Kapitel 35 ✔️
Wie so oft in den vergangenen Wochen stand ich auf dem Black Elk Peak und genoss die Aussicht. Ich liebte die Granitklippen und die Kiefernwälder. Die Luft war so sauber hier oben. Hier fiel mir das Atmen leicht. Der Schrei eines Adlers erklang. Gebannt richtete ich meinen Blick zum blauen Himmel. Der majestätische Raubvogel kreiste über mir, als ob er eine Nachricht für mich hätte. Nur von wem? Kannte ich überhaupt einen Menschen oder war ich ganz allein?
Ich hatte schon lange niemanden mehr gesehen. Nur Stille und Einsamkeit umgaben mich. Zu Anfang hatte mein Körper geschmerzt, als ob ihn irgendwelche Verletzungen plagten, doch ich hatte keine an mir entdeckt. Nicht einmal Narben waren zurückgeblieben. Ich atmete tief durch, sog die frische Luft ein. Die Schmerzen waren schon lange vorbei, nur eine dumpfe Erinnerung in meinem Hinterkopf.
Wieder schrie der Adler über mir. Er forderte mich auf, ihm zuzuhören. Ich schloss die Augen, der Wind spielte mit meinen Haaren und die Sonnenstrahlen wärmten meine Haut.
Es war der Wind, der eine bekannte Stimme zu mir trug. Doch wer war es? Egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich erinnerte mich nicht. Blockierte ich die Erinnerungen mutwillig? Die Stimme wurde lauter, flehender, zerrte an mir wie ein aufbrausender Sturm, flachte dann zu einem leisen, fast flüsternden Windhauch ab.
„Wach bitte auf Ziča. Mein Leben ist so leer und bedeutungslos ohne dich."
Tief in meinem Gedächtnis rumorte es. Eine Erinnerung, die nach oben drang, gegen die klebrige Schwärze des Vergessens ankämpfte und von dieser Kraft immer wieder zurück gesaugt wurde.
„Kleine Schwester, wach auf. Ich habe doch deinen Eltern versprochen immer auf dich aufzupassen."
Langsam erschien ein Bild vor meinen Augen. Ein hochgewachsener Teenager mit langen schwarzen Haaren, einer bronzefarbenen Haut und unergründlich dunklen Augen. Er streckte seine Arme aus, griff nach mir, aber erreichte mich nicht. Im nächsten Augenblick stand er als erwachsener Mann vor mir, der mich flehend ansah. Die Erinnerung schmerzte, riss mir ein Loch in die Brust. Ich sehnte mich danach zu erfahren, wer er war, wieso er mich als seine Schwester bezeichnete. Ich bedeutete ihm so viel, aber kannte ihn nicht mehr.
„Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen Ziča."
Dann löste er sich wie eine Wolke an einem heißen Sommertag auf.
Maȟpíya Sápa.
Flüsterte mein Unterbewusstsein mir zu. War das sein Name? Wieder der Schrei eines Adlers. Ich suchte den Himmel nach ihm ab. Sah, wie er auf eine große schwarze Wolke zusteuerte, die mir ein Lächeln entlockte.
Maȟpíya Sápa. Black Cloud. Michael.
Ich rief nach ihm, hörte das Echo in den Black Hills widerhallen, doch er kehrte nicht zurück.
Eine andere Männerstimme drang an meine Ohren. In ihr lag so viel Trauer, dass ich die dazugehörige Person am liebsten umarmt hätte, um Trost zu spenden.
Sie erzählte mir davon, wie wir einander kennengelernt hatten. Je mehr dieser Unbekannte preisgab, desto gequälter klang er. Ich spürte die Liebe in seinen Worten.
„Gina, sie wollen gleich die Maschinen abstellen. Weil sie nicht mehr daran glauben, dass du jemals erwachst. Ich werde bis zu deinem letzten Moment bei dir bleiben, um dir dann in den Tod zu folgen. Ich liebe dich und will nicht ohne dich leben."
