Kapitel 24 ✔️


Die Nacht im Club, der Kuss und das Kuscheln mit Massimo hatten mehr angerichtet, als nützlich für mich war. Nein, ich hatte mich nicht in ihn verliebt. Doch die Wärme und Geborgenheit, die er mir geschenkt hatte, erinnerten mich daran, was ich in den letzten Monaten schmerzlich vermisst hatte. Doch so mir Luca, Michael und der Rest meiner Familie fehlte, es war zu früh, um zu ihnen zurückzukehren.
Jetzt, wo ich dieses erbärmliche Schwein Timothy Broderick ans Messer geliefert und das Meeting zwischen Lucchese und Pensatori gesichert hatte, konzentrierte ich mich wieder auf den eigentlichen Grund, warum ich in Chicago war.
Der beste Fälscher der Bruderschaft hatte sich hierher zurückgezogen und ich wollte ihn ausschalten. Denn er war Hudson über Jahrzehnte treu ergeben.

Jesus Canales, ein Puerto-Ricaner, war schon in jungen Jahren ein künstlerisches Genie. Doch statt auf die Kunstschule zu gehen, dealte er mit Drogen, um seine alleinerziehende Mutter und seine vier Geschwister zu unterstützen. Durch Zufall fiel dem Boss der Gang auf, dass Canales für die Tätigkeit als Fälscher in Frage kam. Fortan wurde er gefördert, bis er Hudson in die Hände fiel. Jahrzehntelang in den Knast oder für die Bruderschaft arbeiten. Canales entschied sich für Letzteres. Konnte ich zwar nachvollziehen und ich hatte in der Vergangenheit mehr als einen seiner Pässe benutzt, aber er kannte mich zu meinem Bedauern zu genau. Das bedeutete für mich und meine Familie eine zu große Gefahr.

Canales war jetzt um die fünfundvierzig. Seine älteste Tochter hatte ihn gerade zum Großvater gemacht. Bei dem Gedanken, einen Familienmenschen abzuknallen, liefen mir kalte Schauer über den Rücken. Die Schweine in Cleveland hatten es verdient, aber Canales war nur aus Liebe zu seiner Familie auf die schiefe Bahn geraten und hatte nie jemanden verletzt. Klar, seine Tätigkeiten als Dealer hatten für genug Elend gesorgt, aber die hatte er nur kurz ausgeführt. Das allein war kein gültiger Grund, ihn zu töten.
Nachdenklich stand ich vor dem Reihenhaus, in dem drei, nein, nun vier Generationen Canales wohnten. Warum musste er auch daheim sein? Ach ja, weil Hudson von uns gegangen war und Jesus daher seine Ruhe hatte.

„Angela, Liebes, was tust du denn hier?" Ich drehte mich zu der gebrechlichen Stimme um. Canales' Mutter sah mich mit glänzenden Augen an. Es war wenigstens zwei Jahre her, dass ich sie das letzte Mal getroffen hatte. Früher hatte sie mir immer heimlich Süßigkeiten zugesteckt. Eine herzensgute alte Frau, deren Sohn ich töten wollte. Ich schluckte schwer.
„Komm doch bitte mit rein." Mit einem Stein im Magen, der auf die Größe eines Mühlsteins anwuchs, je näher ich der Haustür kam, folgte ich ihr nach drinnen.
„Angela, was kann ich für dich tun? Brauchst du neue Pässe? Hast du etwas von Hudson gehört?" Jesus nahm mich in den Arm und drückte mich herzlich an seine Brust. Mir fiel ein weißer Fleck auf seiner Schulter auf. Dann hörte ich sein Enkelkind in einem anderen Raum quaken.

„Komm, komm, ich muss dir meinen Enkelsohn vorstellen." Er zog mich hinter sich her ins Wohnzimmer, wo seine Tochter Carmen mit dem Baby im Arm auf dem Sofa saß. Sie strahlte mich ebenfalls an.
Scheiße, ich kann das nicht.

