1.4 Gwen

Gwen

Vor der Backstube herrschte reges Treiben. Da heute Brotausgabe war, war dies heute der Treffpunkt für alle Klatschtanten. Das Thema der Unterhaltungen war natürlich der Dämon. Darüber hinaus gab es zahlreiche Spekulationen, welches Mädchen denn erwählt werden würde. Das ganze Geschnatter war kaum auszuhalten. Mit dementsprechend stark brummendem Schädel betrat sie die Backstube. Dort wartete eine Überraschung auf sie. Der Primus und der Blondschopf.

„Gwen, da bist du ja endlich." Ihre Mutter kam auf sie zu und schob sie direkt vor den Fremden. „Das ist Tyris." Jetzt fiel auch bei ihr der Groschen. Tyris, der älteste Sohn des Primus.

Mäßig begeistert nickte sie ihm zu. „Und was jetzt?" Ihre Frage richtete sie an ihre Mutter.

Jetzt äußerte sich der Prim. Er war ein etwas älterer, stattlich gebauter Mann mit Geheimratsecken. „Tyris kann dir mit deinen Kopfschmerzen helfen."

„Nein." Fassungslos starrte sie zwischen den beiden hin und her. „Sie machen Witze."

Tyris legte eine Hand auf ihre Schulter, die sie sofort wieder abschüttelte. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mich unaufgefordert anfasst", informierte sie ihn kalt. Sollte dieser Bubi ihr wirklich mit ihren Kopfschmerzen helfen können? „Ich glaube Ihnen kein Wort." Keiner der Ärzte wusste Rat, warum also er? Das ergab keinen Sinn.

Der Primus lächelte sie kalt an. „Das, liebe Gwen, ist bereits beschlossene Sache. Du wirst morgen Tyris' Frau. Dann hilft er dir, deine Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen."

Augenblicklich machte sie kehrt. Das war doch ein schlechter Witz. Das musste sie sich nun wirklich nicht antun. Als ob sie das so einfach entscheiden konnten.

Leider war ihre Mutter schneller an der Tür. „Wo willst du hin?", verlangte sie in inquisitorischem Tonfall zu erfahren.

„Zu dem Dämon und ihm sagen, er soll mich mitnehmen", fauchte sie zurück. Sämtliche Farbe entwich dem Gesicht ihrer Mutter. Jetzt tat sie ihr aufrichtig leid. Vielleicht war sie doch ein wenig zu forsch gewesen. „Ich will raus", erklärte sie etwas ruhiger.

Entschieden schüttelte ihre Mutter ihren Kopf. Dabei flogen ihr die blonden Locken nur so um die Ohren. „Nein. Hör zu. Du hast heute Zeit, dich mit Tyris vertraut zu machen. Morgen Nacht wirst du zu ihm ziehen. Dein Vater hat den Übergabevertrag unterzeichnet."

Übergabevertrag? Fassungslos starrte sie ihre Mutter an und versuchte zu verstehen, was sie ihr da eigentlich sagte. Sie wurde an Tyris verkauft? Von ihrem Vater? Woher wusste der Prim überhaupt davon, wessen Tochter sie war? Und warum sagte ihr niemand etwas? Sie musste hier weg. Und zwar sofort. Dass ihre Mutter den einzigen Ausgang versperrte, machte es nicht gerade einfacher.

„Du wirst dich daran gewöhnen, meine Liebe. Bald wirst du Kinder haben, um die du dich kümmern kannst. Ist das nicht aufregend?" Das strahlende Lächeln ihrer Mutter bereitete ihr nur noch mehr Kopfschmerzen.

„Gwen?"

Diese verfluchten Schmerzen waren so stark, dass sie lauter schwarze Flecken sah. „Lass mich verdammt nochmal einfach raus", presste sie krampfhaft zwischen ihren Zähnen hervor.

„Nein."

Niemals zuvor hatte sie sich gewünscht, dass sie ihrer Mutter egal wäre. Dann hätte sie jetzt freie Bahn. Doch dieses Mal, dieses eine Mal wünschte sie es sich.

„Wenn du meinst, du kannst das, dann geh", erklang Margits entnervte Stimme plötzlich.

Erleichtert stürmte sie nach draußen. Endlich frische Luft. Sogleich nahmen ihre Kopfschmerzen ab. Sie hatte es geschafft. Endlich waren die Flecken verschwunden. Um zu vermeiden, dass ihre Mutter ihre Meinung änderte, rannte sie weg. Richtung See. Dort hatte sich jedoch schon eine Gruppe Gleichaltriger eingefunden. Dieser Ort kam als Rückzugsort also nicht infrage. Blieb ihr nur noch der Ausläufer der großen Wüste. Hier würde garantiert niemand nach ihr suchen.

