Kapitel 48 ✔️

PoV Luca

Mürrisch wartete ich im Besprechungsraum der Pensatori-Villa auf die anderen Familienmitglieder. Es ging mir am Arsch vorbei, was Emiliano heute mit uns besprechen wollte. Auch wenn es etwas Wichtiges war, denn umsonst waren unsere Väter wohl kaum aufgetaucht. Eine Stunde zuvor hatte ich vom Fenster aus beobachtet, wie sie grimmig aus dem Wagen gestiegen waren. Das Zeichen für mich, schleunigst zu verschwinden. Daher war ich in den Besprechungsraum geflüchtet, um mir nicht direkt wieder Fragen anzuhören. Nein, wir hatten selbst nach vier Monaten keine Hinweise, wo Gina sich aufhielt. Die ersten Wochen hatte meine Mutter täglich angerufen und mich angefleht, meine Frau zu finden. Wie denn, wenn ich keinen blassen Schimmer davon hatte, wo sie steckte? Doch Mamma hatte mich weiter genervt und mir ungefragt Ratschläge erteilt. Dabei hatte einer ihrer Vorschläge uns erst in diese Scheiße geritten. Warum hatte ich nur auf sie gehört? Mir war doch von Anfang an bewusst, was ich damit anrichtete. Was wir Gina antaten, wie sehr wir sie verletzten. Tja, meine Mutter hatte ich nach ihrem Gezeter auf dem Smartphone blockiert. Kurz darauf meinen Vater ebenfalls. Am liebsten würde ich alle blockieren und mich nur in Ginas altem Haus aufhalten. In ihrer Villa zu leben, die sie für uns gekauft und als Hauptquartier für Ilimitada eingerichtet hatte, war zu schmerzhaft. Alles dort erinnerte mich an sie. Sie hatte recht. Ich war ein mieser kleiner Verräter.

Meine Mutter hatte nach unserer Rückkehr in die Staaten allen brühwarm von der Aktion auf Sizilien erzählt. Wie mutig ich doch war und sogar Don Gambino mit meinen Kampfkünsten überzeugt hatte. Ja, ich hatte mich geschmeichelt gefühlt. Die Gambinos waren eine angesehene Familie und dass sie mich hatten aufnehmen wollen, war eine große Ehre. Doch meine Mutter hatte dazu Ginas Rolle komplett heruntergespielt und es so dargestellt, als ob sie ohne mich verloren wäre. Und ich Idiot hatte die Bemerkungen nicht widerlegt. Weil ich mir wünschte, dass meine Frau sich aus den gefährlichen Geschäften zurückzog. Stattdessen hatte sie sich von mir und allen, die sie liebten, zurückgezogen. È stata colpa mia. Es war meine Schuld.

Idiota.

Jemand stieß die Tür auf. Ich zuckte zusammen, mein Magen krampfte. Es war Zeit für das Meeting.

„Ach, hier steckst du." Mario plumpste auf dem Stuhl neben mir. Kurz darauf schlurfte mein Bruder herein, der schon einmal begeisterter ausgesehen hatte. Genauso wie Marco, der vermutlich von seiner schwangeren Frau terrorisiert worden war. Giulias Gefühlsschwankungen waren ein weiterer Grund, weshalb ich der Villa entfloh. Der Nächste, der eintrat, war Emiliano. Dicke schwarze Ringe unter seinen Augen zeugten davon, dass er ebenfalls zu wenig Schlaf bekam. Michael, der ausnahmsweise mal wieder vor Ort war, schlich auf seinen Platz. Zuletzt traten Sergio Pensatori, Vicente Capelli und mein Vater ein. Obwohl der alte Pensatori noch immer unser Familienoberhaupt war, überließ er die Leitung der Besprechung seinem Sohn.

„Ich danke euch, dass ihr gekommen seid." Emiliano sah uns nacheinander in die Augen. Pah, als ob wir eine Wahl hätten. Ohne Grund eine Zusammenkunft ausfallen zu lassen, gehörte sich nicht in einer Mafiafamilie. Es gab strikte Regeln, die man einzuhalten hatte. Regeln, die meine Frau die Flucht hatten ergreifen lassen. Mittlerweile war ich so durch, dass ich alles hinschmeißen würde, um wieder mit Gina vereint zu sein. Ihr feindseliger Blick, als sie mich das letzte Mal angesehen hatte, verfolgte mich in meinen Träumen. Mehrfach hatte ich schon geträumt, dass ich sie fand, sie aber unser Kind aus Wut und Enttäuschung abgetrieben hatte. Meist endeten diese Träume damit, dass entweder sie mich tötete oder ich mich selbst. Tränen brannten in meinen Augen. Ein Kloß versperrte meine Kehle.

