1.1 Gwen
Gwen
Wieder einmal erwachte sie mit starken Kopfschmerzen. Seit ein paar Wochen erging es ihr nun schon so und niemand, nicht einmal die Ärzte vermochten ihr zu helfen. Ebenso wenig konnte man sich erklären, woher diese Schmerzen auf einmal kamen und warum sie immer weiter zunahmen.
Müde schleppte sie sich ins kleine Badezimmer. Auf dem Weg dorthin vergaß sie nicht, die Kerze mitzunehmen. Hier, in dieser abgeschieden lebenden Gemeinde gab es nur begrenzt Strom. Seit dem Schildfall waren ihre Mittel streng rationiert. Hinzu kam, dass sie Dorfführer für schwere Zeiten sparen wollten. Angeblich. Ebenso wie alle anderen auch, wusste sie, dass das eine ausgemachte Lüge war. Diese tolle Elite machte sich auf Kosten der einfachen Leute einfach nur ein schönes Leben.
Nach einer Katzenwäsche und einem kargen Frühstück verließ sie die angenehme Kühle ihrer kleinen Behausung und machte sich daran, ihre Mutter Margit bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Bis sie sich für diese lächerliche Verbindungsveranstaltung am Nachmittag bereit machen musste, konnte sie sich wenigstens nützlich machen. Dieses Theater wurde jedes Jahr abgehalten und diente dazu, zwei arme Seelen miteinander zu verheiraten, um das Dorf am Leben zu halten.
Der Weg bis zur Backstube war nicht weit und so wurde sie schon sehr bald von ihrer Mutter mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Schatz", begrüßt. Ihre Kopfschmerzen waren so groß, dass sie ein wenig blinzeln musste, ehe sie klar sehen konnte. Ihre Mutter, eine leicht mollige, dennoch sehr attraktive Blondine mit graublauen Augen stand an einem der Tische und knetete gerade einen Teig. Stirnrunzelnd musterte diese sie. „Du siehst gar nicht gut aus. Leg dich besser noch etwas hin. Du hast noch ein paar Stunden, bis wir uns einfinden müssen."
Kopfschüttelnd lehnte sie sich an die Wand der kleinen Holzhütte. Mit viel Geschick konnten hier drei Personen nebeneinander arbeiten. Es war ein sehr begrenzter Raum, extrem pragmatisch eingerichtet. Effizient beschrieb es wohl am besten. „Ich würde mich gerne ablenken." Bevor ihre Mutter widersprechen konnte, griff sie beherzt nach dem Mehl. Die Backstube war ein karger Raum, dessen Außenwände man gerade so als mäßig gut zusammengezimmerte Bretter bezeichnen konnte. Doch das war egal, da die Lebensmittel ganz woanders gelagert wurden. Hierher kam man wirklich nur, wenn man einen Ofen brauchte.
„Warum gibt es noch gleich diese Partnerfindungsveranstaltungen?", fragte sie verstimmt. Dieses Jahr war sie alt genug, um selbst erwählt zu werden. Ein Umstand, der sie nur noch schlechter schlafen ließ. Aus angeblichen Reinheitsgründen mussten Jungen und Mädchen getrennt leben – bis sie alt genug waren, um zu wählen, beziehungsweise gewählt zu werden. Für sie war das großer Schwachsinn. Als ob sich der eine oder andere Kerl nicht oft genug rein zufällig ins Zimmer seiner Freundin verirrte.
Automatisiert griff sie nach den Zutaten. Seit Jahren half sie ihrer Mutter bei ihrer Tätigkeit, dem Brotbacken. Jeder Familie standen pro Woche maximal zwei Laib Brot zu. Wer zu viel aß, musste bis zum Ablauf der Wartezeit hungern. Eine Regel, die die Führer natürlich nicht betraf. Wer befolgte denn schon die eigenen Gesetze? Wo käme man denn da hin?
„Halt." Margits strenger Ton riss sie aus ihren Gedanken. „Schatz, das solltest du heute unterlassen. Der Prim kommt nachher höchstpersönlich vorbei. Er will, dass seine Schwiegertöchter nur das Beste bekommen." Ihre letzten Worte wurden von einem missgünstigen Unterton begleitet.