Die Worte verwirrten mich. Ich zog die Stirn kraus. Maschinen? Welche Maschinen? Hier auf dem Berg gab es keine Maschinen. Nur unberührte Natur, den Adler und mich. Und diese körperlose Stimme, die sagte, dass sie mich liebte. Mein Herz hüpfte vor Freude, doch in meinem Magen lag ein schwerer Stein, so groß wie ein Kompaktwagen.
„Wenn du schon nicht in diesem Leben meine Frau sein kannst, möchte ich wenigstens im Tod mit dir vereint sein. Werde meine Frau bis über den Tod hinaus."
Etwas schob sich auf den Ringfinger meiner linken Hand, doch als ich hinblickte, entdeckte ich nichts. Er war leer wie immer. Dann spürte ich einen leichten Druck an meiner Brust, als ob sich jemand dort anlehnte. Und weinte. Denn ich bemerkte, wie der Stoff langsam feucht wurde. Wieder sehnte ich mich danach, diese traurige Person zu trösten, aber ich sah noch immer nichts. Was war nur mit mir los?
„Öffne deine Augen", raunte der Adler mir zu.
Ich hörte seine Worte, doch ich verstand sie nicht. Meine Augen waren geöffnet. Stirnrunzelnd sah ich ins grüne Tal. Ohne Vorwarnung kam ein heftiger Wind auf. Riss mich zu einem dunklen Tunnel. Zerrte mich hindurch, egal wie sehr ich dagegen mich wehrte und versuchte, auf dem Berg zu bleiben. Mein ganzer Körper schmerzte, so heftig riss der Wind an mir. Abrupt ließ er los und ich schnappte nach Luft. Etwas behinderte meine Atmung. Es war nicht das Gewicht auf meiner Brust. Auch nicht das leichte Gewicht auf meinem Bauch. Nase und Hals schienen verstopft zu sein. Mein Puls beschleunigte seinen Takt. Was war nur mit mir los? Eben, auf dem Berg, war alles noch so friedlich. Ich kämpfte gegen die aufsteigende Panik an, die mich zu lähmen trachtete.
Quälend langsam öffnete ich die Augen. Das Erste, was ich sah, waren weiche braune Locken. Ich streckte den Arm schon aus, um sie zu berühren, doch dann fiel mir etwas anderes ein.
Ich liebe dich und will nicht ohne dich leben.
Moment, das war Luca hier bei mir. Ich schielte zum leichten Gewicht auf meinem Bauch. Dort lag eine Pistole, eine Beretta. Das mit dem Selbstmordversuch unterband ich mal lieber. Vorsichtig streckte ich die rechte Hand aus, die Finger umschlossen den Griff, nahmen die vertraute Form wahr. Mein Puls verlangsamte und ich genoss es, wieder eine Schusswaffe festzuhalten. Denn Waffen waren ein Teil von mir.
Ein piependes Geräusch ertönte, quälte mein Trommelfell bis kurz vorm Zerreißen, und ich hatte nicht übel Lust, den Apparat, der dafür verantwortlich war, einfach kaputt zu schießen. Das Piepsen hallte in meinem Schädel wider, verursachte einen stechenden Schmerz hinter meiner Stirn.
Lucas Kopf schoss ruckartig hoch. Er sah auf den Monitor, dann zu mir. Seine Augen weiteten sich, sein Mund blieb offenstehen.
„Du bist wach. Du bist endlich aufgewacht." Seine Stimme war erst nur ein Flüstern. Tränen strömten über sein Gesicht und ich streckte den Arm aus, um Luca zu berühren. Er griff meine Hand und führte sie zu seiner Wange. Ein schweres Gewicht fiel von meinen Schultern. Wir waren endlich wieder vereint. Wir sahen einander wortlos an, unsere Augen sprachen für uns. In dem Moment flog die Tür auf, zerstörte die Zweisamkeit, und eine kleine energische Rothaarige stürmte herein. Sie kam mir bekannt vor, doch ihr Name war mir entfallen.
