Kapitel 9 ✔️
Etwas außerhalb von Philly hatte er gesagt. Ich starrte auf das Armaturenbrett. Wir gurkten seit fast zwei Stunden durch die Walachei und waren noch nicht vor Ort. Und das Schlimmste an der Sache? Ich saß mit Luca allein im Auto. Giulia, Mario und Marco fuhren bei Emiliano mit. Das hätte man gleichmäßiger verteilen können. Aber nein, Emiliano hatte das Bedürfnis, seinem Consigliere zu etwas Zweisamkeit zu verhelfen. Was ich davon hielt, kümmerte niemanden. ICH war ja nicht seine kleine Schwester, die er vor den Kerlen beschützte. Dabei hätte ich das als sehr praktisch empfunden. Wäre sogar einem Mafioso dankbar gewesen. Denn Luca rutschte schon die ganze Zeit, wenn er einen Gang runter- oder hochschaltete, die Hand von der Gangschaltung. Der bevorzugte Landeplatz war zu meinem Leidwesen mein Oberschenkel. So ein Zufall aber auch!
„Wir sind da." Mit diesen drei simplen Worten riss er mich aus meinen Gedanken. „Woran hast du denn jetzt wieder gedacht?"
„Daran, dass ich morgen früh Zuhause sein muss, damit ich noch in Ruhe lernen kann. Immerhin muss ich am Montag wieder in die Schule."
Signor Macho stöhnte theatralisch auf, sparte sich aber erstaunlicherweise einen Kommentar und wir stiegen aus.
Jetzt erst betrachtete ich das riesige Haus. Obwohl, die Bezeichnung Haus war untertrieben. Es erinnerte mich weit mehr an ein Hotel. Ein Hotel mit einer Anlage gigantischem Ausmaßes. Erst einmal war da das dreistöckige Haupthaus, in einem warmen Orange gehalten mit terracottafarbenen Dachziegeln. Links und rechts wurde es von zwei kleineren Gebäuden flankiert. Wie von mir erwartet, trieben sich ein paar schwarzgekleidete Gorillas vor den Gebäuden herum, die uns mit unbeweglicher Miene betrachteten, als wir zum Haupthaus liefen. Luca hielt seinen Arm fest um meine Taille geschlungen. Ein wohlig warmes Kribbeln strömte durch meinen Körper. Etwas, das ich zu ignorieren versuchte, doch kläglich scheiterte. Wieso war ich nur mitgekommen?
Wir traten ein und ich schaute mich erst einmal um. Wie in der Villa in Philadelphia dominierten warme und fröhliche Farben. Dazu waren die Wände mit Wandmalereien geschmückt, die typische italienische Landschaften darstellten. Es gefiel mir hier auf Anhieb und ich fühlte mich nach Italien versetzt, obwohl ich das Land noch nie besucht hatte. Während ich vor mich hin träumte, flog mir jemand um den Hals und ich geriet ins Taumeln. Fast wären wir gestürzt, hätte Luca mich nicht gestützt.
„Nicht so stürmisch Giulia", ermahnte er meine Freundin. „Sonst kriege ich wieder die Schuld, wenn sie sich verletzt."
Klar, ich war ja so tollpatschig, dass ich ständig auf die Nase fiel. Ironie Ende.
„Komm, ich zeige dir alles." Giulia versuchte, mich von Luca wegzuziehen, doch er löste ihren Griff um meinen Arm.
„Wenn, dann zeige ich Gina alles." Alles? Hörte ich da einen kleinen Unterton heraus? Nein, das bildete ich mir nur ein. Ich strich eine Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr.
„Luca, Emiliano erwartet dich im Besprechungsraum. Giulia, du wirst im Garten erwartet." Matteo befreite mich unter Lucas lautstarkem Protest aus dessen Klammergriff. Auf meinem Arm prangte deutlich der Abdruck seiner Finger. „Jetzt kann ich dir alles zeigen."
Er führte mich als erstes in die riesige Küche im Erdgeschoss. Italienische Matronen wuselten herum, schnitten Obst und Gemüse klein oder beschäftigten sich mit irgendwelchen Teigen. Ich fühlte mich fehl am Platze vor, wie ich so regungslos dastand und die Frauen bei ihren Tätigkeiten beobachtete. Die vielzähligen Gerüche umwarben mich und mein Magen knurrte prompt laut. Beschämt legte ich eine Hand auf meinen grummelnden Bauch.
