Kapitel 26 ✔️


Ich wachte allein in einem fremden Bett auf, mal wieder. Massimos himmlischer maskuliner Geruch stieg mir in die Nase. Kurz kuschelte ich mich in die Decke, bis mir einfiel, dass ich besser verschwinden sollte. Geschwind schlüpfte ich in meine Kleidung, dann schlich ich aus dem Zimmer. In einiger Entfernung entdeckte ich Olaf, der auf dem Weg zu Massimo war. Ich entschied mich, zu ihnen zu gehen und nach Michael zu fragen, als ich ihr Gespräch aufschnappte.

„Dem Verletzten geht es gut. Er würde allerdings gern mit seinen Leuten telefonieren, aber sein Smartphone ist weg." Die Worte des Arztes pulverisierten den Stein in meinem Magen. Erleichtert atmete ich durch.

„Er soll sich etwas gedulden. Die sind eh gleich hier", erwiderte der Italiener entspannt und für meinen Geschmack etwas zu selbstgefällig.

Die sind eh gleich hier.

Hatte er nicht nur den Ort geändert, wie ich es ihm geraten hatte, sondern dazu noch die Uhrzeit? Hatte er herausgefunden, wer ich in Wirklichkeit war? Mein Puls schoss in die Höhe. Ich musste hier sofort weg! Wo Michaels Smartphone war, wusste ich. Das hatte ich ihm vorsichtshalber aus genau diesem Grund abgenommen, damit er mich nicht verpfiff. Verdammt, Massimo!
Ich flitzte zurück ins Zimmer, schrieb eine kurze Nachricht und legte sie auf das Kopfkissen. Nun musste ich aber wirklich los. Unauffällig lief ich durch die Halle zur Tür. Die beiden Gorillas, die dort standen, kannten mich von den nächtlichen Touren und ließen mich grinsend durch. Mein Herzschlag beruhigte sich zusehends. Doch noch war nicht aus der Gefahrenzone.

„Beehre uns bald wieder, Schönste", flötete einer. Der Andere hielt mir in einer galanten Verbeugung die Tür auf.
„Ich werde sehen, ob sich das einrichten lässt." Verschmitzt lächelte ich beide an. Etwas wehmütig war mir ums Herz, da ich es nicht ehrlich meinte. Die Bande würde mir fehlen. Sowie ich draußen war, scannte ich die Umgebung nach einem Versteck ab. In angemessener Entfernung standen zwei Fahrzeugen, zwischen die ich mich hockte.
Ich brauchte nicht lange zu warten, da näherte sich schon ein schwarzer Van mit einem Kennzeichen aus Pennsylvania und hielt vor der Halle. Für einen Moment bekam ich keine Luft, als ich sah, wer ausstieg. Emiliano, Lorenzo Calieri und Luca. Mein Herz verdoppelte seinen Takt und mein Magen krampfte sich zusammen. Lucas Haltung gefiel mir keineswegs. Die Lebenslust schien aus seinem Körper verschwunden zu sein. Am Liebsten wollte ich zu ihm rennen, ihm um den Hals fliegen, meine Lippen auf seine pressen und ihm ins Ohr flüstern, dass alles in Ordnung war.

Reiß dich zusammen Angelina. Es ist zu früh.

