Kapitel 29 ✔️
Ich wachte in einem weichen Bett mit dröhnenden Kopfschmerzen auf. Beim Versuch, mich auf die Seite zu drehen, bemerkte ich, dass ich mit einer Hand an das Kopfende gefesselt war. Massimo!
Mir war klar, dass er mich nur beschützen wollte, dennoch war ich sauer auf ihn. Er hatte gefälligst nicht über mein Leben zu bestimmen. Das hatte niemand außer mir selbst. Ich schnaubte empört.
Wie lange hatte ich noch, bis meine Familie auftauchte? Oder waren sie etwa schon da? Ich schaute auf meine Uhr. Ein paar Stunden war ich bewusstlos gewesen. Mit etwas Glück schaffte ich es, rechtzeitig zu entkommen, statt in Ketten nach Philadelphia verschleppt zu werden. Ich stand nicht so auf Fesselspiele.
Ich schmiss die Decke von meinem Körper und stellte erfreut fest, dass ich noch die Klamotten vom Vortag trug. Mit meiner freien Hand fischte ich in der Hosentasche nach dem winzigen Schlüssel, den ich aus Denver mitgenommen hatte. Mit den Fingerspitzen zog ich ihn raus und öffnete die Handschellen. Dann schlich ich zum Fenster. Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass ich mich im ersten Stock aufhielt. Mir gegenüber stand ein alter großer Baum, von dem ein starker Ast über die Mauer ragte. Sonderlich vorsichtig waren die hier aber nicht. Meine gute Laune kehrte schlagartig zurück. Wenn sich jetzt noch das Fenster öffnen ließ, war ich im Nullkommanichts hier raus.
Ich drehte den Griff und das Fenster schwang auf. Was für Trottel. Innerlich lachte ich, ermahnte mich aber sofort, nur nicht waghalsig zu werden. Eine Verletzung würde mir alles versauen. Elegant setzte ich mich aufs Fensterbrett, packte es fest mit den Händen und rutschte mit den Beinen nach unten. Dann sprang ich, überbrückte so den restlichen Abstand bis zum Boden. Leichtfüßig landete ich und flitzte gleich weiter zu dem Baum. Kurz verharrte ich dort, hielt mit laut klopfendem Herzen Ausschau, aber niemand hatte mich gesehen. Dilettanten. Schnell kletterte ich den Baumstamm hoch, dann robbte ich über den Ast und damit über die Mauer und sprang auf der anderen Seite runter. Freiheit!
Die Freiheit besteht in erster Linie nicht aus Privilegien, sondern aus Pflichten.
Wie wahr. Ich hatte noch etwas zu erledigen. Nur wohin, ohne erwischt zu werden? Ich setzte mich in südlicher Richtung in Bewegung, denn ich erwartete, dass meine Familie aus dem Norden anrückte. Die bequemen Schuhe, die ich trug, erwiesen sich nun von Vorteil. Mit ihnen würde ich im Notfall sogar einen Halbmarathon durchhalten.
Nach einigen Kilometern hielt ein Auto neben mir. Obwohl, das war kein normaler Wagen mehr, sondern ein Oldtimer. Ein Chevrolet Corvette C3 Coupé aus den Siebzigern des zwanzigsten Jahrhunderts. Am Steuer saß, wie passend, eine ältere Dame.
„Soll ich dich mitnehmen, Schätzchen?"
Ich schaute in ihr runzliges Gesicht. Sie war gefühlte achtzig. Von ihr ging für mich keine Gefahr aus. Ich nickte grinsend.
„Gerne, wohin geht denn die Fahrt?"
„Nach Vegas, Schätzchen."
„Oh Mann, ich mag Las Vegas."
Obendrein war es der letzte Punkt auf meiner imaginären To-do-Liste. Ich unterhielt mich noch kurz mit Meredith, so hieß die ältere Dame, dann grübelte ich wie so oft über die sechs unmöglichen Dinge in meinem Leben nach.
Die komplette Hermandad ausschalten, so dass sie aufhört zu existieren.
