Kapitel 2 ✔️


Der Rest meines ersten Schultags verlief ereignislos. Ich ließ mehrmals den Streber heraushängen, wich Blickkontakten aus und selbst Aiden blieb mir fern, weil Giulia bei allen weiteren Kursen neben mir saß. Sie schien sich magisch von mir angezogen zu fühlen, wie die Motte vom Licht. Das machte mir meinen Job um einiges leichter. Ich grinste. Giulia Pensatori.

Das war knapp einhundert Jahren zuvor der Name einer jungen Italienerin, nachdem sie den Consigliere des damaligen Dons von Philadelphia geheiratet hatte. Da nach dem Tod des Mafiabosses keine Familienmitglieder mehr lebten, stieg der Berater zum neuen Don auf. Woher ich das alles wusste? Mein Onkel besaß ein handgeschriebenes Buch, das die Tochter besagter Giulia geschrieben hatte.

Ich beabsichtigte, diese Niederschrift ein weiteres Mal durchzulesen. Es war wie ein Roman verfasst. Da die Autorin das Berichtete nicht selbst erlebt hatte, hatte sie die Erlebnisse ihrer Mutter für spätere Generationen als eine Art Liebesroman mit etwas Action beschrieben. Es war als Hintergrundgeschichte für die Mission informativ und angenehm zu lesen. Aber erst bestellte ich eine Pizza zum Austausch von Informationen.

Eine halbe Stunde später brachte mir mein Lieblingsbote das Gewünschte, eine Thunfischpizza ohne Zwiebeln, dafür mit Ananas und einen Briefumschlag mit einer Nachricht von Onkel Sam. Die Pizza und der Brief hatten Zeit. Erst unterhielt ich mich mit Maxwell und himmelte ihn an. Kurze blonde Haare, hinreißende blaue Augen und süße Grübchen, wenn er lachte. Das genaue Gegenteil dieser herzlosen italienischen Machos, die Mafiosi spielten. Nie im Leben würde ich mich mit sowas abgeben. Vor allem wenn ich einen gutaussehenden Polizisten haben konnte. Mann, er durfte nicht erfahren, dass ich ihn in meinen Gedanken ständig als süß bezeichnete. Er würde mich aller Wahrscheinlichkeit nach auslachen.

Er war dreiundzwanzig und hatte keine Freundin. Onkel Sam hatte amüsiert gelacht, als ich die Infos aus ihm herauskitzelte, und mich kurz darauf ermahnt. So lange wie die Mission lief, durfte ich Maxwell nur anschmachten. Etwas anderes war verboten, um den Auftrag nicht zu gefährden. Aber egal, ich hatte mir fest vorgenommen, das später alles nachzuholen.

„Wie war der erste Schultag", fragte Maxwell mit einem leicht schräggehaltenen Kopf.

„Ganz gut. Die Zielperson mag mich und will mit mir befreundet sein. Ihr Wachhund hat sich bereits gegen einen Badboy für mich eingesetzt."

„Das hört sich vielversprechend an. Was sind deine weiteren Schritte?" Ich badete in seinem anerkennenden Blick.

„Naja, da sie mir Hilfe zugesichert haben, kann ich meine Rolle als schüchternes Mauerblümchen weiter ausbauen, um ihr Vertrauen zu bekommen."

„Tja, vor einem schüchternen Mauerblümchen hat keiner Angst." Er lachte leise. „Sonst noch Dinge, die ich deinem Onkel mitteilen soll?"

Da gab es so einiges, stellte ich mit einem Blick auf seine trainierten Arme fest, aber ich musste mich vorläufig ein wenig gedulden.

„Ja, bisher scheint dieser Mario Antonietti ihr einziger Schutz zu sein. Aber mein Instinkt sagt mir, dass da noch einer sein müsste." Ich hielt kurz inne und legte den Kopf schräg, was mir wieder ein Lächeln von meinem Gegenüber einbrachte. Mein Herz machte vor Begeisterung einen Sprung.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Bruder sie nur mit einem Bodyguard rauslässt", fügte ich voller Überzeugung hinzu.

„Wusste ich doch, dass du wie gemacht für den Job bist." Er sah mich liebevoll an. Wie gern würde ich ihn küssen. Sein Blick wanderte zu meinen Lippen. Dann riss er sich los.