Meine innere Stimme hatte Recht. Es gab noch einiges für mich zu erledigen. Zum Beispiel in San Francisco, der nächsten Station. Mit brennenden Augen sah ich zu, wie die drei im Gebäude verschwanden, dann erhob ich mich und lief von der Halle weg. Ein Auto stoppte neben mir.
„Hey Engel, soll ich dich mitnehmen?"
Dankbar lächelte ich dem Typen zu. Es war einer von Massimos Leuten. Schnell stieg ich ein. Nicht, dass jemand von meiner Familie etwas im Wagen vergessen hatte und noch einmal nach draußen kam.
„Muss noch mein Auto von gestern abholen. Wäre super, wenn du mich zum Union Park in der Ogden Ave fahren könntest." Ich spielte mit einer Strähne meiner Haare und sah ihn fragend an.
„Für dich tue ich alles." Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Sonst bekomme ich eh Ärger mit dem Boss."
Automatisch schnellten meine Finger an die Kette, die ich von Massimo erhalten hatte. Ich hoffte inständig, dass Emiliano nicht zu sauer auf ihn sein würde. Es war nicht seine Schuld, dass ich es geschafft hatte, abzuhauen. Auch wenn ich es ihm tief in meinem Innern ein wenig übel nahm, dass er mich verpfiffen hatte.
Nicht viel später setzte der Gorilla mich am Union Park ab. Ich verabschiedete mich von ihm und stieg dann in meinen Wagen ein. Tief atmete ich durch. Die Reise würde mir keine Freude bereiten. Zweitausendeinhundert Meilen quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Von Illinois, über Ohio, durch Nebraska, Wyoming, Utah und Nevada nach Kalifornien. Oder ein Umweg über Süddakota. Immerhin war ich noch nicht am Little Big Horn gewesen.
Ich schüttelte vehement den Kopf. Letzteres ließ ich lieber aus. Vielleicht in ein paar Jahren zusammen mit Michael und seinem Kumpel Leroy.
Stirnrunzelnd schaute ich mir die Landkarte an. Eventuell ein längerer Zwischenstopp in Salt Lake City, Utah? Gab es dort jemanden von der Hermandad, den ich erledigen musste? Nö, der war beim Treffen in Cleveland draufgegangen. Na dann halt gleich nach San Francisco. Brigadegeneral Francis X. Hummel würde die Stadt von Alcatraz aus schon nicht mit VX-Gas angreifen, so lange ich mich dort aufhielt.
Mein Zeigefinger wanderte die Interstate Achtzig entlang, bis er plötzlich stoppte. Er tippte auf eine Stadt. Des Moines. Mein Unterbewusstsein bettelte mich an, dorthin zu fahren.
Des Moines. Des Moines. Des Moines.
Aber natürlich. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich mich daran erinnerte, wer in dieser Stadt lebte und wem ich lange keinen Besuch abgestattet hatte.Ich startete den Wagen und ab ging es Richtung Hauptstadt des US-Bundesstaats Iowa.
Fünf Stunden später kam ich in der Lieblingsstadt der Versicherungsgesellschaften an. Die Skyline von des Moines war vor allem bei Nacht mit ihren vielen Lichtern hübsch anzusehen, doch mich interessierte das achtzehnhundertneunzig gegründete Eisenbahnviertel Valley Junction weitaus mehr. Denn das beherbergte über einhundertfünfzig Fachgeschäfte, Kunstgalerien, Modeboutiquen, Restaurants und Antiquitätenläden. Und zu einem Geschäft der letzteren Sorte war ich unterwegs, um den guten alten Onkel Drosselmeyer zu besuchen.
Nein, er war kein Onkel von mir. Und nein, er hieß auch nicht Drosselmeyer. Ich kannte nur seinen Vornamen, Phil. Er war ein älterer Herr, der sich auf die Reparatur von alten Uhren und Spielzeug spezialisiert hatte. Daher auch sein Beiname. Allerdings hatte er noch einen anderen Spitznamen von mir verpasst bekommen, der verrückte Uhrmacher.
Ich parkte das Auto beim West Des Moines Community Centers und lief zu Chuck Celsis Tavern Restaurant. Hungrig studierte ich die Speisekarte. Bacon Cheese Burger vom Angus Rind mit Steak Fries, eine Calzone mit Hähnchenfleisch oder lieber einen Mahlzeitsalat? Ich entschloss mich nach einigen Abwägungen für den Orientale Chicken Salad. Nachdem ich davon fast die Hälfte verputzt hatte, öffnete sich die Tür. Ein mir wohlbekannter älterer, dunkelhäutiger Mann trat ein. Sein Blick fiel auf mich. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er bestellte ein Sandwich und setzte sich dann zu mir.
„Ich habe gehört, Clara hat den Mäusekönig und seine Armee bezwungen."
„Könnte man so sagen." Ich schmunzelte, konzentrierte mich dann wieder auf meinen Salat.