Canales' Ehefrau Maria stellte ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch.
„Nun erzähle schon, Liebes. Wie ist es dir ergangen?"
„Hudson hat einen Fehler begangen und wurde getötet. Ein Großteil der Hermandad ist ebenfalls tot", ratterte ich monoton runter.
„Du musst dich verstecken, Liebes. Damit sie dich nicht erwischen. Warte, ich habe noch einen Pass für dich." Jesus sprang auf und lief aus dem Zimmer. Kurze Zeit später kam er mit einem gefälschten Pass zurück und reichte ihn mir. Ich schlug ihn auf. Isabelle Camino, schwarze Haare und die für meine Familie typischen grünen Augen. Wenn man von Giulia mal absah.
„Danke Jesus, den kann ich gut gebrauchen. Was wirst du jetzt ohne die Bruderschaft machen?" Vielleicht gab er mir freiwillig einen Grund, ihn zu töten.
„Ach weißt du, ich arbeite seit einiger Zeit als Restaurator. Im Moment bessere ich in der Holy Name Cathedral den Schrein aus. Eine so viel schönere Tätigkeit als das Fälschen." Seine dunklen Augen glänzten vor Freude und auch vor Stolz. Er schien seine Bestimmung gefunden zu haben.
„Aber erzähl weiter, was wirst du nun ohne Hudson machen?"
Sollte ich es ihm erzählen oder nicht? Ich atmete tief durch. Warum eigentlich nicht?
„Hudson war gar nicht mein Onkel. Er hatte meine Familie auf dem Gewissen und wollte mich gegen sie einsetzen." Jesus nickte wissend. Moment, wieso nickte er? Ich schaute ihn fragend an.
„Liebes, es gehen Gerüchte um, dass die verschwundene Angelina Pensatori lebt. Ich habe nach wie vor meine Kontakte zur Unterwelt. Vergiss das nicht."
„Mir wäre es lieber, wenn du diese Kontakte abbrechen würdest", schnaubte seine Frau und presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass sie fast weiß wurden. Sie verabscheute Kriminelle zwar nicht unbedingt, aber eine gewisse Portion Angst vor ihnen hatte ihr Leben bisher begleitet.
„Du weißt, dass sie uns auch schützen. Vor allem, seit der Sohn von Lucchese übernommen hat, ist es hier in Chicago erträglicher. Aber wir sollten uns erfreulicheren Dingen widmen. Komm, iss mit uns. Maria hat Tapas gemacht."

Vier Stunden später verließ ich mit vollem Bauch und mit mir selbst im Reinen die Familie. Alle lebten noch und daran würde ich auch in Zukunft nichts ändern. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, Jesus zu töten. Er war genauso wie ich glücklich, dass Hudson weg war. Jetzt endlich durfte er sein eigenes Leben führen. Und wenn ich doch mal wieder einen Pass benötigte, brauchte ich mich nur bei ihm zu melden.
Ich hatte ihm Jasons Telefonnummer zugesteckt, als seine Frau in der Küche beschäftigt war. So konnte er ihn im Notfall kontaktieren. Zum Beispiel, wenn das Geld aus legaler Arbeit doch mal knapp wurde. Außerdem, ein herausragender Fälscher war für Massimo mit Sicherheit nützlich.
Nachdenklich fuhr ich mit dem Auto zu meiner Wohnung. Die Yamaha hatte ich bereits an meinen neuen Wohnort verschickt. Gleich nach dem Eintreffen meiner Familie würde ich Chicago verlassen.
Vorher wäre aber schlauer.
Klar, aber ich verzehrte mich danach, sie zumindest kurz zu sehen. Wenn auch nur aus einem Versteck heraus. Ich vermisste sie mit jeder Stunde, die verstrich, mehr. Kichernd klatschte ich mir gegen die Stirn. Zuweilen war ich echt eine Dramaqueen.
Zwei Tage vor dem Treffen schlenderte ich durch die Stadt. Kaufen wollte ich nichts, da es nur unnötiger Ballast auf meiner Weiterreise war. Dennoch lief ich an den Geschäften vorbei und bei einigen auch nach drinnen, um mir ein wenig die Zeit zu vertreiben. Seit einer Stunde fühlte ich mich beobachtet. Den Übeltäter hatte ich allerdings nicht ausmachen können. Ich vermutete, dass einer von Massimos Truppe mir in seinem Auftrag hinterherlief wie ein hungriger Straßenköter. Da war jemand aber sehr neugierig und zu meinem Leidwesen geübt im Verstecken spielen. Wer folgte mir?
Ich ließ den Blick über das Schaufenster eines Juweliers gleiten. Wer brauchte schon Schmuck? Er war teuer und erfüllte keinen sinnvollen Zweck, so wie zum Beispiel ein Wurfstern oder eine Pistole. Nein, Schmuckstücke waren nichts für mich. Ich wandte mich zum Gehen, als mir eine Edelstahlkette mit Anhänger ins Auge fiel. Sie war stabil und mir gefiel das Unendlichkeitssymbol, das an ihr hing. Es wäre ein ausgezeichnetes Erkennungssymbol für eine Mafiagruppierung. So als Tätowierung zwischen Ring- und Mittelfinger. Ich grinste bei dem Gedanken, der mir dann kam.
Lass uns eine eigene Mafiafamilie gründen, wenn der ganze Scheiß hier vorbei ist. Und wir nennen sie Ilimitada.