„Hier, ragazza. Wir wollen doch nicht, dass du uns verhungerst. Mehr gibt es jetzt aber nicht." Eine der Italienerinnen drohte mir zwinkernd mit einem Kochlöffel und reichte mir ein Stück Brot, dessen Oberfläche mit Meersalz und Rosmarin bedeckt war. Es roch herrlich würzig und ich biss etwas ab. Lecker.
„Und was ist mit mir?" Matteo schob seine Unterlippe vor und riss seine Augenlider weit auf. Sein Welpenblick half nicht.
„Du wirst dich schön gedulden." Die Frau wandte sich wieder ihrer Tätigkeit zu. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Begleiter sich langsam an eine Arbeitsfläche heranpirschte und blitzschnell einige Plätzchen von einem großen Teller stahl.
„Matteo! Uscite dalla cucina!" Eine grauhaarige Italienerin drohte ihm mit dem Nudelholz und er zog mich lachend hinter sich her aus der Küche. An einem Keks knabbernd führte er mich in den Speisesaal. Mein Blick fiel sofort auf die geschwungenen Fenster, die bis zum Boden reichten und alle auf den großen Garten gerichtet waren. Die Aussicht war wunderschön! Blühende Sträucher, bunte Blumenbeete, etwas weiter hinten ein einladender Pool, um den eine Vielzahl an Poolliegen stand. Ich bedauerte es für einen Moment, dass ich keinen Bikini mitgenommen hatte. Dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, als mir einfiel, dass die Mafiosi mich besser nicht halbnackt sahen. Luca war so schon aufdringlich. Im Pool würde er nach aller Wahrscheinlichkeit noch mehr auf Tuchfühlung gehen. Bloß nicht!
„Und diesen Saal nutzen wir im Winter beziehungsweise bei schlechtem Wetter. Was recht häufig passiert, denn zu Feiern gibt es bei uns oft etwas." Klar, der erfolgreiche Abschluss einen Drogen- oder eines Waffendeals war mit Sicherheit Grund genug, sich einmal ordentlich die Kante zu geben.
„Der Besprechungsraum ist gerade tabu. Den kann ich dir somit nicht zeigen. Aber lass uns mal eine Etage höher gehen." Ich fluchte innerlich, denn genau dort vermutete ich nützliche Informationen. Zögernd folgte ich dem Italiener die Treppe hinauf.
Im Obergeschoss gab es eine bescheidene Bibliothek, in der ich mich aus Matteos Griff befreite und die Regale entlanglief. Ein kleines Büchlein zog mich in seinen Bann. Es erinnerte mich an das handgeschriebene Exemplar, das in meinem Besitz war. Das Buch, das die Geschichte von Giulia und Vincente Pensatori beschrieb. Ich schlug es auf und tatsächlich, auch hier die gleiche geschwungene Schrift von Giulias Tochter.
„Stell das mal lieber zurück", sagte Matteo leise hinter mir. Ich drehte mich mit einem fragenden Blick zu ihm um.
„Das Buch hat eine Vorfahrin von Emiliano und Giulia geschrieben. Es gab davon zwei Exemplare, aber eins ist vor Jahren verschwunden. Jemand hat es aus dem Haus eines Familienmitglieds gestohlen. Wir haben keine Ahnung, wer es nun in seinem Besitz hat." Er schüttelte bedauernd den Kopf.
Ich schluckte leer, denn ich wusste zu genau, wo es versteckt lag. Wenn die Mission beendet war, würde ich es Giulia anonym zukommen lassen. Als Ausgleich dafür, dass ihr Bruder dann im Knast versauerte.
Mein Blick glitt weiter über die Bücher. Viele Klassiker der Literatur. Mein absoluter Favorit stand ebenfalls im Regal. Ich grinste Lucas Bruder frech an.
„Kannst zurück zu den anderen. Ich bin dann erstmal auf der Schatzinsel mit Jim Hawkins und kämpfe gegen Long John Silver und die Piratentruppe vom alten Kapitän Flint."
Er lachte, packte mich am Handgelenk und zog mich unbarmherzig vom Regal weg. Widerstrebend folgte ich ihm, nachdem ich einen bedauernden Blick zurückgeworfen hatte.
„Hey, jetzt stell dich nicht so an. Ich habe dir noch nicht alles gezeigt", maulte er. „Außerdem könntest du an meinem Geburtstag ruhig netter zu mir sein."
„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße", rutschte es mir heraus. Schnell schlug ich die Hand vor den Mund. Das war jetzt etwas zu frech. Vorsichtig linste ich zu dem Italiener, der mich grinsend beobachtete.
„So gefällst du mir schon viel besser. Ein kleines Mäuschen gehört nicht in unsere Kreise." Wieder ertönte sein warmes tiefes Lachen und ich stimmte mit ein. Matteo war mir sympathisch, obwohl er ein Mafioso war.
