Kapitel 19 ✔️

Luca hatte es irgendwie geschafft, mich zu beruhigen, und wir hatten noch einige Stunden geschlafen. Eng an ihn geschmiegt war ich aufgewacht.
Mittlerweile war es zwei Uhr nachmittags und ich saß wiederum eng an ihn gekuschelt auf dem Sofa. Die anderen Jungs und Giulia beobachteten uns besorgt, ließen mich aber weiter in Ruhe. Ihre unausgesprochene Frage lungerte herum wie ein Hund, der auf ein Leckerli wartete. Ich hatte durch meinen Traum alle aus dem Schlaf gerissen und sie brannten auf Antworten. Matteo hatte seinen Bruder, nachdem wir aufgestanden waren, am Kragen gepackt und vorwurfsvoll gefragt, was er mir angetan hätte. Ich war dazwischen gesprungen und hatte ihn wütend von Luca weggeschubst. Seitdem herrschte Ruhe.

„Cousinchen, du hast heute noch nichts gegessen."

„Hab' keinen Hunger", maulte ich Emiliano an, würdigte ihn keines Blickes.

„Mario, geh mal bitte die Steakmesser verstecken." Der Spott in seiner Stimme entlockte mir kaum eine Reaktion.

„Blödmann." Ich vergrub mein Gesicht in Lucas Halsbeuge. So sehr ich die Nähe genoss, ich brauchte in Wirklichkeit dringend Michael. Maȟpíya Sápa, auch bekannt als Black Cloud. Kein Wunder, dass ich mich bei ihm sofort wohlgefühlt hatte. Aber wie hatte mein Großer das damals überlebt? Das ergab alles gerade keinen Sinn.

Und wie zum Teufel sollte ich in Ruhe nachdenken, wenn mich ständig jemand besorgt anglotzte? Ich musste hier dringend weg.

„Luca, kannst du mich bitte nach Hause bringen?" Hoffnungsvoll richtete ich meinen Blick auf ihn.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Cousinchen?", vernahm ich erneut die nervtötende Stimme. Jetzt reichte es mir aber!

„Emiliano, halt dein Maul!", fuhr ich ihn aufbrausend an. Ich stand von Lucas Schoß auf und schnellte wütend auf meinen Cousin zu. Kurz bevor sich meine Hände um seine Gurgel schlossen, packten mich schon drei andere Italiener.

„Ich sag's ja, du bist gefährlich, wenn du nichts gegessen hast." Emiliano schüttelte missbilligend den Kopf, blieb aber ansonsten friedlich. Nicht so, wie in meinem Haus, als ich ihn geschlagen hatte.

„Jetzt isst du erst einmal was, dann reden wir weiter." Luca hob mich so hoch, dass ich meine Beine um ihn schlingen musste, als er mich in die Küche trug. Weg von den Nervensägen. Ich atmete erleichtert auf, als er mich auf dem Küchentresen absetzte.

„So, was möchtest du essen?"

„Spaghetti Aglio, Olio e Peperoncini", antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Luca schaute mich schelmisch an.

„Krieg ich wenigstens vorher einen Kuss?" Mein Herz hüpfte vor Aufregung. Sollte ich es wagen? Wie überspielte ich meine Unsicherheit?

„Wieso? Bist du ein Vampir, der Angst vor Knoblauch hat?", schaffte ich, mit einem schelmischen Grinsen zu erwidern.

„Ja, bin ich." Er setzte seinen Welpenblick auf und kam mir langsam näher. Die goldfarbenen Sprenkel in seinen braunen Augen funkelten vergnügt, bevor er die letzten Zentimeter überbrückte und seinen Mund sanft auf meinen drückte. Anfangs etwas zögerlich beantwortete ich den Kuss. Weich, samtig, gefühlvoll. Der Strudel aus Lust und Zärtlichkeit riss mich mit. Lucas Zunge glitt über meine Lippen und beharrte auf Einlass, den ich ihm grinsend gewährte. Fordernd erkundete er alles, neckte mich, forderte mich zu einem Zungenduell, das ich atemlos verlor. Mein Körper kribbelte von der Wärme, die wie Wellen durch ihn lief, erweckt von unserem Kuss, der mir die Sinne raubte und gleichzeitig so viel in mir auslöste. Schwer atmend lösten wir uns voneinander.

„Ich nehme an, Forensik und Kriminologie sind damit vom Tisch." Er warf mir seinen berüchtigten schelmischen Blick zu.

„Blödmann." Ich schlug ihn sanft gegen seine harte Brust und lächelte versonnen. „Wo bleibt eigentlich mein Essen?", fragte ich ihn gespielt streng.

„Sofort Signorina." Schnell suchte er alles zusammen und bereitete das Essen zu. Während die Spaghetti kochten, stellte er sich wieder zwischen meine Beine und zog mich an seine Brust. Ich fuhr mit den Händen durch seine weichen Locken. Er verteilte sanfte Küsse auf meinem Hals, knabberte mal hier mal dort und bescherte mir völlig neue Gefühle. Gierig erkundeten wir den Körper des jeweilig Anderen.

„Ihr habt euch also endlich vertragen", stellte Emiliano zufrieden grinsend fest. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wo kam der so geräuschlos her?

„Ich muss trotzdem nachher erst einmal nach Hause." Musste dringend verarbeiten, dass meine Erinnerungen zurück waren. War der Super-GAU ja doch eingetreten. Ich war verwandt mit ein paar Mafiosi. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Ich beschloss, die Information noch ein wenig länger für mich zu behalten und meine Familie im Dunkeln zu lassen. Was waren schon ein paar Tage im Vergleich zu dreizehn Jahren?