„Man sieht sich. Muss ja noch Pizza austragen." Er blinzelte mir verschwörerisch zu, bevor er ohne ein weiteres Wort verschwand. Ich seufzte und lief mit dem Pizzakarton ins Wohnzimmer.

Zweifelnd schaute ich zwischen dem Essen und dem Brief hin und her. Ein lautes Knurren nahm mir jeden Zweifel. Hungrig riss ich den Karton auf. Die Nachricht meines Onkels hatte Zeit. Mit leerem Magen zerbrach ich mir ungern den Kopf.

Die Pizza schmeckte köstlich. Doch wehmütig schlich sich der Gedanke in mein Hirn, dass ich sie in nächster Zeit zu oft essen würde und sie damit nicht mehr besonders war. Ich beschloss, mir gesunde Sachen für die restlichen Mahlzeiten zu kochen, vorzubereiten oder was auch immer. Sonst ging ich bald auf wie ein Hefekloß. Schon allein, weil mein übliches Fitnesstraining wegfiel.

Eine halbe Stunde später war ich sowohl mit dem Essen als auch mit Lesen fertig. Neue Infos gab es nicht. Nur nochmals die Warnung, dass ich vorläufig die Finger von Maxwell zu lassen hatte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wo war nur der Boxsack, wenn ich ihn brauchte? Ach ja, weit weg in einem verdammten Lagerhaus. Schnaufend schlug ich gegen die Sofalehne.

Statt einer Runde Boxen stand somit Lesen an. Ich kniete mich an der Wand hin und holte das Buch unter einer Diele hervor. Keine Ahnung, wie viele lose Dielenbretter es in diesem Haus gab. Egal wie praktisch es zum Verstecken von Gegenständen war, es gab mir das Gefühl, dass diese verdammte Bruchbude eines Tages über meinem Kopf zusammenbrechen würde. Ich sah Tausende von Holzsplittern herabrieseln und spürte, wie sie sich in mein Fleisch bohrten. Oder es würde sich ein tiefes schwarzes Loch genau unter meinen Füßen auftun und mich verschlucken. Ich stellte mir bildlich vor, wie ich versuchte, mit halb zerfetzten Klamotten und blutigen Armen aus dem Krater zu krabbeln. Ich kicherte. Erst leise, dann immer lauter. Ja, langsam wurde ich wahnsinnig. Meine durchgeknallte Fantasie kam mit Sicherheit von den ganzen Storys, die ich las. Apropos lesen, war da nicht was?

Sanft strich ich über den Ledereinband des alten Buchs. Sowie ich es aufschlug, erinnerte ich mich an die Hausaufgaben, die auf Bearbeitung warteten. Eine Streberin, die ihre Schularbeiten vernachlässigte, das passte nicht zusammen. Einen leisen Fluch ausstoßend legte ich das Buch zur Seite. In Englisch hatten wir eine Gedichtinterpretation auf. Da die Geschichte der Pensatoris auf mich wartete, googelte ich nach Interpretationen im Internet, suchte eine heraus, der ich zustimmte und schrieb diese ein wenig um. Die Matheaufgaben löste ich selbst. Einige Zeit später lehnte ich mich entspannt zurück.

Giulia schlug ihre schlanken Arme um ihren zitternden Körper, in dieser schicksalhaften Nacht in Las Vegas. Sie lief davon, von der kleinen Wohnung, die sie sich mit ihrem Bruder teilte. Die ärmlich, aber liebevoll eingerichtet war. Zu mehr reichte das wenige Geld nicht. Tränen strömten über ihre Wangen, weil er ihr etwas gebeichtet hatte. Er, ihr geliebter Bruder, arbeitete für einen örtlichen Mafiaboss. Dabei war die Mafia der ausschlaggebende Grund, warum ihre Familie Sizilien verlassen hatte. Schutzgelderpressungen, Entführungen, Morde. Mit Mafiosi war nicht zu spaßen. Ausgerechnet ihr Bruder war einer von ihnen. Warum? Um ihr ein besseres Leben zu bieten. Damit sie nicht aus Not einen Mann heiraten musste, den sie nicht liebte.

Die Tränen verschleierten ihren Blick und sie stolperte mehr schlecht als recht vorwärts. Ihr Bauch traf auf ein hartes Hindernis.