„Es gibt einen schwerwiegenden Grund, weshalb ich euch sprechen wollte. Nachdem die Tempestuoso und Massimo Lucchese die Zusammenarbeit bei Ilimitada abgelehnt haben, hat sich nun selbst Genovese dagegen entschieden. Wenn Gina die Truppe nicht anführt, wollen sie nicht mitmachen."

Was für eine Überraschung. Nein, nicht wirklich. Es war ein Szenario, dass wir alle befürchtet hatten. Kein Don wollte sich einem anderen unterstellen. Außer es handelte sich um den Capo di tutti Capi, aber der gehörte zu keiner der genannten Familien.

„Dann habe ich gleich die nächste gute Nachricht", meldete sich mein Bruder zu Wort. Seine Augen waren ungewohnt leer und seine Stimme erschreckend eintönig. „Ich soll euch von Jeanne mitteilen, dass sie der Familie nicht länger zur Verfügung steht. Sie will in eine andere Stadt und dort in einem Krankenhaus arbeiten. Seht es mir nach, aber ich liebe meine Frau. Daher möchte ich aus den Familientätigkeiten raus."

Ich schluckte. Der pflichtbewusste Matteo, der immer die Familie über alles gestellt hatte, warf das Handtuch. Etwas, das ich zwar für Gina ebenfalls tun wollte, doch überrumpelte seine Aussage mich. Und nicht nur mich, wie mir ein Blick in die Runde bestätigte.

„Wir müssen Gina finden, sonst bricht alles auseinander", meldete sich Marco zu Wort, von seiner sonstigen Ruhe keine Spur. Seine Hände zitterten so heftig, dass er sie letzten Endes unter dem Tisch versteckte.

„Wie kommt es, dass du deine Meinung plötzlich geändert hast? Du warst doch sonst dafür, dass wir Gina erst einmal in Ruhe lassen, statt so verbissen nach ihr zu suchen, wie dieser liebestolle Köter neben mir." Mario sah Marco herausfordernd an. Etwas Einschneidendes war passiert, wenn unser Sottocapo seine Meinung änderte.

„Giulia hat sich von mir getrennt. Sie will die Scheidung", murmelte er vor sich hin. Ein entsetztes Keuchen hallte durch den Raum. Sergio Pensatori riss geschockt die Augen auf. Das Verhalten seiner Tochter widersprach allem, was Frauen in Mafiafamilien gelehrt wurde.

„A-aber wieso?" Verständnislos schaute er zwischen uns hin und her, als ob einer von uns ihm eine Antwort geben konnte.

„Vater, es ist wegen Gina. Giulia gibt uns die Schuld an ihrem Verschwinden. Sie sagt, dass wir keine Familie sind", klärte Emiliano uns auf. Er selbst schluckte schwer bei seinen Worten und hatte sichtbar Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten.

„Übrigens, Lucy hat die Verlobung gelöst. Sie weigert sich, länger hier zu bleiben. Gina hatte sie gerettet und weil es laut Lucy meine Schuld ist, dass Gina abgehauen ist, will sie nicht mehr meine Frau werden." Eine Träne stahl sich unserem Anführer aus dem Auge und er ließ sie unbehelligt laufen.

„Cazzo! Wir sind alle Schuld!" Mein Vater sprach aus, was ein jeder von uns insgeheim dacht. Obwohl. Misstrauisch linste ich zu dem Lakota, der wie immer, ohne eine Miene zu verziehen, still dasaß. Einerseits reiste er kreuz und quer durch die Staaten, um Gina zu finden. Andererseits verdächtigte ich ihn nach wie vor, ihr zur Flucht verholfen zu haben. Flucht. Scheiße. Jetzt nahm ich schon an, dass sie geflohen, nicht untergetaucht war. Aber es stimmte. Sie war vor den Regeln und vor allem vor mir geflohen. Ein eisernes Band legte sich um meine Brust, zog sich mit jeder Minute in diesem Raum enger.

„Michael, ich weiß, dass du alle Städte, in denen Angelina Immobilien hat, bereits durchsucht hast. Ist dir dabei irgendwas aufgefallen? Jede Kleinigkeit könnte uns helfen." Sergio sah unseren schweigsamen Genossen flehend an.

„Ich habe nur herausgefunden, dass sie sich in keinem ihrer Häuser aufgehalten hat." Ohne Probleme hielt er den Blicken stand. Er sprach die Wahrheit. Aber was, wenn er genau wusste, wo sie sich stattdessen aufhielt? Die beiden hingen zu extrem aneinander, dass sie ihn ohne Gewissensbisse zurücklassen würde. Ich spürte ein Augenpaar auf mir und schaute rüber. Mein Vater sah fragend zu mir, doch ich richtete nur den Blick wieder stur auf Michael. Ich vertraute ihm nicht. Er war der Letzte, der mit Gina gesprochen, sie gesehen hatte. Ich klammerte mich damit an den einzigen Anhaltspunkt, den ich besaß. Dessen war ich mir bewusst. Doch wenn er ihren Aufenthaltsort kannte, warum hatte er keinen Kontakt zu ihr aufgenommen? Denn das hatte er nicht getan. Sein Smartphone war verwanzt und an seinem Wagen hatte ich einen Peilsender anbringen lassen. Daher war ich zu jedem Zeitpunkt im Bilde darüber, wo er sich aufhielt und mit wem er Kontakt hatte. Leider bisher nicht mit meiner Frau. Ich schluckte schwer.