„Mach mal Platz Luca. Ich muss mich jetzt um Gina kümmern."
Michael, Emiliano und ein paar andere Italiener kamen in den Raum gestürzt, doch die Frau schmiss rigoros alle raus. Auch Luca, zu meinem Bedauern. Kaum hatte ich ihn zurück, sollte ich mich wieder von ihm trennen.
„Ist ja nicht auszuhalten mit denen. Dabei brauchst du jetzt erst einmal viel Ruhe. Ich bin übrigens Jeanne", sagte sie lächelnd zu mir. Dann überprüfte sie meine Werte und erlöste mich endlich von allen Anschlüssen.
„Die brauchst du jetzt nicht mehr."
„Autsch." Keuchte ich heiser, als sie den Katheter zog. Der war ja noch schlimmer als der Beatmungsschlauch und die Sonde für die künstliche Ernährung. Wieso hatte ich die überhaupt alle benötigt? Wie viel Zeit war vergangen? Ich suchte in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten, fand zu meinem Bedauern keine.
„Dein Körper wird noch einige Zeit benötigen, sich vollständig zu regenerieren. Aber je eher du wieder in Bewegung kommst, desto besser." Ihr Blick fiel nun erst auf meine rechte Hand.
„Hast du Luca die Waffe geklaut? Kaum aus dem Koma raus, schon wieder eine Pistole in der Hand. Du bist mir ein Früchtchen." Sie schüttelte amüsiert den Kopf. „Wenn ich daran denke, wie du und Massimo mich hereingelegt haben." Sie lachte laut los. Natürlich! Jetzt wusste ich, wer sie war. Jeanne aus Massimos Club! Erwartete sie eine Entschuldigung von mir?
„War nicht meine Idee", flüsterte ich mehr, als das ich sprach.
„Ich weiß Süße. Er hat mir gestern, nachdem er angekommen war, alles erzählt. Immerhin hab ich dank ihm meinen Mann kennengelernt. Und da du wohl meinen Schwager heiraten wirst," sie strich kurz über meine linke Hand, an der ich stirnrunzelnd einen Verlobungsring entdeckte, „sind wir zwei eh so gut wie miteinander verwandt."
Tja, jetzt war ich verlobt. Ein Kichern stieg in meiner Brust auf, reizte meine strapazierte Kehle. Ich unterdrückte es, bevor es an die Oberfläche gelangte. Hatte der Mistkerl es doch schamlos ausgenutzt, dass ich nicht Nein sagen konnte. Das würde ich ihm noch heimzahlen.
„Welchem von den starken Herren darf ich gleich Bescheid geben, dass er dich mal ins Wohnzimmer trägt? Natürlich erst, wenn wir dich gewaschen und angezogen haben." Jeannes Blick wanderte zu dem Verlobungsring.
„Michael", krächzte ich mit Nachdruck.
„Nicht Luca?" Meine Schwägerin schien für einen Augenblick verwirrt. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie legte den Kopf schief.
„Nö." Das war meine erste Rache. Den Rest würde ich mir später überlegen. Ich grinste diabolisch und Jeanne zwinkerte mir vergnügt zu, schien zu verstehen, weshalb ich meinen Großen ihrem Schwager vorzog.
Sie half mir wie versprochen beim Waschen und Anziehen und rief dann Michael, der freudestrahlend ins Zimmer kam.
„Hey Großer", begrüßte ich ihn mit rauer Stimme.
„Hab' dich vermisst, meine Kleine." Sanft hob er mich hoch und trug mich ins Wohnzimmer. Mario prustete laut los, als er sah, wie ich mich eng an meinen geliebten Lakota kuschelte und gierig seinen vertrauten Geruch einsog.
„Na Luca, jetzt musst du sie wieder mit Michael teilen", kicherte er wie ein Besessener.
„Den schicke ich weit weg auf eine Mission", brummte Emiliano stattdessen. „Massimo, Lucius, Enrique, möchte einer von euch ihn mitnehmen?"
