Kapitel 49 ✔️
Seit vier Monaten lebte ich im Pine Ridge Reservat bei den Lakota. Das Elend, das ich hier tagtäglich mitbekam, zehrte an meinen Nerven. Aber wie sollte man bei einer Arbeitslosigkeit von fünfundachtzig Prozent, einer hohen Suizidrate, Drogen- und Alkoholmissbrauch und einer geringen Lebenserwartung unbesorgt durch die Gegend hüpfen? Ich versuchte, von Nutzen zu sein, wo ich nur konnte. Dank meines separaten Bankkontos hatte ich einen Jeep, mit dem ich regelmäßig das Reservat verließ, um für einige der ärmsten Familien Lebensmittel zu holen. Ansonsten unterrichtete ich lernbegierige Kinder und Jugendliche im Kampfsport, um ihnen etwas Positives im Leben zu geben. Ich hatte schon einige Male überlegt, Immobilien zu verkaufen und das Geld in die Infrastruktur, das Schulwesen und das Gesundheitswesen im Reservat zu investieren. Wenn ich daran dachte, wie reich meine Familie war und dass viele Indianerfamilien hier nicht einmal Strom hatten, wurde mir speiübel. Zwar wurden seit einigen Jahren vermehrt eigene Unternehmen gegründet, die Arbeitsplätze schafften und indianische Produkte vermarkteten, doch das reichte bei Weitem nicht.
Im Moment waren Leroy und ich unterwegs zum Little Big Horn Battlefield National Monument. Wir waren am Vortag losgefahren und hatten in irgendeinem kleinen Kaff übernachtet. Nun waren wir auf Feindesland, wie mein Begleiter es betitelte - im Reservat der Crow. Abgesehen davon, dass ich versucht hatte, mich bei den Lakota nützlich zu machen, hatte ich dazu einiges über die Geschichte gelernt. Normalerweise wäre es für einen Geschichtsfan wie mich etwas Einmaliges und Wundervolles, doch was den Lakota beziehungsweise den Indianern durch die Europäer und ihre Nachfahren angetan worden war, ließ mich des Öfteren heulen. Bevorzugt, wenn ich abends allein im Bett lag. Die Zeit im Reservat hatte meine Augen geöffnet. Familie war wichtig, ohne Frage. Doch wenn sie einen zu zerstören drohte, dann musste man sich freikämpfen. Einige Male war ich kurz davor gewesen, Michael zu kontaktieren. Damit er sein Versprechen einlöste. Dann wieder vermisste ich Luca. Nachdenklich strich ich mir über den Bauch. Der Zwerg wuchs und wuchs. Bald musste ich eine Entscheidung treffen, ob ich das Kind mit meinem Mann großziehen wollte oder zusammen mit meinem besten Freund fernab von der Mafia.
„Du bist zu still heute. Geht es dir nicht gut? Ist etwas mit dem Baby?" Leroy fuhr zwar und konzentrierte sich auf die Straße, doch war er wie immer aufmerksam, was mein Wohlbefinden anging. Warum konnte meine Familie nicht so sein wie er oder Michael? Beide registrierten direkt, wenn es mir mies ging, drängten mich aber zu nichts.
„Ich habe nur an meine Familie gedacht", gab ich zu.
„Dachte ich mir schon. Du kannst dich nicht entscheiden, ob du zu ihnen zurückkehren oder ihrer Welt komplett den Rücken kehren sollst." Sagte ich schon, dass er aufmerksam war?
„Ja, einerseits will ich, dass mein Kind seinen Vater kennt und bei ihm aufwächst. Andererseits, wenn es ein Junge wird, muss er in die Fußstapfen seines Vaters oder meines Cousins treten. Ich weiß nicht, ob ich das will." Ich zuckte resignierend mit den Schultern.
„Da kommt wohl doch der Mutterinstinkt bei dir durch", schmunzelte der Lakota neben mir. Er hatte ja recht. Die Schwangerschaft veränderte mich. Nicht in der Art, dass ich brav hinter dem Herd stehen wollte. Nein, ich wurde fanatischer, wenn es um den Schutz der Personen ging, die ich liebte. Daher mein Dilemma.
„Weißt du, manchmal wünschte ich mir, Michael wäre bei mir", seufzte ich, als wir das Besucherzentrum erreichten. Seine besonnene Art fehlte mir. Melancholisch schaute ich aus dem Fenster. Eine mir nur zu bekannte Silhouette lehnte an einem Motorrad. Mein Puls verdoppelte seinen Takt, mein Herz hüpfte vor Freude auf und ab. Das Baby schlug einen Purzelbaum, schien sich von der Aufregung anstecken zu lassen.