Kopfschüttelnd lief ich weiter. Ilimitada war spanisch für unbegrenzt. Hudson hatte mir einige Wörter beigebracht, auf seine spanische Herkunft gepocht, obwohl keiner seiner Vorfahren aus Spanien eingewandert war. Keine Ahnung, woher er dieses Hirngespinst hatte. Fragen konnte ich ihn ja nicht mehr. Ilimitada war gut, nur dazu benötigte ich noch einen Spruch. Ich tippte mir ans Kinn und starrte ins Leere.
We know no boundaries, only our respect.

Hörte sich irgendwie schon geil an. Jetzt brauchte ich aber erst eine heiße Schokolade. Vielleicht stieß dann auch mein Verfolger zu mir. Immerhin bohrten sich seine Augen lange genug in meinen Rücken.
Ich betrat das nächstbeste Café und setzte mich entgegen meiner üblichen Handlungsweise mit dem Rücken zur Tür. Die Kellnerinnen waren vollauf beschäftigt und ich hatte noch nicht bestellt, als mir jemand ohne Vorwarnung von hinten etwas um den Hals legte. Verdutzt schaute ich hoch und sah Massimo, der sich über mich beugte.
„Hallo mein Engel, so sieht man sich wieder." Seine warme tiefe Stimme war ein Traum. Er hatte mich somit zu meiner Überraschung persönlich verfolgt. Dafür, dass ich nicht sein Typ war, fast schon unheimlich. Doch ich freute mich nur über sein Auftauchen, denn von ihm hatte ich sicher nichts zu befürchten.
„Danke für das Geschenk." Es war die Kette, die ich beim Juwelier bewundert hatte. Sie schmiegte sich perfekt an meine Haut und ich lächelte zufrieden.
Massimo erwiderte nichts, gab mir nur einen Kuss auf die Stirn und setzte sich mir gegenüber. Sogleich tippelte eine Bedienung herbei, die eine Strähne ihrer blonden Haare um den Zeigefinger wickelte und meinen Begleiter anhimmelte. Ich legte meine Hand demonstrativ auf seine und lächelte die Kellnerin zuckersüß an.

„Für mich bitte eine heiße Schokolade und für meinen Freund einen schwarzen Kaffee." Sie schluckte, notierte die Bestellung und tippelte davon.