„Wie es scheint, treffen wir uns heute recht häufig."

Gwen machte sich nicht die Mühe aufzusehen. Der Dämon drang nicht in sie, weshalb sie ihn in ihrer Nähe dulden konnte. Im Gegensatz zu den anderen im Dorf und allen voran ihre Mutter. „Wie leben die Mädchen, die mitgenommen werden?"

„Ich hatte den Eindruck, du hättest kein Interesse." Sie konnte hören, wie er sich neben sie setzte.

„Vielleicht überlege ich es mir gerade anders", erwiderte sie scharf.

Eine Weile war es still, bis er schließlich antwortete: „Im Palast des Herrschers fehlt es ihnen an nichts. Natürlich müssen auch sie sich an unsere Gesetze halten."

„Ein Käfig also", stellte sie traurig fest. Wie deprimierend.

„Der Palast ist eine eigene Stadt."

Verwundert sah sie auf. Ein Fehler, denn seinem Stirnrunzeln nach zu urteilen, hatte er die Spuren ihrer getrockneten Tränen gemerkt. So ein Mist, hoffentlich schuldete sie ihm jetzt keine Antwort. „Ab wann ist ein Mensch berechtigt, mit einem Dämon einen Handel zu schließen?"

Da wanderten seine beiden Augenbrauen nach oben. „Einen Handel?"

„Nun ja, die Seele verkaufen und so." Verlegen malte sie im Sand herum. „Angenommen, ich würde mich freiwillig melden, um mitzukommen. Könnten Sie und ich sofort gehen?"

Ernst ruhten seine braunen Augen auf ihr. „Das geht leider nicht. Derjenige, der die endgültige Entscheidung trifft, muss erst eintreffen. Ich bin hier nur Beobachter. Du musst dich bei ihm melden, wenn er da ist."

Mit einem Mal war von ihrer Hoffnung nicht mehr als ein Scherbenhaufen übrig. Deprimiert und mit stärker werdendem Pochen im Kopf sank sie noch weiter in sich zusammen. „Schade."

„Warum hast du es auf einmal so eilig? Vor einigen Stunden wolltest du noch hier bleiben." Seine ruhige Frage vermittelte ihr nicht das Gefühl, dass er sie bedrängte. Dennoch konnte sie ihm nicht die Wahrheit sagen. Sie musste ihre Probleme selbst lösen.

„Ist nicht so wichtig." Träge erhob sie sich und lief ein wenig weiter in die sandige Umgebung. Gäbe es bloß eine einfache Lösung für all das. Wie gern hätte sie mit irgendjemandem darüber gesprochen, der ihre Position nachvollziehen konnte. Karin war zwar ihre beste Freundin, aber das bedeutete nicht, dass sie ihr Verständnis entgegenbringen würde. Karin wäre ebenso wie ihre Mutter der Meinung, sie sollte erleichtert sein, es so gut getroffen zu haben und aufhören, sich darüber zu beschweren. Nein, hier verstand sie niemand. Ihre einzige aussichtsreiche Chance auf Flucht hatte sich in Luft aufgelöst. Was also nun? Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen, sodass sie sich wieder setzen musste. War das frustrierend. Sollte jemand tatsächlich in der Lage sein, ihr zu helfen? Das wäre viel zu schön, um wahr zu sein. Es war zum Haare ausreißen. Die Schwärze vor ihren Augen nahm zu. So langsam musste sie zurück ins Dorf. Nicht, dass sie es wollte. Nachts wurde es hier draußen nur viel zu kalt.

Langsam versuchte sie sich aufzurichten. Bei diesen Kopfschmerzen stellte sich das jedoch als verdammt schwer heraus. Wenige Stolperschritte später gab sie es auf. Sie musste warten, bis diese verfluchten Schmerzen nachließen. Hoffentlich würde das nicht lange dauern. 

.

„Gwen?" Jemand legte eine warme Hand auf ihre Stirn. Irritiert zog sie diese Kraus. Sie hatte schon genug Kopfschmerzen, ohne dass jemand seine Hand auf ihren Kopf drückte.

„Margit, hat sie wirklich erst seit vier Wochen diese Kopfschmerzen?"