Kaum stoppte Leroy den Wagen, sprang ich auch schon raus und rannte auf meinen besten Freund zu. Glücklich fiel ich in seine Arme und er zog mich direkt fest an seine wie immer durchtrainierte Brust.
„Na die Überraschung ist uns wohl gelungen", lachte Leroy, bevor er Michael begrüßte. „Was gibt es so Wichtiges, dass du uns besuchst? Am Telefon gabst du dich so geheimnisvoll."
„Das ist nur für die Ohren meiner kleinen Schwester bestimmt und die muss sich noch etwas gedulden. Erst löse ich mein Versprechen ein und zeige ihr den Ort von General Custers letzter Schlacht."
Ich war zwar neugierig, warum er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hier aufgetaucht war, doch kuschelte ich mich nur stumm an ihn. Mir wurde noch stärker bewusst, wie schmerzlich ich Michael vermisst hatte. Nach einigen Minuten lösten wir uns voneinander. Er strich mir grinsend eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem geflochtenen Zopf gelöst hatte.
„Warum bist du eigentlich auf meinem Motorrad hier?", fragte ich ihn, hielt die Stille nicht mehr aus. Wieso nutzte er nicht eines seiner Fahrzeuge? War etwas passiert? Er hatte zumindest den Mustang und ein eigenes Bike.
„Meine Sachen wurden so ziemlich alle verwanzt beziehungsweise mit Peilsendern ausgestattet. Zuerst waren es nur mein Smartphone und der Mustang. Das müsste ich deinem Mann zu verdanken haben. Und seitdem ich das letzte Mal in Philly aufgetaucht bin, habe ich weitere Wanzen und Sender gefunden. Und da ich niemanden zu dir führen wollte, musste ich alles zurücklassen", erklärte er mir nüchtern. An seinem Gesicht konnte ich keine Emotionen ablesen, nur vermuten, wie sehr es ihn wurmte.
„Sie machen dir meinetwegen das Leben zur Hölle." Ich wandte mich von ihm ab. Tränen brannten mal wieder in meinen Augen. Scheiß Schwangerschaftshormone. Nur wegen der Schwangerschaft saß ich hier fest. Ohne sie würde ich problemlos Ilimitada anführen. Und ich müsste mich nicht ständig mit Stimmungsschwankungen herumärgern. „Das bedeutet, sie haben es nicht anders gewollt. Ich werde nicht mehr nach Philly zurückkehren." Obwohl ein kleiner Teil von mir mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war, sich schmerzhaft zusammenzog, schien es mir doch das Beste zu sein. Wenn sie sich jetzt schon so bekloppt verhielten, dann könnte ich nach einer möglichen Rückkehr sämtlichen Freiheiten Lebewohl sagen. Das würde mir mit Sicherheit nicht passieren. Nur über meine Leiche.
Michael schlang direkt seine Arme um meinen Körper. Ich lehnte mich nach hinten an seine Brust. Mit ihm an meiner Seite würde ich alles durchstehen, das spürte ich tief in meinem Inneren. Er würde mich nie im Stich lassen. Nicht so, wie die verflixten Italiener.
„Seid Ihr nur zum Kuscheln hier oder schauen wir uns heute noch etwas an?", fragte Leroy uns spöttisch.
Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, zum einen die Ausstellung anzuschauen und zum zweiten mit einem Rundgang über das ausgestreckte Gebiet am Little Big Horn Fluss, wo Custer seinen und den Untergang des Siebten Kavallerieregiments heraufbeschworen hatte. Ehrlich gesagt berührten mich die weißen Grabsteine, die an die Soldaten erinnerten, herzlich wenig. Die roten Granitsteine für die gefallenen Indianer zogen mich dagegen mit unsichtbaren Fäden an. Womöglich wegen den beiden Lakota, die mich begleiteten oder auf Grund der hoffnungslosen Lage der Ureinwohner, die ich im Reservat kennengelernt hatte. Auf jeden Fall stieß es mir übel auf, wie die Nachfahren der weißen Einwanderer auch jetzt mit Menschen anderer Hautfarbe umgingen. Oder wie die sogenannten patriotischen Amerikaner gegen Immigranten wetterten, obwohl sie selbst allesamt Nachkommen eben solcher waren. Das war doch alles Scheiße. Wurde man in die falsche Familie geboren, hatte man weniger Möglichkeiten als jemand aus einer anderen Familie.
