Kapitel 39 ✔️
PoV Sergio Pensatori, Ginas Onkel
„Was ist eigentlich da draußen los?" Ich schaute von den Papieren vor mir auf und sah meinen Sottocapo, der mich aus meinen Überlegungen gerissen hatte, fragend an. Was sollte da schon großartig los sein? Unser Sicherheitsaufgebot war noch nie umfangreicher. Ich folgte seinem Blick aus dem Fenster. Vicente wies mit dem Kinn auf die absurde Szene, die sich uns bot. Bodyguards aller vier Familien liefen draußen wie die aufgescheuchten Hühner umher, kontrollierten die geparkten Fahrzeuge, kletterten in Bäume, schauten in jedes Gebüsch. Ich fasste mir an den Kopf und schüttelte ihn bedächtig. Eine böse Vorahnung kroch langsam hervor, nistete sich wie hartnäckiges Ungeziefer.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich davon ausgehen, dass deine Nichte sich davongemacht hat." Mein Consigliere runzelte die Stirn. Ich sah zu ihm und bemerkte seinen missbilligenden Blick. Lorenzo befürwortete nach wie vor, Gina einen Peilsender einzupflanzen. Er sorgte sich wegen ihrer Freiheitsliebe. Sie war zu wild für seinen jüngsten Sohn. Dass Luca für unser Geschäft nicht geschaffen war, hatte er, seitdem meine Nichte damals aus Philly verschwunden war, mehrfach bewiesen. Vor allem in der Zeit, als sie im Koma gelegen hatte, war er in die Depressivität abgerutscht. An sich verständliches Verhalten, doch für diesen Job war er nicht hart genug. Wir waren alle erleichtert darüber gewesen, als Emiliano mir schweren Herzens gebeichtet hatte, dass Luca die Kindererziehung übernehmen wollte. Dafür sollte Gina an seiner Stelle mehr in die Familiengeschäfte eingespannt werden. Eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung.
„Hast du mittlerweile darüber nachgedacht, was ich dir vor zwei Wochen vorgeschlagen habe?" Ich hatte diese Frage meines Sottocapos schon erwartet. Doch ich hatte nach wie vor keine Antwort darauf. Es gab keine optimale Lösung.
„Rein logisch wäre es wirklich besser, wenn Gina meine Nachfolge anträte. Sie ist kalkulierender, kampferprobter und gewissensloser als Emiliano," ich stockte kurz, „doch bin ich davon überzeugt, dass die Zeit noch nicht reif ist für ein weibliches Familienoberhaupt." Leider. So bedauernswert es auch war, unsere Feinde würden sie als leichtes Ziel ansehen. Frauen galten in der Welt der Mafia als wehrlos, als zu manipulierbar. Dabei waren es die Frauen, die uns Männer mit Leichtigkeit um den kleinen Finger wickelten, wenn sie uns aus ihren großen unschuldigen Augen anblickten. Selbst meine Nichte, bei der ich überzeugt war, dass sie selbständig auf sich aufpassen konnte, hatte mich schon mehrfach manipuliert. So hatte sie durchgesetzt, dass ich ihr Michael als festen Bodyguard zugeteilt hatte. Zugegeben, er hatte damals für meinen Bruder gearbeitet und nach dessen Tod bei mir angefangen. Abgesehen davon, war das Band zwischen ihm und meiner Nichte sehr ausgeprägt. Er würde sie mit seinem Leben schützen, wenn notwendig.
„Wir sollten mal nachschauen", meinte Lorenzo, der ununterbrochen auf seinem Platz hin und her rutschte, dabei immer wieder auf das Treiben vor dem Fenster starrte.
„Du gehst davon aus, dass Gina tatsächlich an der Unruhe Schuld hat, oder?" Die Idee gefiel mir keineswegs.
„Wäre die einfachste Erklärung." Mein Consigliere zuckte mit den Schultern. Wirkte leicht hilflos bei dieser Geste.
Bevor ich die Möglichkeit bekam, darauf etwas zu erwidern, flog die Tür zum Besprechungsraum mit einem lauten Knall gegen die Wand. Missbilligend hob ich die Augenbrauen und sah zu meinem Sohn, die wie vom Teufel verfolgt, hereinstürmte. Seine grünen Augen blickten mich flehend an. Mit einem Nicken gebot ich ihm zu sprechen.
„Gina und Michael sind weg", brachte er atemlos hervor, stütze sich verkrampft an einer Stuhllehne ab.