Prim, das war die Abkürzung für Primus, den obersten Führer dieser Dorfgemeinschaft. Ihm oblag das Erlassen von Gesetzen. Mit gemischten Gefühlen dachte Gwen an die beiden Söhne des Prims. Tyris, der ältere war als Botschafter tätig und quasi nie vor Ort. Er verkehrte mit der Außenwelt und gelegentlich sogar mit den Wesen der anderen Welten. Die letzten Jahre war er kaum bei ihnen gewesen. Dass er sich jetzt plötzlich hier eine Frau nehmen wollte, erschien ihr äußerst merkwürdig. Nun denn, er war nicht ihr Problem. Sie hatte nicht vor, die Frau von irgendjemandem zu werden. Sie wollte sich verlieben, wollte, dass jemand um sie warb und dass jemand ernsthaft versuchte, ihr Herz zu erobern. Ihrer Mutter zufolge war das reines Wunschdenken. Sollte jemand sich tatsächlich erdreisten, sie zu wählen, nun ja, sie hatte da schon so ihren Plan. Um einem solchen unerwünschten Zwischenfall vorzubeugen, hatte sie vor, so ungepflegt wie möglich aufzutreten. Zusätzlich verhielt sie sich seit etwa vier Wochen den wahlfähigen Herren gegenüber äußerst gereizt und kratzbürstig. Wobei ihre Gereiztheit seit dem Auftreten der Kopfschmerzen ein Dauerzustand war. Immerhin waren die ihrer Sache dienlich. Das war zwar nur ein kleiner Trost, dennoch erleichterte er es ihr ein wenig mit den nicht verschwinden wollenden Kopfschmerzen umzugehen.
In Gedanken wandte sie sich schon den anderen Kandidaten zu. Da waren noch Rick, der jüngere Sohn des Prims, der eines Tages die Aufgaben seines Vaters übernehmen würde. Er war ein hoffnungsloser Idiot und Weiberheld. Zudem war es ein offenes Geheimnis, dass er sich für Alessa, die Tochter des Sekundus, dem Zweiten, interessierte. Sie passte zu ihm. Ebenso hoffnungslos und extrem eingebildet. Der stellte also von Anfang an keine Bedrohung für ihr Glück dar. Besser für ihn. Danys, Ricks bester Kumpel hatte einen Faible für Blondinen. An dieser Stelle freute es sie ungemein, die rotbraunen Haare ihres Vaters geerbt zu haben. Also war auch der aus dem Rennen, denn es gab genug Blondchen, die dieses Jahr zur Auswahl standen. Und dann war da noch Mustafa, ein Idiot wie er im Buche stand. Sie hoffte inständig, dass ihr Abschreckungsplan bei ihm gefruchtet hatte. Ansonsten blieb ihr nur die Weigerung. Etwas, was eine gute Tochter niemals tun würde. Aber drastische Situationen erforderten nun einmal drastische Maßnahmen. Der Rest der Schar hatte sich schon früh vergraulen lassen. Sie würden es nie wagen, sie auch nur anzusehen. Selbstzufrieden lächelte sie vor sich hin.
„Gwen?" Die Stimme ihrer Mutter erinnerte sie daran, dass ihre Gedanken sich verselbstständigt hatten. Seufzend legte sie die Rüben beiseite.
„Entschuldige Mutter. Ich war abgelenkt." Gwen wusste, dass ihre Mutter ihre Backideen unterstütze. Viele Kunden von Margit fragten regelmäßig, ob sie nicht wieder eines von Gwens Spezialborten hatten. Entgegen der eigentlichen Regeln fügt sie dem Brot immer noch etwas bei, was einen zusätzlich nahrhaften und sättigenden Effekt hatte. Das machte es für die Familien mit vielen Kindern leichter, über die Runden zu kommen.
Ihre Mutter wusch sich die dreckigen Hände und legte sie anschließend um Gwens Gesicht. Ihr besorgter Blick konnte nichts Gutes bedeuten. „Kind, ich mache mir Sorgen um dich. Du wirst jeden Tag blasser."
Verärgert schüttelte sie die Hände ab. Es war ihr unangenehm, wenn ihre Mutter ihre fürsorgliche Seite entdeckte. Eigentlich war sie alles andere als das, aber das war eine andere Geschichte. Eine, an die sie nun nicht auch noch denken wollte. „Ich bin okay, ehrlich." Zum Beweis ihres Wohlbefindens rührt sie entschieden den neuen Teig an.
Offenkundig wenig überzeugt, wandte Margit sich wieder ihrer Arbeit zu. Das entlockte ihr ein innerliches erleichtertes Aufatmen. Wäre es gegangen, hätte sie die Kopfschmerzen als Ausrede benutzt, um nicht an dieser dämlichen Veranstaltung teilnehmen zu müssen. Leider war die einzige Entschuldigung für ein Fehlen der Tod. Das ging ihr dann doch ein wenig zu weit.