Das war nicht so unproblematisch, wie ich es mir erhofft hatte. Denn die Bruderschaft hatte überall ihre dreckigen Pfoten drin. Wenn man es genau betrachtete, waren sie mindestens so mörderisch wie die Mafia, wenn nicht sogar abscheulicher. Denn sie beriefen sich auf die Gesetze, um ihre Verbrechen zu begehen.
Meinen Platz bei den Pensatori einnehmen, ohne Hausarrest auf ewig zu bekommen.
Sowohl Emiliano als auch Luca würden mich vermutlich in der Villa einsperren. Allerdings würde Michael mir sicher raus helfen. Was mich zum nächsten Punkt brachte.
Lucas Frau werden und dabei die Freundschaft zu Michael aufrechtzuerhalten.
Das war möglich, aber ich war davon überzeugt, dass ihr Verhältnis zueinander meinetwegen im Moment angespannt war. Immerhin war Michael zumindest etwas von meinem Vorhaben im Bilde gewesen und hatte mich dennoch nicht aufgehalten. Das hatte dem besitzergreifenden Italiener wohl kaum gefallen, so wie ich ihn einschätzte. Wollte ich überhaupt Lucas Frau werden? Ich schloss kurz meine Augenlider und sah wieder seine sanften braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln vor mir. Der Kuss in der Küche, nur eine Stunde bevor auf ihn geschossen und ich entführt wurde, kam mir wieder in den Sinn. Hunderte Schmetterlinge flatterten sofort durch meinen Bauch, verursachten einen Wirbelsturm der Gefühle. Ja, ich liebte den Blödmann noch immer, stellte ich lächelnd fest.
Kinder bekommen und trotzdem Missionen für die Familie ausführen.
Ha, guter Witz. Sowie ich auch nur schwanger wäre, würde ich schon Hausarrest auf Lebenszeit erhalten. Und vermutlich eine elektronische Fußfessel, dazu fünf Bodyguards, drei Wachhunde und einen GPS-Chip im Nacken.
Eine zuverlässige Allianz mit weiteren italienischen Mafiafamilien bilden, die es locker mit den anderen Gruppen aufnimmt und im Bündnisfall für einander eintritt.
Das erledigte sich zu meiner Freude im Moment grad fast wie von selbst. Dadurch, dass meine Verwandten und Freunde mir ständig folgten, knüpften sie zwangsläufig engere Kontakte zu den anderen Familien. Mit dem knuffigen Lucchese waren sie eh schon befreundet gewesen. Jetzt lernten sie meinetwegen, oder wegen Massimos Verrat an mir, den Fettarsch Genovese und dessen Bruder kennen. In Las Vegas warteten die Tempestuoso auf mich. Gut, die wussten noch nichts von ihrem Glück. Meine Mundwinkel wanderten bei dem Gedanken daran, was ich in der Wüstenstadt alles anstellen konnte, weit nach oben.
Eine rein weibliche Einsatztruppe für besondere Anlässe, die sich aus den unterschiedlichen Familien zusammensetzte.
Tja, was sollte ich dazu sagen? Die italienischen Machos ließen uns Frauen so schon ungern aus dem Haus. Damit die einer reinen Frauentruppe gefährliche Einsätze erlaubten, musste ein Wunder geschehen.
Meredith riss mich aus meinen Gedanken, indem sie das Radio lauter stellte und lauthals mitsang:
„You look like an angel
Walk like an angel
Talk like an angel
But I got wise
You're the devil in disguise
Oh yes you are
The devil in disguise".
Oh ja, das dachte sich Luca von mir bestimmt auch, überlegte ich leise in mich hineinkichernd.
„You fooled me with your kisses
You cheated and you schemed
Heaven knows how you lied to me
You're not the way you seemed".