„Bist du dir da ganz sicher?", schaltete Lorenzo sich mit einem ungläubigen Unterton in der Stimme ein. Genau wie ich wusste er, dass auf Michael Verlass war. Sollte er meiner Nichte am Tag ihrer Eheschließung zur Flucht verholfen haben, war das mehr als untypisch für ihn.
„Sein Auto ist noch da, aber wir können weder ihn noch Gina finden. Weder im Haus noch draußen." Emilianos Stimme zitterte. Ich seufzte innerlich. Mein Sohn hatte noch viel zu lernen, um ein ausgezeichneter und unerschütterlicher Don zu werden.
„Dann waren die ganzen Sicherheitsvorkehrungen wohl doch nicht ausreichend." Vicente schüttelte enttäuscht seinen Kopf. Tagelang hatte er die junge Generation bei der Planung der Sicherheitsteams und des genauen Ablaufs von Wachablösungen unterstützt und nun das.
Ich stützte den Kopf auf meine Hände und überlegte. Hatten ernsthaft zwei Personen es geschafft, die Security Teams von vier Mafiafamilien zu überlisten? Davon musste ich mich selbst überzeugen. Mit einer Kopfbewegung wies ich die Anwesenden dazu auf, mir zur Eingangshalle zu folgen. Dort warteten bereits Marco, Matteo, Luca und Mario, zusammen mit den Dons aus Vegas, Chicago und San Francisco. Ratlosigkeit in allen Gesichtern.
„Ginas Smartphone liegt noch in ihrem Zimmer. Michael hat seins ausgeschaltet", informierte Marco uns. Seine Stimme bebte vor Zorn.
Dies war tatsächlich verdächtig. Ich knurrte leise. Die Überlegung, dass meine Nichte wieder einmal verschwunden war, behagte mir keineswegs. Ein kurzer Blick in die Runde bestätigte mir, dass alle diesen Gedanken hatten.
„Wurde wirklich alles gründlich abgesucht? Keller, Küche, Bibliothek?" Sie hielten sich garantiert noch auf dem Gelände auf. Andere Möglichkeiten ignorierte ich.
„Ja, auch den Fitnessraum und den Schießstand haben wir überprüft. Sie sind beide wie vom Erdboden verschluckt." Der Bräutigam war bleich, hielt sich nur mit Marios Hilfe auf den Beinen. Dieser Junge war wirklich viel zu weich für das Geschäft.
„Was ist denn das hier für eine Versammlung?" Unsere Köpfe drehten sich alle wie auf Kommando in die Richtung, aus der die Stimme kam. Michael spazierte seelenruhig mit seinem typischen stoischen Gesichtsausdruck die Treppe hinunter.
„Wo ist Gina?", fragte ich ihn beherrscht. Doch meine zusammengepressten Kiefer verrieten die Wut, die in mir brodelte, denn er sah mich prüfend an.
„Auf ihrem Zimmer. Wo sollte sie sonst sein?" Ich beobachtete ihn genauestens. Seine Körperhaltung war entspannt, seine Stimme fest. Er log nicht. Das tat er nie.
„Dort ist sie nicht. Wir haben sie schon überall gesucht", knurrte mein Sohn ihn ebenfalls an. Michael schüttelte nur seinen Kopf.
„Vor zwei Minuten war sie noch auf ihrem Zimmer. Wenn ihr mir nicht glaubt, geht doch nachsehen." Er verschränkte die Arme und sah uns herausfordernd an, weil wir es wagten, seine Worte in Zweifel zu ziehen.
Ich nickte ihm zu und lief die Treppe hinauf. Vor Ginas Zimmer stoppte ich kurz, sammelte meine Gedanken, dann klopfte ich energisch an.
„Wer stört?", kam es von der anderen Seite der Tür. Statt einer Antwort marschierte ich ins Zimmer und drehte mich direkt um. Meine Nichte war gerade dabei, sich für die Trauung umzuziehen.
„Selbst schuld, wenn du einfach so reinkommst", lachte sie nur. Stoff raschelte hinter mir. „Habe jetzt was an, kannst dich umdrehen, Zietto." Onkelchen. Ich zog eine Augenbraue hoch. Diese Mädchen war ein ausgesprochener Frechdachs. Una diavoletta. Ein Teufelchen. Ich wandte mich ihr zu und hörte, wie hinter mir die Tür geschlossen wurde. Michael trat zu uns.
„Wie du vermutet hattest, waren sie völlig planlos." Er grinste breit und ich unterdrückte den Impuls, ihn dafür zu ohrfeigen.
„Wundert mich nicht im Geringsten", antwortete sie ihm schulterzuckend. „Zietto, euer Sicherheitsplan in allen Ehren, aber der ist eindeutig lückenhaft."
