt mir heute nicht. Ich esse Kellogs. Mehr gibt es nicht. Natürlich habe ich meine Vorlesung verschlafen. Ich kämpfe mit mir selbst. Ich sollte die zweite Vorlesung heute besuchen. Aber ich kann nicht. Zu viele Gedanken beschäftigen mich im Moment. Ich werde mich nicht konzentrieren können. Wozu also die Mühe machen und überhaupt hingehen? Ich weiß, ich weiß. Das ist nicht gut. Aber ich kann das gerade alles nicht.
Mir fällt ein, dass ich noch immer eine Hausarbeit über italienische Schnittmuster abgeben muss und ich bis jetzt nicht einen Satz geschrieben habe. Ich kann heute damit anfangen. Ein guter Plan, lobe ich mich selbst sarkastisch, jetzt wo ich ja sonst keine anderen Sachen im Kopf habe! Ich räume die Kellogsschüssel in die Spüle und gehe duschen. Auch danach fühle ich mich nicht besser. Lucie hat unterdessen ein drittes Mal versucht, mich anzurufen.
Ich gerate wieder in Panik. Was soll ich ihr sagen, wenn sie etwas ahnt? Ich kann sie unmöglich weiter anlügen. Soll ich sie zurückrufen? Meine Gedanken spielen verrückt. Was, wenn sie mich einfach nur auf einen Kaffee einladen möchte? Oder irgendeine Frage hat. Und es gar nicht um Damian geht. Ich seufze. Ich bin ein Angsthase. Ich lache mich selbst aus. Dann ziehe ich mir einen Bademantel über und rufe meine beste Freundin zurück.
Ich wünsche mir ich hätte mich dagegen entschieden, als Lucie das Gespräch entgegennimmt. Ich höre sie schluchzen. Was ist passiert? Sie ahnt etwas! Sie weiß alles!
„Dee...", japst sie zwischen zwei dicken Seufzern und tut mir direkt unheimlich leid. Die Ärmste. Es muss ein regelrechter Schock für sie sein! „Es geht um Damian, oder?", frage ich und halte die Luft an. Ich will gar nicht hören wie sie es ausspricht. „Ich habe mich mit Damian gestritten.", weint sie, „Kann ich vorbeikommen?" Gestritten also. Worüber? Dass er mit einer anderen Frau geschlafen hat?!
„Wieso habt ihr gestritten?", frage ich so ruhig es mir möglich ist. Ich bin so eine Heuchlerin. Anstatt, dass es mich wirklich interessieren würde, will ich mich nur absichern, will sichergehen, dass sie vielleicht doch von nichts weiß. Ich fühle mich schlecht.
„Ich weiß es nicht.", antwortet Lucie schluchzend, „Es hat sich einfach so hochgeschaukelt heute morgen." Ich atme auf. Wahrscheinlich einfach nur ein Streit wie in jeder normalen Beziehung. Nichts Weltbewegendes. „Also, kann ich kommen?", höre ich sie weinen und kneife die Augen zusammen. „Klar, ich bin zuhause."
Ich reiche Lucie ein Taschentuch. Sie putzt sich die Nase und wischt sich noch eine Träne aus dem Augenwinkel. Seitdem sie auf meiner Couch sitzt, hat sie kaum ein Wort gesprochen und lediglich vor sich hin geweint. Sie weiß nichts. Ich habe sie inzwischen bereits analysiert. Keine abwertenden Blicke, keine zickigen Sprüche gegen mich. Es war ein blöder Streit mit Damian, der sich um Gott-weiß-was gedreht hat, aber sicherlich nicht um seinen Seitensprung mit einer anderen Frau.