Ach ja, Familie. Wie kam ich an die Unterlagen meiner Immobilien ran, um einige davon zu verkaufen? Dabei durfte ich nicht einem Familienmitglied in die Hände fallen. Etwas, bei dem ich Probleme erwartete, denn sie hatten sich mit Sicherheit die Unterlagen unter die Nägel gerissen.
„Michael?" Wir waren vor einem Augenblick wieder beim Besucherzentrum angekommen und er stieg auf mein Motorrad auf, ohne mich vorher zu umarmen. Ich fürchtete, dass er mich erneut verlassen würde, denn ich brauchte seine Nähe.
„Keine Angst, ich fahre jetzt mit zu unserer Übernachtungsmöglichkeit und komme morgen mit ins Reservat." Er lächelte mich breit an, dann stieg er auf und fuhr los. Gleich darauf folgten wir ihm.
Nach dem Abendessen verschwand ich nachdenklich auf meinem Zimmer. Ich grübelte darüber nach, wie ich an die Unterlagen kam, ohne jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Da klopfte es an der Tür und Michael kam herein. Abwartend sah ich zu ihm auf. Bekam ich jetzt Antworten auf die vielen Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten wie ein Schwarm Bienen auf der Jagd nach Nektar?
„Bist du dir sicher, dass du nicht zurück zu deiner Familie willst?", fragte er, als er sich zu mir aufs Bett setzte. Seine Stimme klang ungewohnt ernst. Seine Miene verdüsterte sich, als ob er mit sich kämpfte. Er seufzte. „Eigentlich will ich es dir gar nicht erzählen." Mein Magen krampfte sich zusammen.
„Ist etwas mit Luca passiert?", fragte ich nervös und setzte mich auf.
„Nein, die Nervensäge ist nur depressiv." Michael holte zweimal tief Luft. „Also, kurz zusammengefasst: Jeanne und Matteo wollen Philadelphia verlassen, damit sie in einem Krankenhaus fernab der Familie arbeiten kann. Giulia hat Marco rausgeschmissen und die Scheidung beantragt. Lucy hat die Beziehung mit Emiliano beendet und will zurück nach Des Moines ziehen."
„Wie? Was?" Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen konnte. Was war zuhause nur los, dass alle den Aufstand probten? Konnte man die nicht einmal ein paar Monate allein lassen? Ich war doch nicht deren Babysitter.
„Die Frauen geben den Männern die Schuld daran, dass du abgehauen bist. Was ja auch stimmt, wenn man es genau betrachtet." Er ließ sich auf mein Kissen sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich nickte bei seinen Worten. Ja klar waren sie schuld. Hätten sie mir nicht die Leitung über Ilimitada weggenommen, säße ich friedlich zuhause. Demzufolge sollte sich niemand wundern, dass ich die Flucht ergriffen hatte. Aber dass die anderen Frauen sich gegen die italienischen Machos auflehnten, war erstaunlich. Bei Jeanne und Lucy war es nachvollziehbar, da sie nicht in einem Mafiahaushalt aufgewachsen waren. Aber dass jetzt sogar meine hochschwangere Cousine die Reißleine zog, kam völlig unvorhergesehen. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Zwei Arme legten sich um meine Taille, zogen mich runter aufs Bett, so dass ich an Michael gekuschelt dalag.
Ich versank tiefer in Gedanken. Spielte alle möglichen Szenarien durch. Und kam immer wieder auf das gleiche Ergebnis. Ich musste zurückkehren, ob es mir passte oder nicht. Die erste Träne lief mir über die Wange. Was war meine Freiheit gegen das Wohlbefinden der Familie? Warum durfte ich nicht so leben, wie ich es für angemessen hielt? Musste ich mich wieder den Regeln unterwerfen, meine Eigenständigkeit aufgeben? Die Tränen rannen mir über das Gesicht. Ein Kloß schnürte meine Kehle zu und ich starrte Michael hilflos an. So, als ob er mir vorschreiben sollte, was ich zu tun hätte.
„Und genau deswegen wollte ich dir nichts sagen, aber verschweigen durfte ich es dir auch nicht", brummte mein bester Freund, der mich behutsam auf seine Brust zog. Sanft strich er mir über den Rücken. Ich blieb weinend auf ihm liegen, bis ich in einen traumlosen Schlaf fiel.
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