„Wo habt Ihr beide gesteckt?", fragte ich resignierend. Es wunderte mich nicht einmal, dass Angelina eine Schwachstelle entdeckt hatte.
„Oben auf dem Dach. Dachboden ist weder abgeschlossen, noch wird er bewacht. Das Dachfenster lässt sich ohne Anstrengung öffnen. War mir gestern Abend schon aufgefallen. Es wäre ein Leichtes gewesen, mitten in der Nacht zu verschwinden. Schon allein, weil zu dem Zeitpunkt noch weniger Sicherheitspersonal vor Ort war als jetzt." Wieder zuckte sie mit den Schultern.
„Michael, reichst du mir bitte meine Stiefel?"
Ich betrachtete sie entspannt, während sie ihre Stiefel anzog. Vieles an ihr erinnerte mich an meinen Bruder. Ursprünglich hatte unser Papà ihn zum Familienoberhaupt ernennen wollen, doch Angelinas Vater hatte lachend abgelehnt. Er hatte Zwänge gehasst. Dafür hatte er gern im Hintergrund und in Alleingängen Sachen für die Familie geregelt. Daher war er mir eine große Hilfe gewesen und sein Verlust hatte mich sehr geschmerzt. Und nun bewies seine mittlerweile erwachsene Tochter, dass sie ihm in nichts nachstand. Er wäre sehr stolz auf sie. Verstohlen wischte ich mir eine Träne weg und räusperte mich.
„Wenn du damit deine Eignung als Familienoberhaupt beweisen wolltest, muss ich dich leider enttäuschen. Emiliano wird, wenn er verheiratet ist, die Geschäfte übernehmen."
Gina und Michael sahen einander vielsagend an, kommunizierten wie so oft mit ihren Blicken. Wie Bruder und Schwester agierten sie, wussten, was der jeweils andere dachte oder fühlte. Ihr Band war enger als das meiner eigenen Kinder.
„Dann sollte es dich freuen, dass ich für Zweiteres vorgesorgt habe. Wenn alles nach Plan läuft, muss er sich heute einfach verlieben." Meine Nichte grinste breit. „Was allerdings Ersteres anbelangt. Ich habe kein Interesse daran, deine Geschäfte zu übernehmen. Eher habe ich an etwas komplett anderes gedacht. Da wir jetzt so schön mit Lucchese, Genovese und Tempestuoso kooperieren, wäre der Aufbau einer familienübergreifenden Einsatztruppe die logische Konsequenz. Russen, Japaner, Chinesen, Amerikaner, die südamerikanischen Kartelle, alle wollen ein Stück vom Kuchen haben. Durch ein starkes Bündnis mit den anderen drei Familien erhöhen wir unsere Macht und können einander im Bündnisfall unterstützen."
Ich ließ ihre Worte einen Moment sacken. Beobachtete, wie Michael ihr einen Handspiegel und Make-up hinlegte. Danach suchte er in ihrer Tasche nach dem Haarschmuck. Diese Selbstverständlichkeit zwischen den beiden brachte mich zum Schmunzeln. Die Frauen waren hochkant rausgeflogen, weil sie Gina ihren eigenen Wünschen entsprechend herrichten wollten. Doch dieses Mädchen konnte man nicht ändern.
„Wer bekommt die Leitung über diese Einsatztruppe? Dir ist schon klar, dass kein Don sich dem anderen gerne fügt", warf ich ein. Davon abgesehen, hielt ich ihre Idee für praktikabel und notwendig.
„Daher werde ich die Leitung übernehmen. Michael wird als meine rechte Hand fungieren. Aber das sollten wir morgen besprechen, wenn die Hochzeit vorbei ist und alle wieder nüchtern sind." Sie hatte alles genauestens geplant. Wieso wunderte mich das nicht? Ich nickte nur und drehte mich zur Tür.
„Ich nehme mal an, Michael soll dich statt meiner zum Altar führen." Ohne die Antwort abzuwarten, verließ ich das Zimmer. Da hatte meine Nichte mir etwas zum Nachdenken verpasst. Aber es überraschte mich nicht. Eher beruhigte es mich, zu wissen, dass sie mir die Entscheidung für Emiliano als meinen Nachfolger nicht übelnahm. Ich lachte innerlich auf. Jetzt ließ ich mich schon davon beeinflussen, was eine Frau von meinem Handeln hielt. Schmunzelnd lief ich die Treppe hinunter, scheuchte die anderen in ihre Zimmer, damit sie sich fertigmachten.