Es wurde noch mehr gesprochen, aber das konnte sie nicht verstehen. Dieses Stimmengewirr trug nicht gerade dazu bei, ihre Schmerzen zu lindern. War sie nicht eben noch in der Wüste gewesen? Wieder wurde neben ihr geredet. „Könnt ihr nicht alle einfach die Klappe halten oder verschwinden?" Ungehalten schlug sie die Hand beiseite. Warum fragte eigentlich niemand, ob sie damit einverstanden war, betatscht oder einfach irgendwo anders hingebracht zu werden? Und was war das unter ihr? Lag sie etwa in einem fremden Bett?

Sie versuchte sich aufzusetzen, wurde jedoch mit schweren Kopfschmerzen bestraft.

Augenblicklich wurde sie zurück ins Kissen gedrückt. „Bleib liegen."

„Welch freundliche Begrüßung", murrte sie finster und versuchte sich daran, die Augen zu öffnen. Kaum erkannte sie das Bild vor sich, schloss sie sie wieder. Tyris saß neben ihr auf einem ihr unbekannten Bett, der Prim stand neben ihrer Mutter, ein paar Schritte entfernt und beide musterten sie kritisch. Das war eindeutig keine Situation nach ihrem Geschmack.

„Gwen." Ihre Mutter kam zum Bett und strich ihr liebevoll übers Haar. Irgendwie grotesk, diese Geste. Ansonsten war sie nicht so fürsorglich. „Schatz, endlich. Warum bist du denn nur so weit in die Wüste gegangen? Du weißt doch, wie gefährlich das ist."

Darauf hatte sie jetzt absolut keine Lust. „Wenn ihr hier seid, um mir Vorhaltungen zu machen, kann ich ja gehen."

„Gwen!" Warum klang ihre Mutter denn auf einmal so streng? „Du bleibst hier."

Verstimmt setzte sie sich unter Protesten der anderen auf. Ihre Mutter sah abgekämpft aus, irgendwie müde. „Und warum bitte?" Sie hatte doch noch einen Tag.

„Der Dämon hat dich gefunden und hergebracht", ergriff Tyris das Wort. „Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass du deine Kopfschmerzen in den Griff bekommst." Seine ernste Miene hinterließ einen faden Beigeschmack. Sie wollte nicht mit ihm zusammenarbeiten oder etwas mit ihm und seiner Familie zu tun haben. Das einzige, was sie wollte, war fort.

„Dann sollte ich mich wohl bei dem netten jungen Herrn bedanken", erwiderte sie knapp und versuchte aufzustehen. Kompromisslos wurde sie von ihrer Mutter zurück ins Bett befördert.

„Du bleibst."

„Bitte." Tyris erhob sich. „Lasst uns bitte alleine."

Mit großen Augen beobachtete Gwen, wie ihre Mutter sich widerspruchslos mit dem Prim zurückzog. In was zur Hölle war sie da bloß hineingeraten? Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, sah er sie nachdenklich an. Was auch immer das sollte, trotz der Kopfschmerzen starrte sie zurück.

Schließlich lächelte Tyris schwach. „Du bist noch genauso eigensinnig wie vor Jahren."

Vor Jahren. Damals hatte sie sich geweigert, dabei mitzumachen, sich nachts heimlich zum See zu schleichen und dort zu feiern. Schon damals hatte sie sich nicht sonderlich beliebt gemacht. Schwer zu sagen, ob seine Worte Lob oder Tadel waren. „Ich kann nicht behaupten, mich zu freuen hier zu sein." Bedächtig setzte sie sich wieder auf, in der Hoffnung, dieses Mal nicht wieder zurück in die Matratze gedrückt zu werden. Überraschenderweise half er ihr und stopfte ihr sogar ein Kissen hinter den Rücken. Was war denn in den gefahren?

„Das kann ich mir denken. Es muss ziemlich schwer für dich gewesen sein. In den letzten Wochen."

War das etwa Mitleid? Nun verstand sie gar nichts mehr. „Und was willst du von mir?" Am besten, sie klärten die Fronten gleich ab. Dann kam es nicht zu Missverständnissen. Hoffentlich.

Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinem von einem leichten Bartschatten umrandeten Gesicht aus. „Du, meine Kratzbürste, bist meine Frau."