„Hallo Täubchen. Wohin des Wegs?" Der Amerikaner, der sie festhielt, roch nach Alkohol. Im fahlen Licht erkannte sie seine blutunterlaufenen Augen. Sein Atem stank. Der Mann überragte sie um einen Kopf. Sein Körper war bullig. Instinktiv machte sie einen Schritt rückwärts, doch er hielt sie eisern fest.

„B-b-bitte lass-s-s-en sie m-mich gehen." Angst kroch an ihrem Rücken hinauf. Schweiß brach ihr aus, trotz der nächtlichen Kälte. Jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen gespannt.

„Aber nicht doch. Wir könnten zu mir gehen und ein wenig Spaß haben." Er verstärkte den Griff um die schmale Taille der zierlichen Italienerin. Sie schluchzte auf, als er sie mit sich zerrte.

„Sei doch still Täubchen." Weiter, immer weiter zog er sie, bis sie vor einem Haus standen. Umständlich kramte er in seiner Jacketttasche nach seinem Schlüssel. Sein Griff lockerte sich ein wenig.

Giulia nahm all ihren Mut zusammen und riss sich los. Sie lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Seine Schritte hallten dumpf auf dem Bürgersteig. Immer näher, lauter. Sie roch seinen ekelerregenden Atem. Sie lauschte angestrengt, stolperte dabei über einen unebenen Pflasterstein und fiel auf den harten, kalten Untergrund. Ihre Knie bluteten und ihre Hände, mit denen sie ihren Fall gebremst hatte, schmerzten. Sie hatte keine Kraft mehr und ließ sich auf den Boden sinken. Niemand würde ihr helfen. Es war hoffnungslos.

„Ach Täubchen, was machst du nur", keuchte der Mann hinter ihr. Dann beugte er sich zu ihr runter und riss sie an den Haaren etwas vom Erdboden hoch. Sie wimmerte leise. Ihre Kopfhaut brannte.

„Du gehörst jetzt mir, also stell dich nicht so an", knurrte er ihr ins Ohr.

Kurz schloss sie die Augen. Versuchte die Angst vor dem, was er ihr antun würde, abzuschütteln. Dann drehte sie sich noch immer auf dem Boden liegend um und trat dem Mann, der über ihr stand, in den Unterleib. Mühsam rappelte sie sich auf und versuchte, zu fliehen. Zu langsam. Der Widerling packte ihr Handgelenk und riss sie zurück.

„Lassen Sie mich bitte gehen", flehte sie schluchzend. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihre Wange. Das Klatschen seiner Hand auf ihrer Haut hallte durch die Nacht.

„Keiner wird dir helfen Täubchen. Nun zier dich nicht so." Er stand direkt vor ihr. Leckte über seine Lippen. Bedrohlich kam er noch näher.

Ein lauter Knall durchbrach die angespannte Stille und der Mann sackte zu Boden. Seine Hand rutschte von ihrem Handgelenk, doch Giulia verharrte regungslos. Ihr Atem stockte, ihr Puls raste. Sie starrte auf den Toten vor ihren Füßen, als jemand einen Arm um ihren Rücken schlang und sie einen anderen Arm in ihren Kniekehlen fühlte. Gleich darauf trug ein Mann sie von der Leiche weg. Wieder schluchzte sie auf.

„Ssh, ich werde dir nichts tun, Bella", raunte ihr eine tiefe, sonore Stimme ins Ohr. Sein italienischer Akzent erinnerte sie an Sizilien und obwohl sie den Mann nicht kannte, beruhigte sie sich ein wenig.

„Lasst die Leiche verschwinden. Dann können wir zurück nach Philly", wies er seine zwei Begleiter in einem kalten Ton an, der keine Widerrede duldete.

„Und was ist mit ihr?", fragte einer von ihnen.

Der Erste lachte leise. „Sie kommt mit uns."

Das war Zuviel. Ihr Herz pochte wie verrückt und ihr Atem stockte. Panisch schnappte sie nach Luft. Wild schlug sie um sich.

„So wird das nichts", sagte einer der Italiener.

Der Mann, der sie trug, hielt an und drückte Giulia an seine Brust, während einer der Begleiter ihr ein Tuch auf Mund und Nase presste. Der Geruch, den es verströmte, war beißend. Doch kurz darauf begrüßte völlige Dunkelheit sie.

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