Eine Stunde später trafen wir uns im Garten. Luca stand vorne am Altar und versuchte, seine Nervosität zu überspielen. Dann setzte die Musik ein und alle Köpfe drehten sich zur Braut. Gina trug ein knöchellanges schlichtes Brautkleid, das sich an ihren Körper anschmiegte. Der roséfarbene Brautgürtel lenkte die Blicke auf ihre schmale Taille. Das Kleid war ärmellos, hatte aber breite Träger. Als Michael sie an mir vorbeiführte, sah ich, dass Rücken und Schulterpartie frei waren. Ihre weißen Boots in Flechtoptik sorgten dafür, dass sie in dem Kleid nicht zu elfengleich aussah. Sie wirkte unschuldig, doch war sie mit allen Wassern gewaschen. Und das spiegelte sich auch in ihrer Kleiderwahl für heute wider. Kein Wunder, dass sie sich gegen den Einfluss der anderen Frauen gewehrt hatte. Deren Wahl hätte nicht mal ansatzweise zu ihr gepasst.
Ich betrachtete sie weiter. Ihre langen braunen Haare trug sie offen, an einer Seite gehalten von einer roséfarbenen Blumenspange. Mein Blick glitt zu Luca, der seine Braut verzückt anstrahlte. Dieser Junge. Man könnte annehmen, dass er ein ganz normaler Bräutigam war, nicht das Mitglied einer Mafiafamilie.
Einige Zeit später, die Trauung war ohne Zwischenfälle vonstattengegangen, beobachte ich statt dem Brautpaar meinen Sohn und seine Tischdame. Ihr engelsgleicher Anblick verzauberte jeden in ihrer Umgebung. Leuchtend blaue Augen, Korkenzieherlocken und ein strahlendes Lächeln brachten Emiliano dazu, alles um ihn herum zu vergessen. Irgendwo hatte ich das Mädchen, das etwa achtzehn Jahre alt sein musste, bereits zuvor gesehen. Des Moines. Natürlich! Das war Lucy, die Kleine, die von Gina gerettet und zum alten Phil in die Lehre geschickt worden war. Sie hatte dort seine GPS-Uhren weiterentwickelt. Ein gescheites junges Ding, das trotz ihrer abscheulichen Vergangenheit lebenslustig war und sich nicht unterkriegen ließ. Mental notierte ich mir schon eine weitere Eheschließung. Erst meine Tochter, die sich in letzter Zeit verdächtig still verhielt. Nun meine Nichte, die nie brav werden würde. Und als nächstes mein Sohn. Dann könnte ich endlich für einige Monate nach Sizilien fliegen. Der Gedanke gefiel mir. Für einen Moment schloss ich die Augen und stellte mir die sanfte Brise und die wärmende Sonne auf meiner Haut vor. Allein die Vorstellung ließ alle Sorgen hinwegschmelzen.
„Na Zietto, habe ich dir zu viel versprochen?" Gina hatte sich unbemerkt angeschlichen und betrachte lächelnd, was sich vor unseren Augen anbahnte. So friedlich und entspannt hatte ich meinen Sohn nie zuvor erlebt.
„Deswegen musste ich also die geänderte Tischordnung durchsetzen. Was macht eigentlich Massimo? Dem hattest du ja ebenfalls einen anderen Tischpartner zuweisen lassen." Ich wusste, das Lucchese schwul war. Wenn Gina ihm unbedingt jemanden zuteilen musste, dann hatte sie auch da etwas mit bezwecken wollen.
„Läuft glaube ich ganz gut bei ihm und John. Allerdings könnte der Fettarsch es mir übelnehmen, wenn er einen seiner Männer an Massimo verliert. Obwohl, dann hat er endlich Ruhe vor den Flirtversuchen." Sie grinste zufrieden.
„Diavoletta!" Die tiefe Stimme des älteren Genoveses erklang hinter mir.
„Was denn?", fragte meine Nichte betont unschuldig, klimperte mit ihren Wimpern. „Stört dich etwas, Sacco di Lardo?"
„Du magst zwar wie ein Engel aussehen, aber du bleibst ein Teufelchen", seufzte der Don aus San Francisco resignierend. Er war mit seiner Freundin, einer zurückhaltenden Blondine zur Feier gekommen. Diese unterhielt sich angeregt mit meiner Tochter. Er selbst schien entspannter zu sein als bei unseren Treffen zuvor.
Nun, das war der positive Einfluss der Frauen auf uns Männer. Ohne sie würden wir das Leben als Mafiosi nicht überstehen.
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