Wie bitte?! Krampfhaft schnappte sie nach Luft. Das war wirklich der schlechteste Scherz von dem sie jemals gehört hatte. Ihre Eltern und der Primus würden es nicht riskieren, eine der heftigen Vertragsstrafen der Dämonen auf sich zu ziehen, weil sie sie wirklich verkauft hatten. Denn darauf stand, wenn sie sich recht entsann, der Tod. Das war allgemeinhin bekannt, warum also das Risiko eingehen? Sie würde eh nicht mitgehen. „Vergiss es. Was ist hier eigentlich los?" Ihr Hals war so trocken, dass ihre Stimme leicht kratzig klang. Gab es hier irgendwo ein Glas Wasser? Oder eine Flasche?

Langsam schien auch bei Tyris der Groschen zu fallen. Er drückte sie ins Kissen. „Warte hier, ich hole dir etwas zu trinken."

Die Zeit, die er brauchte nutzte sie, um sich umzusehen. Sie befand sich in einem großen, abgedunkelten Raum. Die einzige Lichtquelle waren zwei kleine Kerzen auf dem Nachttisch. Das Bett, auf dem sie saß, war viel größer als ihr eigenes. War wohl ein Privileg der Reichen. Insgeheim fragte sie sich, wann sie hier wieder weg kam. Trotz ihrer Bemühungen vorhin hatte sie starke Kopfschmerzen. Wirklich besser als in der Wüste waren sie nicht.

„Gwen, leg dich hin."

Erschrocken fuhr sie zusammen. Unbewusst hatte sie sich an die Kante gesetzt. Mit dröhnendem Schädel ließ sie sich seitlich aufs Kissen sinken. Konnte er nicht ein wenig mehr Rücksicht auf ihren Kopf nehmen? „Erschreck mich nicht."

„Richtig hinlegen." Sein strenger Ton passte ihr so gar nicht in den Kram. Da er aber das von ihr heiß ersehnte Wasser bei sich hatte, musste sie sich wohl oder übel fügen.

„Willst du mich jetzt weiter dursten lassen?"

Lächelnd reichte er ihr die Flasche. „Wäre es so schwer, nett zu mir zu sein?"

Kommentarlos machte sie sich über das Wasser her. Endlich. Erfrischend. Ihre Kopfschmerzen linderte das leider kein Bisschen. Ein wenig versöhnlicher reichte sie ihm die Flasche zurück. „Danke." Dann entsann sie sich seiner Frage. Vermutlich schuldete sie ihm eine Antwort. „Erstens will ich keinen Mann und zweitens: bei den Schmerzen hast du andere Sorgen als freundlich zu sein."

Mit einem knappen Nicken stellte er die Wasserflasche beiseite. „Ich helfe dir und du hörst mir zu."

Das erschien ihr nur fair. „Okay, was muss ich tun?" Gespannt starrte sie ihn an. Jetzt würde sich zeigen, ob er ihr wirklich helfen konnte.

Lachend deutete er aufs Bett. „Ich hoffe, du schmeißt mich nicht aus meinem Bett, wenn ich mich setze."

„Dein Bett?" Kraftlos, die Kopfschmerzen wurden noch intensiver, zupfte sie an der Decke. Das hier musste ihre persönliche Hölle sein.

In gebührendem Abstand setzte er sich zu ihr. „Wann hast du dir das letzte Mal etwas gewünscht?" Seine Stimme war ernst und sein eindringlicher Blick schien sie zu durchbohren.

Trotz der schier überwältigenden Schmerzen schnaubte sie abfällig. „Es gibt einen tollen Spruch: Wir sind hier bei so ist es und nicht bei wünsch' dir was."

Tyris stieg nicht darauf ein. Stattdessen stand er auf und ging zur Tür. „Ich werde deine Mutter wieder herein bitten. Wenn du möchtest, dass sie geht, schließ die Augen und wünsch es dir."

Was sollte das denn werden? „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?"

Doch er antwortete nicht, sondern öffnete einfach die Tür. Kurz darauf stürmte Margit auf sie zu. „Wie geht es dir? Du siehst noch immer so blass aus."

Recht einsilbig antwortete sie auf die nicht enden wollenden Fragen ihrer Mutter. Schon nach kurzer Zeit wurde es ihr zu viel. „Geh." Natürlich hatte ihre Mutter kein Verständnis für sie, die sich in ihren Augen in letzter Zeit unmöglich verhielt. Da niemand Anstalten machte, ihr zu helfen, befolgte sie Tyris' merkwürdigen Rat. Konnte ja nicht schaden. Müde schloss sie ihre Augen und stellte sich vor, dass ihre Mutter ging. „Geh bitte nach Hause."