„Hat sie denn auch einen Nussknacker, unsere Clara?" Phil zwinkerte mir vergnügt zu.
„Den hat sie sehr wohl, doch musste sie ihn zurücklassen." Meine Gedanken schweiften wieder zu meiner Familie. Ob sie vorher schon gewusst hatten, dass ich nicht in der Lagerhalle in Baltimore umgekommen war? Oder hatten sie es erst in Chicago erfahren?

„Du bist so nachdenklich. So kenne ich dich gar nicht." Er stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und sah mich eindringlich an.
„Ich habe über Wörter nachgedacht, die mit einem M anfangen: Miststück, Meuterei, Mord, Missetat." Denn das passte zu meiner Situation. Ich, das Miststück, hatte Sam Hudson ermordet, was nicht nur einer Meuterei entsprach, sondern eine ausgesprochene Missetat war. Ich sah den alten Mann vor mir an.
„Glaubst du, ich habe den Verstand verloren?" Die Ereignisse des vergangenen Jahres forderten ihren Tribut. Zu oft hatte ich kaltblütig gemordet. Nicht nur in Baltimore, Cleveland und Chicago. Auch an den anderen Orten, die ich in der Zwischenzeit besucht hatte. Vor allem das ständige Alleinsein zerrte an meinen Nerven.
„Ich fürchte, ja. Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!" Phil schenkte mir ein warmes Lächeln. Doch der Knoten in meiner Brust blieb.
„Manchmal denke ich bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge." Ich schaute nachdenklich aus dem Fenster, blickte ins Leere, ohne etwas von dem geschäftigen Treiben zu registrieren. Menschen liefen umher, doch hätte mich jemand nach ihrem Aussehen gefragt, ich hätte nicht darauf antworten können.
„Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur, wenn man es für möglich befindet." Sanft legte er seine runzlige Hand auf meine. Schenkte mir Wärme und Zuversicht. Sein Blick fiel auf mein leeres Handgelenk. „Ich sehe, du benötigst eine neue Armbanduhr. Lass uns zu meinem Geschäft gehen." Wehmütig bemerkte ich, dass damit unser aus Zitaten bestehendes Gespräch beendet war. Phil war wie ich in den Klassikern der Literatur belesen und machte sich gern einen Spaß daraus, mein Wissen auf die Probe zu stellen.

Wir spazierten zusammen die paar hundert Meter zu seinem Laden, der vollgequetscht war mit Uhren und allerlei Spieluhren, dazu zum Teil mit antikem mechanischem Spielzeug. Lächelnd lief ich an den Regalen mit Spieluhren vorbei, strich mit den Fingerspitzen vorsichtig an ihnen entlang. Neben den obligatorischen Weihnachtsspieldosen und den Spieldosen mit Ballerinas, hatte Phil auch eine Spieldose in Form eines Konzertflügels, mehrere Vogelkäfige mit mechanischen Vögeln, die zwitscherten und einige selbstgebaute mit Cowboys und Indianern. In einer Ecke entdeckte ich eine weitere von Phil gebaute Spieluhr. Sie war hauptsächlich in Schwarz und Weiß gehalten und stellte eine Szene der zwanziger oder dreißiger Jahre dar; eine Gangsterbraut mit Pistole in der Hand und ein am Boden liegender Toter mit einem roten Fleck auf der Brust. Ich zog die Spieluhr auf und grinste, als die Melodie erklang. Die Titelmelodie vom Paten. Leise summte ich mit.