„Mit dir sollte ich öfter in ein Café oder Restaurant gehen", schmunzelte Massimo, den der misslungene Flirtversuch der Blondine königlich amüsierte.
Eine Stunde später verabschiedeten wir uns voneinander, wobei er mich noch einmal energisch an seine durchtrainierte Brust drückte. Er war wirklich viel zu nett für einen Mafiaboss, stellte ich lächelnd auf dem Weg nach Hause fest.
Die Stunden bis zum Treffen zwischen den Mafiafamilien vergingen unendlich träge. Am Freitagabend entschloss ich mich, mit dem Auto zum Union Park zu fahren und dort alles im Auge zu behalten. Es kam in Chicago häufig vor, dass eine Frau im Dunkeln in einer der Parkanlagen belästigt wurde. In letzter Zeit hatte ich meist in den schlimmeren Vierteln aufgeräumt, weshalb mehr von Massimos Leuten dort patrouillierten, um mich im Auge zu behalten. Daher zogen sich die Mistkerle, die Frauen belästigten, in andere Stadtteile zurück.

Gelangweilt schaute ich durch die Frontscheibe nach draußen, bis mir in einiger Entfernung vier eher mittelmäßig gebaute Figuren auffielen, die sich mit einem circa ein Meter neunzig großen breitschultrigen Mann stritten, dessen langen dunklen Haare geflochten waren. Er trug eine Lederjacke und kam mir vertraut vor, obwohl ich ihn nur von hinten sah. Vorsichtig stieg ich aus meinem Wagen aus und schlich näher.

„Ihr wollt euch doch gar nicht mit mir anlegen", hörte ich eine mir bekannte tiefe Stimme. Was machte der denn in Chicago? Bevor ich darüber nachdenken konnte, zog einer der Mistkerle eine Pistole und schoss. Mein Großer sackte mit einem Ächzen zu Boden und ich sah rot. Blitzschnell zog ich eine Knarre und knallte zwei der vier Arschlöcher ab, bevor sie überhaupt wussten, was Sache war. Die übriggebliebenen Idioten reagierten ebenfalls und zogen ihre Waffen. Ich ließ mich fallen, rollte mich geschmeidig wie eine Katze ab und schoss dabei. Als ich wieder aufstand, lagen alle am Boden. Ich lief zu ihnen und vergewisserte mich, dass sie wirklich tot waren. Dann eilte ich mit schweißnassen Händen zu Michael.

„Verdammt Michael, was machst du hier?"
Meine Stimme zitterte, als ich die Wundesah. Die Arschlöcher hatten ihn in den Bauch geschossen. Die Verletzung blutetestark, durchtränkte seine Kleidung, undmir wurde schnell klar, dass wir dringend Hilfe benötigten. Auch, um die Leichen verschwinden zu lassen.
„Bin nur einem Gerücht nachgegangen, dass eine kampferprobte junge Frau fürOrdnung in der Stadt sorgt. Ich hatte gehofft, dass du es bist." Seine Atmungklang angestrengt. Er versuchte, aufzustehen, doch ich drückte ihn wiederrunter.
„Lass das. Ich rufe Hilfe." Ich riss dasSmartphone aus der Jackentasche und rief Jasonan.
„Jason, ich brauche sofort eure Hilfe. Bin am Union Park, Ogden Ave, mit einemVerletzten und vier Leichen." Er erwiderte, dass er alles regeln würde, undlegte auf.
Ich zog meine Jacke und den Pullover aus,den ich fest um Michaels Bauch band, umdie Blutung zu stoppen. Dabei fiel ihm sein Smartphone aus der Tasche.Unauffällig steckte ich es ein. Dann zog ich mir meine Jacke wieder über.
Kurze Zeit später hielten zwei schwarzeVans neben uns. Jason und ein paar andereGorillas sprangen heraus. Zwei schnapptenMichael und halfen ihm vorsichtig in einen Van. Jasonhob mich hoch und setzte mich ebenfalls rein.
„Hey, ich kann selber laufen", motzte ichihn an, meine Stimme zitterte leicht.
„Da bin ich mir nicht so sicher. Du bist käseweiß." Dann setzte er sich hintersSteuer und fuhr mit uns zu einer von Massimos Lagerhallen. Zwischendurch boxteich Michael gegen die Schulter, wenn er einzuschlafen drohte. Besorgt schauteich auf den Pulli, der sich immer mehr mit Blut vollsog.
„Wage es ja nicht, mich im Stich zu lassen!", zischte ich meinen Großen an,wobei mir die erste Träne über die Wange rollte.

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