Langsam wurde ihr über den Kopf gestrichen. „Natürlich Kind. Melde dich, wenn du wieder gesund bist." Zu ihrer maßlosen Überraschung ging ihre Mutter tatsächlich. Wow. Ein Wunder war geschehen. Wann hatte es Margit bisher geschert, was sie wollte?

Die Tür fiel ins Schloss und kurz darauf senkte sich die Matratze am Fußende ab. „Du brauchst Schlaf", teilte Tyris ihr bestimmt mit. Schon wieder dieser schreckliche bestimmende Ton. Leider musste sie ihm recht geben. Sie war müde. Doch ihre Kopfschmerzen waren noch nicht wesentlich besser.

„Ich kann nicht. Die Schmerzen sind noch immer zu schlimm."

Ohne Vorwarnung wurde die Tür geöffnet und Rick stürmte herein. „He, Bruder. Deine Frau jetzt wach? Hätte nicht gedacht, dass du ausgerechnet sie willst."

Innerlich tobte sie. Was hatte diese Rotznase hier zu suchen? Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild von Alessa auf. Dieses schadenfrohe Biest. Ja, die beiden passten wirklich gut zusammen. Ausgezeichnet sogar. „Geh und vergnüg dich mit deiner Freundin", fauchte sie genervt. War ein wenig Ruhe denn zu viel verlangt?

Neben ihr sog Tyris scharf die Luft ein. „Du sollst nicht einfach so herein platzen", schimpfte er seinen kleinen Bruder, der sich daraufhin recht schnell davon machte.

Verwundert bemerkte Gwen, wie ihre Kopfschmerzen nachließen. „Hey, muss ich jetzt nur Leute rausschmeißen, damit es besser wird?" Hoffnungsvoll setzte sie sich auf. Wenn das so einfach war, dann hatte sie von nun an ein leichtes Leben. Vorausgesetzt, die anderen waren nicht besonders hartnäckig.

„Nein, so geht das nicht." Das leichte Lächeln von vorhin war aus seinem Gesicht verschwunden. Ernst sah er sie an. „Ich möchte nicht, dass du meinen Bruder herumkommandierst. Und schon gar nicht, dass du ihn dazu anstiftest, sich mit einem Mädchen zu vergnügen." Während er das sagte, stand er auf und drückte sie zurück ins Kissen. „Jetzt schlaf, dir kann es nicht mehr allzu schlecht gehen."

Finster starrte sie ihn an. „Denkst du wirklich, dass du mich wie ein kleines Kind behandeln kannst? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?" Erfolglos versuchte sie sich gegen seinen Griff zu wehren. Er war einfach viel zu stark. Gekonnt rang er sie nieder. Ihr gefiel gar nicht, wie nah sie sich dabei kamen. Sie konnte ihr Herz wild in ihrem Brustkorb klopfen spüren.

„Hör zu", grollte er leise in ihr Ohr. „Ob du es willst oder nicht, du bist meine Frau. In diesem Haus wirst du dich gewissen Regeln fügen müssen. Dann, und nur dann, können wir darüber reden, dass du deine Freiheiten zurückbekommst."

Augenblicklich lag sie still. Wie konnte dieser arrogante Kerl das nur behaupten? Er hatte kein Recht dazu, sie einzusperren! Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde sie fliehen. So viel stand fest. Und warum war sie überhaupt schon hier? „Ihr haltet euch nicht an den Vertrag." Das letzte Wort spuckte sie mit so viel Verachtung aus, wie aufzubringen sie imstande war. „Die Sache ist noch einen Tag hinfällig."

Kalt lächelte er sie an. „Du irrst dich. Du warst sehr lange bewusstlos und jetzt ruh dich aus."

Das würde sie nicht tun. „Ich hab Hunger." Hatte sie nicht, aber es brachte ihr ein wenig Zeit. Das hoffte sie zumindest. Endlich spürte sie, wie er seinen Griff um ihre Arme lockerte und sein Gewicht sie nicht mehr so tief in die Matratze drückte. Das erste Mal an diesem Abend atmete sie durch. Wenn seine Worte der Wahrheit entsprachen, gehörte sie jetzt ihm. Dieser Vertrag, mit dem ihr Vater sie an Tyris sozusagen verkauft hatte, sprach ihr sämtliche Rechte ab. Sie gehörte ihm mit Haut und Haar und er durfte alles Mögliche mit ihr anstellen, ohne dass jemand für sie eintreten durfte. Dass sie ihm so auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, machte die Situation beinahe unerträglich. Darüber hinaus verstand sie nicht, weshalb sie sie wirklich verkauft hatten. Es war doch allgemeinhin bekannt, wie empfindlich die anderen Welten waren, was die Verträge anging.