„Kannst du mir diese bitte einpacken und an eine Adresse in Philadelphia schicken? Muss jemandem obendrein noch sein Smartphone schicken, also können wir das gut kombinieren."
„Aber natürlich, meine Liebe. Hier, deine neue Uhr. Mit der aktuellsten GPS-Software. Einstellungen kannst du wie gewohnt vornehmen, nur hat diese noch das Extra, dass du den Alarm, der gesendet werden soll, bereits vorher einstellen kannst. Zum einprogrammierten Zeitpunkt erhält der Empfänger eine Nachricht."
„Danke, du bist ein Schatz." Ich fiel Phil lächelnd um den Hals, bevor ich mit leicht zitternden Fingern meine neue Armbanduhr umband. Wenn man nicht wusste, über welche Charakteristiken sie verfügte, sah sie einfach nur nach einer Fitnessuhr mit Pulsmessung aus. Doch ihre Funktionalität ging weit darüber hinaus. Zufrieden koppelte ich meine neue Uhr mit Michaels Smartphone. Dabei stellte ich fest, dass mehrere Personen versucht hatten, ihn zu erreichen. Und zwar, nachdem meine Familie in Chicago aufgetaucht war. Es somit bekannt war, dass er es nicht mehr in seinem Besitz hatte. Ich entschloss mich dazu, eine davon zurückzurufen.
„Hey Matteo. Können wir kurz reden, ohne dass die anderen es mitbekommen?" Nervös knabberte ich auf meiner Unterlippe.
„Un momento per favore." Ich hörte seine Schritte auf dem Fliesenboden der Villa hallen. „So, jetzt können wir reden. Wann kommst du endlich nach Hause?" Ich schluckte schwer und haderte mit der Antwort, obwohl ich mit dieser Frage gerechnet hatte.
„Irgendwann, wenn die ganze Sache vorbei ist. Aber höre mir nun zu. Ein alter Freund von mir wird euch ein Paket schicken. Er ist derjenige, von dem ich die Armbanduhr hatte, die ich Giulia in Baltimore gegeben habe. Wenn ihr wollt, lasst euch von ihm ebenfalls solche Uhren herstellen. Je nachdem, wie man sie einstellt, kann man entweder immer geortet werden oder ein Notsignal absenden, so wie ich es für Giulia gemacht habe. Meine neue Uhr ist wieder mit Michaels Smartphone gekoppelt. Ihr könnt mich nicht orten, aber wenn was ist, werde ich mich melden."
„Wo bist du gerade?" Ich lachte leise wegen der zu beiläufig klingenden Frage.
„Des Moines, aber in den paar Stunden, die ihr bis hierher benötigt, bin ich schon längst über alle Berge. Denkt nicht mal daran mir zu folgen. Phil wird von mir nicht erfahren, wohin ich unterwegs bin, also lasst den alten Mann bitte in Ruhe."
Frustriertes Schnaufen erklang durch das Telefon. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie er sich genervt durch die Haare fuhr, sie noch mehr verwuschelte.
„Mit wem redest du da?", ertönte Marcos Stimme im Hintergrund.
„Ist nicht so wichtig, mein werter Sotto." Dann verabschiedete Matteo sich von mir leise. „Pass gut auf dich auf Kleines. Wir vermissen dich alle. Vor allem mein Brüderchen." Wir legten zeitgleich auf. Jetzt musste ich aber dringend weiter, falls er mich doch an die Familie verpfiff. Zuzutrauen war es ihm.
„Phil, kannst du bitte das Smartphone mit einpacken?" Ich reichte es ihm und dazu die Adresse. „Kann sein, dass du demnächst Besuch bekommst von Leuten, die ebenfalls schicke Armbanduhren möchten."
Er nickte mir zu, dann widmete er sich dem Päckchen. Ich lief zu der großen Jahrmarktorgel, die eine Wand des Geschäfts bedeckte und strich gedankenverloren über die Figuren.
„Sag mal Phil, was passiert eigentlich mit deinem Laden, wenn du zu alt wirst? Solltest du dir nicht mal einen Lehrling suchen?" Ohne die Antwort abzuwarten, verließ ich das Geschäft und lief zu meinem Auto. Und schon ging es zurück auf die Interstate achtzig. Wie ich stundenlanges Autofahren hasste.

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