Ja, ich hatte ihn angelogen. Ich war nie so hilflos gewesen, wie er erwartet, sich aller Wahrscheinlichkeit nach erhofft hatte. Außer nach den Geschehnissen vom Aladin und dem Gespräch im Polizeipräsidium. Da hatte ich durchaus seine Nähe gebraucht, war ich hilflos und verletzt gewesen. Jede starke Frau brauchte halt mal eine starke Schulter zum Ausheulen und zwei starke Arme, die sie einfach nur festhielten. Meredith sang in der Zwischenzeit weiter.
„I thought that I was in heaven
But I was sure surprised
Heaven help me, I didn't see
The devil in your eyes"
Ich lachte in mich hinein. Gleichzeitig war mir schwer ums Herz. Hoffentlich konnte ich die Mission bald beenden und zur Familie zurückkehren. Zu Luca. Außerdem zu Michael. Was mein Großer jetzt wohl machte?
Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster, achtete kaum auf die vorbeiflitzende Landschaft. Meredith fuhr erstaunlich zügig für ihr hohes Alter. Nix von wegen langsames Dahintuckeln, schleichendes Hindernis zu spielen für andere Autofahrer. Sie hatte es wohl eilig, nach Vegas zu kommen. Ein letztes Mal ein Draufmachen vor dem Tod. Die alte Dame gefiel mir immer mehr. So stellte ich mir meinen Lebensabend vor, mir weiterhin meine Freiheiten zu nehmen und das Leben zu genießen. Scheiß auf Konventionen!
Am Abend erreichten wir Vegas. Ich ließ mich von ihr in einem Wohnviertel absetzen und wünschte ihr viel Spaß.
„Spaß ist mein zweiter Vorname, Schätzchen." Dann fuhr sie breit grinsend davon. Ich lief lächelnd zwei Straßen weiter zu einem Häuschen der Bruderschaft. Stille erwartete mich, als ich aufschloss und eintrat. Langsam glitt ich aufs Bett in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Irgendetwas müffelte hiergewaltig. Oh, das war ich.
Ich sprang auf und verschwand unter der Dusche. Eine halbe Stunde später kuschelte ich mich ins Bett. Essen brauchte ich nicht mehr, denn Meredith hatte kurz vor Vegas mit mir bei einem McDonalds angehalten und für jede von uns ein Happy Meal zu bestellen. Verrückte alte Lady.
Nachdenklich starrte ich an die Zimmerdecke über meinem Bett. Mir fiel ein, dass ich das Mob Museum seit Ewigkeiten nicht mehr besucht hatte. An der Destillery Tour durfte ich nach wie vor nicht teilnehmen, da ich noch keine einundzwanzig war. Mein neunzehnter Geburtstag fiel mir ein. Ganz allein irgendwo im nirgendwo. Niemand, der mir gratulierte, mich in den Arm nahm. Ohne Kuchen, ohne Freunde. Ich verspürte wenig Lust darauf, meinen nächsten Geburtstag ebenso zu verbringen.
Ich atmete tief durch. Sobald der ganze Mist vorbei war, hieß es eh ab nach Philadelphia. Müde schloss ich die Augen und zog mir die Decke bis über den Kopf.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus zum Museum. Wie bei den vorherigen Besuchen bewunderte ich erst das imposante Gebäude, das früher als Gerichtsgebäude diente.
Im Erdgeschoss las ich mir auf den Schautafeln durch, wie moderne Technologie zur Überführung der Mafiosi geführt hatte, zum Beispiel durch verwanzte Telefone. Doch auch die Mafia entwickelte ihre Methoden mit der Zeit. Heutzutage nutzten sie selbst die modernsten Technologien für ihre Verbrechen, wie zum Hacken wichtiger Politiker oder für Cyber Scams. Noch dazu waren die Verbrecherringe durch das Internet besser miteinander vernetzt. Früher hatte ich darüber geflucht, jetzt freute es mich, war ich doch Teil einer Mafiafamilie.
Das Crime Lab ließ ich schulterzuckend aus. Ich hatte in meiner Ausbildung genug über DNA-Proben, Fingerabdrücke und andere Methoden gelernt, mit denen man Verbrecher überführen konnte. Hudson hatte den Informationen als Polizist viel Bedeutung beigemessen. Tot war er trotzdem. Der Schusswaffen-Simulator war ebenfalls überflüssig.