„Ich nehme ihn, aber nur wenn ich das Teufelchen ebenfalls mitnehmen darf." Ich linste zu Luca rüber, der wütend Lucius anstarrte. Der Don aus San Francisco zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern.
„Tja, wenn zwei sich streiten." Massimo nahm mich aus Michaels Armen und setzte sich mit mir hin. Auch an ihn kuschelte ich mich direkt an. Es war, als wenn mein Körper völlig ausgehungert war und nur menschliche Berührung ihn besänftigen konnte. Warum auch nicht? Massimos Schoß war überaus bequem. Ich versteckte mein Gesicht an seiner Halsbeuge.
„Hat sich unsere kleine Raubkatze etwa zum Schmusekätzchen gewandelt?", witzelte Mario. Ein lautes Knurren ließ ihn zusammenzucken. Mein Magen hatte zu lange auf italienisches Essen verzichten müssen.
„Ich gehe mal sicherheitshalber die Steakmesser verstecken." Marco sprang mit übertrieben panischem Blick auf und entfernte sich von uns.
„Ich bestelle dann mal Pizza", vernahm ich Marios Stimme.
„Wieso muss er die Steakmesser verstecken?" Der Spanier aus Vegas schaute fragend in die Runde. Ich zuckte mit den Schultern. Das Verhalten der Anderen war nun wirklich ein wenig übertrieben.
„Weil mein liebes Cousinchen die Neigung hat, Leute anzugreifen, wenn sie hungrig ist." Emiliano legte die Hände in den Nacken und sah mich herausfordernd grinsend an.
„Erstens, das war nur ein Mal. Zweitens, ich greife Leute auch an, wenn ich nicht hungrig bin", knurrte ich. Meine Stimme kam langsam wieder. Immerhin etwas. „Leiht mir mal jemand einen Wurfstern?"
„Nein", erklang es im Chor.
„Ein Messer?", versuchte ich es weiter.
„Nein." Die Männer verschränkten die Arme.
„Eine Pistole?", bettelte ich.
„Nein." Kopfschütteln, wohin ich sah.
„Darf ich wenigstens eine Panzerfaust haben?" Unschuldig lächelnd sah ich in die Runde.
„Giulia, haben wir noch Reste im Kühlschrank? Angelina macht mir gerade Angst." Hey, die Stimme kannte ich noch nicht. Ich drehte mich um und sah einen Italiener um die fünfzig. Die Ähnlichkeit mit Emiliano war eindeutig. Schwarze Haare, die giftgrünen Augen der Pensatori. Die gleichen markanten Gesichtszüge.
„Onkel Sergio?", fragte ich voller Neugier, um mich zu vergewissern, ob meine Vermutung stimmte.
„Ja Kleines, der bin ich. Übrigens, keine Alleingänge mehr für dich." Drohend wedelte er mir von der Nase mit dem erhobenen Zeigefinger herum. Ich seufzte theatralisch, womit ich allen Anwesenden ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
„Irgendeiner bereit, Wetten abzuschließen, wann sie mal wieder etwas anstellt?" Mein zukünftiger Schwiegervater gesellte sich zu uns. Er griff meinen linken Arm und band mir eine Armbanduhr um.
„Ich bin zwar eher dafür, dass wir dir einen GPS-Sender einpflanzen, und mein jüngster Sohn stimmt mir da sicher zu, aber fürs Erste belassen wir es bei einer GPS-Uhr. Vorausgesetzt, du stellst nichts mehr an." Auch er sah mich mahnend an. Was hatten die denn gegen meine Alleingänge? Abgesehen von der letzten Aktion, hatte ich verdammt effizient aufgeräumt. Ich suchte in den Gesichtern der anderen nach Unterstützung, doch alle schüttelten nur den Kopf.
Oh Mann, wenn man so eine Familie hatte, brauchte man keine Feinde mehr. Da war es im Koma eindeutig friedlicher.
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