Irgendetwas musste sich auf ihrem Gesicht abgespielt haben, denn er nickte kurz und ließ sie vollends los. „Versuchst du zu fliehen, binde ich dich ans Bett. Besser, du akzeptierst dein Schicksal." Mit einem letzten mahnenden Blick auf sie verließ er den Raum.

Natürlich blieb sie nicht liegen. Fix kletterte sie aus dem Bett. Wäre doch gelacht, wenn die Zimmertür der einzige Ausgang war. Neugierig trat sie ans verhangene Fenster. Ganz vorsichtig schob sie den Stoff ein Stück beiseite – und fand sich direkt im Angesicht mit der untergehenden Sonne. Hastig änderte sie den Blickwinkel, damit sie nicht mehr vom hellen Licht geblendet wurde. So ein Mist, der zweite Stock. Enttäuscht begab sie sich zurück ins Bett. Dabei nahm sie den Raum noch einmal genauer in Augenschein. Unter dem breiten Fenster stand eine alte Kommode, auf der die Wasserflasche thronte. Dem Bett gegenüber befand sich ein großer Holzschrank. Vermutlich war das der Kleiderschrank. Einen solchen Luxus hatte sie bei ihrer Mutter nicht gehabt. Aber die war ja auch nur Bäckerin und die Affäre des Dorfdritten.

Als Tyris mit etwas Essbaren zurückkehrte, lag sie mustergültig ruhig und geduldig im Bett. Seinem skeptischen Blick nach zu urteilen, hatte er das nicht erwartet. Ihm konnte sie auch nichts recht machen. „Was denn?", fauchte sie ihn an. Dieses Mal jedoch eher aus Unsicherheit als aus Unmut.

Kopfschüttelnd stellte er den Teller auf dem Nachttisch ab. „Sag mir, Raubein, warum hast du alle so vor den Kopf gestoßen?"

Raubein. So hatte er sie früher immer genannt. Raubein oder Kratzbürste. Missmutig griff sie nach dem Brot, ohne den Aufstrichen Beachtung zu schenken. „Hat anscheinend nicht geklappt, oder?" Er lächelte, schwieg aber. Sie war also gezwungen, ihm tatsächlich darauf zu antworten. „Ich wollte nicht verheiratet werden."

Jetzt runzelte er die Stirn. „Hättest du dich nicht so verhalten, müsstest du dir deine Rechte und Freiheiten nicht erst verdienen."

Wo er recht hatte... Leider hob diese Erkenntnis ihre Laune nicht im Geringsten. Mittlerweile hatte sie auch eine Vorstellung davon, warum ihr Vater ihr das angetan hatte. Er wollte nicht, dass sie mit den Dämonen mitging. Verheiratete Frauen waren von der Opferregelung ausgenommen. Nur war sie nicht verheiratet, sondern verkauft. Vielleicht konnte sie doch noch entkommen. Aber wozu? Nur um dann im nächsten Gefängnis zu landen? Ob es das wirklich wert war... „Gib mir Zeit, damit ich mich an die Situation gewöhnen kann." Das war das Netteste, was sie in den letzten Wochen einem Mann gegenüber geäußert hatte.

Offenkundig zufrieden nickte er. „Zwei Tage. Dann wirst du am Essen teilnehmen müssen. Der Dämon ist zu Gast." Wie die meisten hier, schien auch Tyris eine Abneigung gegen diesen netten jungen Mann zu verspüren. Intensiv betrachtete er ihr Gesicht. Das war ihr äußerst unangenehm, da sie gerade am Essen war.

„Willst du auch was oder warum starrst du so?" Appetitlos legte sie den Krumen beiseite.

Ohne Vorwarnung beugte er sich über sie, sodass ihre Nasenspitzen nur Millimeter voneinander getrennt waren. „Dieser Dämon wird dich niemals mitnehmen." Er schien noch etwas sagen oder tun zu wollen, zügelte sich dann aber. „Zwei Tage", murmelte er und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer.

Nach Tyris' seltsamem Abgang ließ sie sich gelöst ins Kissen sinken. Endlich waren die Kopfschmerzen fast verschwunden. Der leichte Druck, der noch immer auf ihren Schläfen lastete, war nicht weiter erwähnenswert.

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