In der nächsten Etage machte ich es mir für einige Zeit im historischen Gerichtssaal gemütlich. Hier hatte man die Prozesse gegen die Dons und ihre Schergen geführt. Aber was brachte einem der strenge Arm des Gesetzes, wenn er sich von der Mafia bestechen ließ? Und Mafiosi zu verpfeifen, war schon immer gefährlich gewesen. Grinsend holte ich mir Informationen über Morde mit einer spezifischen Nachricht. Ein toter Kanarienvogel im Mund als Zeichen dafür, dass jemand gesungen hatte, fand ich zwar amüsant, aber schade um den Vogel.
Eine weitere Museumsausstellung erinnerte mich an den Grund, warum ich in Vegas war. Viele Mafiafamilien hatten hier Casinos gegründet, weil die für alle Stadt offen war. Egal ob die Familie aus New York, Chicago oder sonst woher kam, hier hatten sie alle ihre legalen Casinos eröffnet, bei denen sie allerdings schon vor der Zählung Gewinne abschöpften. Und genau das tat hier auch ein schmieriger Typ für die Hermandad. Es hatte wohl kaum jemand vermutet, dass die Bruderschaft auf natürlichem Weg an die ganze Kohle gekommen war. Gut, einige alte Mitglieder hatten der Vereinigung ihre Reichtümer vererbt. Doch ein nicht unwesentlicher Teil stammte aus einem Casino, das der Bruderschaft gehörte.
Zum Schluss schaute ich mir noch die Ausstellung über die Geburtsstunde der Mafia in Amerika an und wie sie sich durch die Jahre entwickelt hatte, bevor ich in den Keller hinabstieg.
Dort berichteten die Schautafeln von der Prohibition und wie die Mafia diese umging. Ich setzte mich schließlich in die Flüsterkneipe und bestellte eine Pizza sowie einen alkoholfreien Cocktail. Zwar war ich kurz davor überlegt, mir eines von Capones Lieblingsgetränken, einen Southside, zu bestellen, doch ich konnte es nicht riskieren, mich zu besaufen. Abgesehen davon war ich Alkohol eh nicht gewöhnt und trotz der Stunden, die ich im Museum verbracht hatte, noch immer nicht alt genug.
„Du willst wirklich einen alkoholfreien Cocktail, Querida?" Der Latino, der hier als Barkeeper angestellt war, sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen zweifelnd an. Er schien mich älter einzuschätzen, als ich war.
„Piccolino, ich habe noch einen Mord auszuführen. Da kann ich es mir nicht erlauben, mich zu betrinken." Es amüsierte mich, wie sich seine Pupillen bei meinen Worten weiteten. Angst entdeckte ich in seinen Augen keine, eher das Aufblitzen von etwas anderem. Er beugte sich dichter zu mir.
„Hör mal zu Querida, das können auch einige Freunde von mir für dich erledigen. Wir wollen doch nicht, dass eine Schönheit wie du verletzt wirst", raunte er mir verschwörerisch ins Ohr.
„Mille grazie, aber ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen. Sag lieber deinem Boss, dass mir niemand von euch in die Quere kommen soll." Den letzten Teil des Satzes zischte ich wie eine giftige Schlange. Der Latino verschwand, dabei holte er sein Smartphone aus der Tasche und tippte wie wild darauf herum. Die Tempestuoso wurden informiert, dass jemand in ihrer Stadt unterwegs war. Gut, genau das hatte ich gewollt.
Ich warf meine braunen Haare elegant über die Schulter nach hinten. Nur gut, dass ich die dämliche Perücke los war. Es fühlte sich richtig an, wieder Ich zu sein.
Jetzt brauchte ich mir nur noch mit einem gefälschten Pass einen Mietwagen zu organisieren, um meinen vorläufig letzten Mord auszuführen.
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