„Meint ihr nicht, dass ich schon längst bei ihr wäre, wenn ich wüsste, wo sie ist?", knurrte der Indianer wie ein in die Ecke gedrängter Wolf. Ich hatte einen Teil des Gesprächs verpasst und sah, dass mehrere Familienmitglieder ihn grimmig betrachteten. Marco presste die Hand auf die Rückenlehne seines Stuhls und war kurz davor hochzuschießen. Mein Bruder spannte ebenfalls alle Muskeln an und sah aus, als ob er sich ausnahmsweise Michael mal vorknöpfen wollte.

„Was, wenn du das nur tust, um uns an der Nase herumzuführen?" Emiliano stand auf, die Kiefer fest aufeinandergepresst, die Fäuste geballt. Meine Mundwinkel zuckten nach oben. Endlich hatte ich Verbündete. Zuvor waren meine Befürchtungen nur belächelt worden. Doch jetzt, wo ihre eigenen Beziehungen auf dem Spiel standen, beurteilten sie die Lage so wie ich. Etwas entspannter lehnte ich mich zurück.

„Jungs, wenn Michael wüsste, wo Gina steckt, dann hätte er es schon längst gesagt", versuchte mein Vater alle Anwesenden zu besänftigen. Ich sackte auf dem Stuhl zusammen.

„Zum letzten Mal, ich habe Gina seit dem Abend in der Villa nicht mehr gesehen. Denkt ihr, ich vermisse sie nicht?" Seine Lippen zitterten beim Sprechen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Augenblicklich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Gleichzeitig wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir etwas übersahen und er mehr wusste.

„Michael, ziehe dich bitte für einige Tage zurück. Ich glaube etwas Abstand tut allen hier gut", meldete Marcos Vater Vicente sich zu Wort. Der Lakota nickte, schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und verließ uns.

„Er weiß zumindest etwas", knurrte Emiliano.

„Und gleichzeitig weiß er nichts", fügte mein Vater hinzu. Wir schauten ihn fragend an. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Was meinte er mit seiner Aussage?

„Er weiß, dass sie abgehauen ist. Hat ihr vermutlich noch dabei geholfen. Doch dafür zahlt er selbst einen hohen Preis", fügte er hinzu. „Die zwei haben sich vermutlich darauf geeinigt, dass selbst er ihren Aufenthaltsort nicht kennen darf. Wir können also nur abwarten und hoffen, dass Gina sich bei ihm meldet."

„Die genießt dafür viel zu sehr ihre Freiheit", bemerkte Mario kühl. „Etwas, das der Rest der Familie ihr nehmen wollte. Ich kann nachvollziehen, dass sie keinen Kontakt haben will."

Keine Sekunde später packte Marco ihn am Kragen, riss ihn vom Stuhl hoch und schüttelte ihn durch. „Bist du etwa derjenige, der weiß, wo sie steckt?"

„Nein, aber wenn ich euch so anschaue, bekomme ich zuweilen auch Lust, alles hinzuschmeißen. Das hier war mal eine Familie, in der jeder jedem vertraut hat und wo alle zusammengehalten haben. Wo ist dieses Vertrauen hin? Dieser Zusammenhalt? Es war ein verdammter Fehler, Gina von allem abziehen zu wollen. Und warum sollte sie abgezogen werden? Weil IHR ihr nicht genug vertraut habt. Weil IHR dachtet, dass sie es nicht auf die Reihe bekommen könnte, gleichzeitig Mutter und Anführerin zu sein." Mario löste Marcos Hände von seinem Kragen, den dieser bis jetzt fest umklammert hatte. „Falls ihr mich sucht, ich bin auf meinem Zimmer. Obwohl ich nicht wüsste, was wir noch zu besprechen hätten."

Nachdem er den Raum ebenfalls verlassen hatte, sahen wir einander hilflos an.

Zwei Stunden später saß ich auf meinem Zimmer und betrachtete den grünen Punkt auf dem Laptopbildschirm. Michael war zu Ginas Villa gefahren. Ich sehnte mich danach, mit ihm in aller Ruhe zu reden, doch mein Vater hatte es mir verboten. Nach den ganzen Hiobsbotschaften sollte jeder für sich nachdenken, wie wir alles wieder zum Guten wenden konnten. Ich wusste, wie wir es erreichen konnten oder besser gesagt, wer dazu in der Lage war.

Wir brauchten Gina dringend, sonst ging alles komplett den Bach runter.

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