Ich rücke näher an sie heran. Es bricht mir das Herz, Lucie so zu sehen. „Was ist denn passiert?", frage ich sie leise und lege meinen Arm um ihre Schulter. Sie schnieft leise und setzt endlich zu sprechen an. Ich reiche ihr in der Zeit ein Glas mit Wasser. „Er hat gestern Abend im Laden gearbeitet.", sagt Lucie und trinkt einen Schluck. Im Laden gearbeitet. Ich lasse diese Information langsam sacken. Er lügt sie an. Was aber soll er auch sonst tun? „Und dann?", frage ich. „Er hat gesagt, dass er danach zu mir kommt.", erklärt sie, „Also, wenn er fertig ist."
„Mitten in der Nacht?", frage ich fast empört und Lucie mustert mich skeptisch. Ich schlucke. Wahrscheinlich fragt sie sich jetzt woher ich weiß, wie lang seine Arbeit im Tattoo-Studio manchmal dauern kann. Manchmal geht er nachts noch ins Fitness-Studio oder trifft sich noch mit irgendwelchen Typen, um über Geschäfte zu sprechen, über die er mir nicht mehr erzählen wollte. Ich kann ihr schlecht verraten, dass er früher öfter mitten in der Nacht noch vor meiner Tür stand um mir nach der Arbeit im Tattoo-Studio einen Besuch abzustatten und sich zu entspannen – Entspannung durch das Ausleben sexueller Gelüste.
„Er arbeitet oft bis spät in die Nacht.", sagt Lucie. Ich unterdrücke ein neumalkluges „Ich weiß" und behalte die Wahrheit für mich. „Deswegen hat er auch einen Schlüssel.", klärt sie mich auf. Ich schlucke wieder. Er hat einen Schlüssel für ihre Wohnung. Die Information dürfte mir eigentlich auch nicht neu sein. Immerhin hat Lucie mich vor ein paar Wochen gefragt ob sie ihren Wohnungsschlüssel von mir wiederhaben könne.
„Er ist nicht gekommen.", sagt Lucie geknickt und sieht mir direkt in die Augen. Ich fühle mich schlecht. „Er ist einfach nicht gekommen." Ich schlucke unmerklich. Dafür ist er bei mir gekommen. Mehrmals sogar. Ich verdränge diesen recht respektlosen Gedanken. „Das tut mir leid.", presse ich heiser zwischen meinen Lippen hervor. „Erst heute morgen, da kam er.", sagt Lucie und lächelt bitter, „Mit frischen Brötchen." „Aber das ist doch süß.", versuche ich Damian zu verteidigen. Dabei ist er hier das Arschloch! „Gar nichts ist daran süß.", motzt Lucie, „Damit macht er das nicht wieder gut."
Ich lege fragend den Kopf schief. „Was macht er nicht wieder gut?", will ich wissen. „Na, dass er die ganze Nacht weg war." Ich winke ab und versuche sie zu beruhigen. „Wer weiß, vielleicht hat er die Zeit vergessen." Lucie schüttelt den Kopf. „Nein, er war in seiner Wohnung. Er ist einfach nicht zu mir gekommen. Er sagte, er wollte mich nicht wecken.", sagt sie empört, „Dabei hat er mich so oft schon geweckt! Ich war also beleidigt. Und er hatte ganz schlechte Laune. Es kam eins zum anderen." Lucie seufzt. „Kannst du dir das vorstellen, Dee? Er hat seine ganze schlechte Laune an mir ausgelassen. Ich habe ihm gesagt, er braucht es nicht an mir auszulassen, wenn es im Studio schlecht läuft."
Sie ist einfach viel zu lieb für ihn. Warum merkt sie nicht, dass sie eigentlich gar nicht zu einem bösen Kerl wie Damian passt?
Ich bin erleichtert, auch wenn es abgrundtief gemein von mir ist. Er hat sich mit ihr also nicht wegen uns gestritten.
„Und jetzt?", frage ich vorsichtig und Lucie lächelt matt. „Jetzt bin ich bei dir und versuche, den Streit mit ihm zu vergessen.", sagt sie. Dann steht sie auf. „Ist noch was von dem Eis da?"
Ihre Lage wird echt immer schlechter. Arme Lucie.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top