Er zeigte mir noch kurz das Zimmer, in dem ich mit Giulia übernachten würde, dann schleppte er mich in den Keller. Dieser stellte sich als Gewölbekeller heraus. Die Steinwände waren nicht verputzt, wodurch mir das Gebäude weitaus älter vorkam, als es auf den anderen Etagen den Anschein hatte. Hier unten dachte ich schaudernd an die Katakomben von Paris, an deren Wänden Menschenschädel aufgestapelt waren. Ich schüttelte den Gedanken ab. So alt war der Keller mit Sicherheit nicht. Zu der Zeit gab es noch keine Europäer in Amerika. Ich schätzte den Baustil eher auf das neunzehnte Jahrhundert, doch das passte trotzdem nicht. Oben war alles modern. Zweifelnd schaute ich mich um und nagte an meiner Unterlippe.
„Für den Keller wurden alte Steine verwendet." Matteo fuhr mit der Hand über die Mauer. „Beeindruckend, nicht wahr?" Sein forschender Blick scannte jeden Millimeter meines Gesichts ab. Wenn das so weiterging, flog meine Tarnung sicher bald auf. Mit irgendetwas hatte ich mich verraten. Warum hatten sie sonst so ein ausgeprägtes Interesse an mir? Ich musste Luca und damit die ganze Familie an diesem Wochenende vergraulen. Das war meine einzige Chance, aus der Sache noch rauszukommen. Ich schluckte die aufsteigende Übelkeit runter und wandte mich ab. Hilfe!
„Weshalb ich dich eigentlich entführt habe," der große Italiener vor mir stockte und sah mich an. „Meine Eltern sind heute auch da. Und wie ich meinen Bruder einschätze, wird er dich ihnen vorstellen wollen."
„Ganz schlechte Idee", brachte ich keuchend hervor. Das war weitaus schlimmer, als enttarnt zu werden! Es kam mir vor, als ob mir jemand den Sauerstoff absaugte. Matteo grinste nur.
„Lass es mich so sagen, wenn sie dich mögen, dann werden bald die Hochzeitsglocken läuten."
Ich blickte ihn starr vor Entsetzen an. Mein Körper verweigerte jegliche Bewegung, wirkte wie eingefroren. Ich zwang mich zu einer ruhigen, tiefen Atmung. Nach einigen Atemzügen fing ich mich zu meiner Erleichterung. Meine Muskeln entspannten sich wieder. Der Mistkerl veräppelte mich nur.
„Nicht lustig." Ich boxte den Italiener gegen seine durchtrainierte Brust, doch er bewegte sich nicht einen Millimeter.
„Ich meine es ernst. Luca will dich zur Frau." Er strich mir eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr.
„Er kennt mich gerade mal ein paar Tage", wehrte ich ab, kämpfte fast schon gegen Tränen an. Warum war ich nur mitgefahren?
„Und in den paar Tagen hat er beschlossen, dass er ein ruhiges, liebes Mädchen wie dich immer beschützen will."
„Vielleicht habe ich ja eine dunkle gefährliche Seite, die er nicht leiden kann." Oh ja, die hatte ich ohne Scheiß. Matteo schmunzelte nur. Dann zog er mich zur Treppe.
„Wir sollten mal wieder hochgehen. Die Besprechung ist sicher bald zu Ende und ich möchte nicht meinem Bruder in die Hände fallen, wenn ich mit dir in einem dunklen Keller allein bin." Er hielt sich zwei Finger wie eine Pistole an den Kopf.
Wir stapften die Treppe hoch und kamen in dem Moment im Erdgeschoss an, als die Tür vom Besprechungsraum aufging. Ein Italiener um die Fünfzig trat als Erster heraus. Ich musterte ihn neugierig. Seine Gesichtszüge kamen mir vertraut vor.
„Ah mein Sohn, ist das deine Freundin?", sprach er Matteo an, sowie er uns entdeckte. Wohlwollend betrachtete er mich.
„Nein, das ist meine Freundin." Luca drängte an seinem Vater vorbei und schlang seinen Arm um meine Taille.
„Ich bin nur eine Freundin", stellte ich klar, wand mich aus Lucas Griff heraus und flüchtete in den Garten. Dort traf ich auf Giulia, die sich angeregt mit einer älteren Italienerin unterhielt. Diese trug ein maßgeschneidertes gelbes Kleid, das ihren schlanken Körper perfekt betonte. Sie musterte mich kurz, als ich mich dazugesellte, und schenkte mir ein warmes Lächeln.