Nachdem die tägliche Backarbeit erledigt war, machte sie sich mit pochenden Schläfen auf den Weg zu Karin, ihrer besten Freundin. Karin arbeitete auf den Feldern, die am anderen Ende, ein wenig außerhalb des Dorfes lagen. Daher musste sie es wohl oder übel in Kauf nehmen, sich durch das geschäftige Treiben in der Dorfmitte zu schlagen. Überall wuselten Frauen und Männer in geschäftigem Treiben umher. Vereinzelt sah sie auch Mädchen und junge Frauen, die sich auf die bevorstehende Veranstaltung vorbereiteten. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum man freiwillig an so einer Veranstaltung teilnahm. Vor einem Jahr hatte sie sich gefreut, erst einen Tag danach Geburtstag zu haben. Das hatte nämlich eine längere Schonfrist bedeutet.
Verständnislos blickte sie Breena hinterher, die in ihrem hellblauen Kleid über den staubigen Weg hastete. Dabei hielt sie den Saum gerafft, um ihn vor dem Dreck zu bewahren. Breena war vergangene Woche fünfzehn geworden. Sie war in sämtlichen Belangen noch ein Kind und musste noch nicht verpflichtend an dieser Sache teilnehmen. Warum man sich dann schon verheiraten wollte, war ihr schleierhaft.
Auf dem Dorfplatz musste sie unglücklicherweise anhalten. Zwei der Kandidaten – Rues und Pelo – rauften sich lautstark auf dem Boden und versperrten ihr damit den Weg. Der Grund für ihre Prügelei stand direkt daneben. Alessa. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass diese Zicke die beiden Streithähne aufeinander gehetzt hatte. Ihr selbstzufriedenes Grinsen war aussagekräftig genug.
Mit finsterer Miene kämpfte sie sich an den Schaulustigen vorbei und langte beherzt zu. Rues erwischte sie am braunen Haarzopf, Pelo bekam sie im Nacken zu fassen. „Hey, ihr Hohlbirnen", fauchte sie die Jungs ungehalten an. Augenblicklich fuhren sie auseinander.
„Achtung, Oberzicke", hörte sie Alessa aus dem Hintergrund flüstern. Am besten strafte man dieses Biest mit Missachtung. Also konzentrierte sie sich wieder auf die beiden Idioten vor sich.
„Ihr wollt euch doch nicht allen Ernstes wegen einer Puppe prügeln, die schon mehrfach benutzt wurde."
Wer damit gemeint war, war klar. Das mit Rick und Alessa war schon lange keine platonische Sache mehr. Die betroffenen Gesichter der beiden ließen sie abfällig schnauben. Die dachten doch nicht ernsthaft, dass sie Chancen bei ihr hatten? „Ihr werdet sie nie kriegen und das wisst ihr auch. Konzentriert euch lieber auf eure Herzensdame, als euch grundlos zum Affen zu machen." Beherzt stieß sie die beiden von sich und wandte sich mit einem vernichtenden Blick an Alessa, die mit den Augen etwas über ihrer Schulter fixierte. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf den Lippen der selbsternannten Dorfschönheit aus. An dieser Stelle beschloss sie, es auf sich zu belassen und wollte den Jungs ein Vorbild sein. Dass sie und Alessa wie Öl und Feuer waren, war dorfbekannt. Seit sie zusätzlich noch unter diesen bescheuerten Kopfschmerzen litt, hatte ihre Beziehung einen neuen Tiefpunkt erreicht. Nicht, dass es sie sonderlich scherte.
Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Gehen. Sie stand über solchen Dingen. War Alessa erst einmal mit Rick verheiratet, würden sie sich nur noch bei Dorffesten sehen. Welch verheißungsvolle Zukunft.
Eine fremde Hand legte sich ungefragt auf ihren Oberarm. Sofort fuhr sie herum, um den Unbekannten unfreundlich anzublaffen. „Was?"
Offene, belustigt wirkende braune Augen begegneten ihrem Blick. Der Blondschopf vor ihr kam ihr vage bekannt vor. „Warum so kratzbürstig? Sollest du nicht allen zuvorkommend begegnen?"
Der amüsierte Unterton des Kerls ließ ihn ihr nicht sonderlich sympathisch erscheinen. Dabei sah er gar nicht mal so schlecht aus. Aber gutes Aussehen bedeutete nun einmal nicht, einen guten Charakter zu haben. „Und warum?", fragte sie betont genervt. Er sollte sie einfach in Ruhe lassen.
Der volle Mund ihres Gegenübers verzog sich zu einem schwachen Lächeln. „Vielleicht, weil heute ein schöner Tag ist und alle Mädchen im Wahlfieber sind? Du müsstest doch alt genug sein."
Schnaubend riss sie sich von ihm los. „Ich bin nicht im Angebot", erklärte sie klipp und klar. Ohne diesen Unhold eines weiteren Blickes zu würdigen, machte sie sich wieder auf den Weg zu ihrer besten Freundin. Dabei ignorierte sie geflissentlich seine Nachrufe. So ein Idiot. Wenn ihr wenigstens einfallen würde, woher sie ihn kannte.
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