„Du musst Gina sein. Mein Sohn Luca hat mir schon viel über dich erzählt." Na super. War ich gerade vor seinem Vater geflüchtet, lief ich direkt seiner Mutter in die Arme. Wo war das nächste Tiefe Erdloch, in das ich mich stürzen konnte?
„So lange kennt er Angela doch noch gar nicht", rettete Giulia mich. „Wenn du uns jetzt bitte entschuldigen würdest, Sofia, ich möchte meiner Freundin den Rest des Anwesens zeigen."
„Aber sicher meine Liebe." Die Italienerin warf mir noch einen Blick zu. „So ähnlich wie ihr einander seid, könnte man glatt meinen, die kleine Angelina wäre zurück." Angelina. So nannte Emiliano mich doch. Ich hatte nichts über ein Mädchen der Pensatori mit diesem Namen in den Unterlagen gefunden. Von wem war die Rede?
Giulia zog mich mit an den großen Pool und setzte sich auf eine der Liegen. Ich folgte ihrem Vorbild und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum. Das verlief nicht im Geringsten so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
„Wer ist eigentlich diese Angelina?", fragte ich nach einer Weile.
„Als ich noch klein war, wurde der Bruder meines Vaters ermordet. Mit ihm seine Frau. Sie hatten eine Tochter, die so alt war wie ich. Angelina. Wir sollen uns als Kinder sehr ähnlich gesehen haben." Ihre Stimme zitterte. „Der Mörder hat sie mitgenommen. Mein Vater hat jahrelang versucht, sie zu finden, aber die Suche verlief im Sande." Eine Träne kullerte über ihre Wange. Mir kam ein Gedanke.
„Nennt Emiliano mich deswegen Angelina?"
„Ja. Du hast keine Ahnung, wie erstaunt er reagiert hat, als ich ihm am Montag von dir berichtet habe. Er hat sofort Informationen über dich eingeholt und deswegen war Luca am Dienstag auch zur Stelle, als Aiden dich verletzt hat."
„Woher weißt du das? Ich hab dir nicht erzählt, was genau vorgefallen ist." Der Mut sank mir in meine Schuhe. Sie hatten mich doch beschattet. Giulia zuckte mit den Achseln. Dann schaute sie mich mit ihren großen braunen Augen entschuldigend an.
„Ich weiß, dass du nicht meine Cousine sein kannst, auf Grund der Infos, die wir erhalten haben. Aber gerade, weil du mir so ähnlich bist, ist es für dich bei uns sicherer."
„So sehr ich dich auch mag Giulia, obwohl ich dich erst so kurz kenne. Aber ich gehöre nicht hierher. Ihr seid verdammt noch mal die Mafia. Ich bin ein normales Mädchen." Ich schüttelte traurig den Kopf.
Sie wollte etwas erwidern, doch aus dem Augenwinkel sah ich, dass Marco auf uns zulief. Daher kam ich ihr zuvor.
„Dein Süßer kommt gerade her."
Sie schaute hoch und errötete. Hatte ich wenigstens mit der Vermutung, dass es zwischen den beiden funkte, recht. Immerhin etwas Positives. Außerdem hatte ich perfekt unser Gespräch gedreht.
„Ich lass euch mal allein." Ich stand auf und lief Richtung Haus los, sowie Marco bei uns ankam.
Als ich durch die Terrassentür trat, kam mir eine angenehme Kühle entgegen. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich fröstelte kurz. Die Jeans klebte mir ein wenig am Hintern, doch ein Kleid anzuziehen, kam für mich nicht in Frage. Aber ein neues Shirt war wohl angebracht. Ich betrat die erste Treppenstufe, als sich zwei Arme wie Würgeschlangen von um meine Taille wanden.
„Du kommst jetzt mit zu meinen Eltern, ob es dir gefällt oder nicht." Die Nervensäge zog mich mit sich mit. Ich benötigte dringend einen Plan, um dem vermutlich äußerst peinlichen Gespräch zu entgehen.
„In Ordnung Luca." Wie erwartet ließ er mich wegen meiner Zustimmung los und ich rannte sofort die Treppe hoch. Er brauchte einen Moment, dann stürmte er mir auf Italienisch fluchend hinterher. Oben angekommen flitzte ich direkt in Giulias und mein Zimmer und schloss die Tür ab. Lachend glitt ich auf den Boden. Ich hatte ihn reingelegt. Aber mir war klar, dass ich mich nicht ewig hier oben verstecken konnte.
„Wir treffen uns gleich unten", brummte ein genervter Luca vor der Tür. Wenigstens verzichtete er darauf, auf sie einzuschlagen.
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