„Essen ist fertig." Luca riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm ihm den Teller ab und futterte schnell die Nudeln. Göttlich. Dieser Kerl kochte grandios. Dazu war er fürsorglich, sah heiß aus, prügelte sich für mich und konnte im Notfall einen Gegner abknallen. Obendrein war er ein Vertrauter meines Cousins. Was wollte ich mehr? Ach ja, nach Hause fürs Erste.

„Ich habe brav aufgegessen. Fährst du mich jetzt?" Ich riss die Augen weit für meinen berüchtigten Unschuldsblick auf, mit dem ich schon oft harte Kerle manipuliert hatte.

„Na meinetwegen", schmolz er sogleich dahin. Aber ich bekomme einen Haustürschlüssel."

„Klar kriegst du einen." Ich lachte. „Doch der böse Emiliano bekommt keinen." Ich streckte dem großen Italiener, der uns nachdenklich betrachtete, die Zunge raus.

„Was ist los Boss? Hast du deine Zunge verschluckt?" Luca streute noch etwas Salz in die Wunde.

„Passt du dich schon deiner vorlauten Freundin an? Wird ja immer besser hier." Emiliano verließ murrend die Küche. Wir grinsten einander nur an.

„Hopp, ich fahre dich jetzt besser. Bevor ich es mir noch anders überlege." Letzteres konnte er schön vergessen! Schnell flitzte ich in Lucas Zimmer, kramte meine Sachen zusammen und rannte wieder nach unten.

„Vielleicht bis morgen", rief ich den anderen im Wohnzimmer zu.

Dieses Mal herrschte eine angenehme Stille im Auto. Nicht so, wie bei der Fahrt nach Matteos Geburtstagsfeier. Da hatte ich meine Gefühle auf Grund der Mission noch verleugnet. Doch nach der Aktion meines Onkels konnte sich dieser den Auftrag sonst wohin stecken. Ich war raus aus der Nummer. Vielleicht würde ich es ihm noch verklickern, vielleicht auch nicht.
Was dachte ich da für einen Scheiß? Der Typ war nicht mein Onkel, sondern der Mörder meiner Eltern. Hoffentlich kam Michael bald von seinem Einsatz zurück. Ich brauchte meinen Großen.

Wir hielten schließlich vor meinem Haus. Luca stieg aus und öffnete mir galant die Tür. Grinsend hakte ich mich bei ihm unter, als ein lauter Knall die Stille zerriss. Entsetzt und starr vor Schreck schaute ich auf den Italiener neben mir, der zu Boden sackte.

Luca! Nein!

Im nächsten Moment drückte mir jemand ein stinkendes Tuch vor Nase und Mund. Ich kämpfte dagegen an, doch verlor den Kampf schnell und sackte weg in die Dunkelheit.

Bleierne Augenlider, steife Muskeln. Mit einem gewaltigen Kraftaufwand zwang ich meine Augen auf. Verschwommene Umrisse, die schnell klarer wurden. Ich saß in einer Lagerhalle festgebunden auf einem Stuhl. In der Ferne unterhielten sich zwei Typen in einer mir fremden Sprache. Russisch vielleicht? Was machte ich hier überhaupt und wie war ich hier gelandet? Angestrengt überlegte ich, obwohl mein Schädel eh schon brummte. Wieso tat der so weh und warum war ich so müde?

Langsam fielen die Puzzlestücke ineinander. Die Nacht zuvor, das Polizeirevier, die Villa, der Kuss...

Luca! Mein Brustkorb zog sich zusammen, drohte mein Herz zu zerquetschen. Ein bitterer Geschmack kroch meine Kehle hoch.
Die Schweine hatten ihn erschossen! Jetzt, wo ich mir meine Gefühle für ihn eingestanden hatte. Ich würde sie vernichten!
Aber wer waren sie und warum hatten sie mich entführt??
Warte mal, Russen.

Etwa die Typen von denen Aiden gesprochen hatte? Wie hieß die Gruppierung noch gleich?

Gradinaru Bratva.

Ja genau, die hatten meinen Liebsten auf dem Gewissen. Die waren sowas von tot!

Ich schaute mir die Halle gründlicher an. An einer Seite standen in regelmäßigen Abständen Metallpfeiler, auf denen in ungefähr zweieinhalb Metern Höhe Bretter für die Lagerung angebracht waren. Eichhörnchen müsste man jetzt sein.
Wütend zerrte ich an den Stricken. Spürte, wie sie mir ins Fleisch schnitten. Eine warme Flüssigkeit rann von meinen Handgelenken über meine Hände und tropfte schließlich auf den Boden. Aber die Fesseln lösten sich kein Stück. In mir brodelte es. Wenn ich hier rauskam und eine Waffe in die Finger bekam, konnten sich die Arschlöcher auf etwas gefasst machen. Niemand legte sich ungestraft mit meiner Familie an!

Die Stimmen aus der Ferne kamen langsam näher. Einer schien zu telefonieren, denn er sprach nun Englisch.

„Ja, wir haben die kleine Giulia. Ihren Freund mussten wir leider erschießen." Kurze Stille.

„Sie kommen sie also abholen? Gut. Wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt müssen Sie sich an ihren Teil halten."

Giulia. Die Schweine hatten es auf meine Cousine abgesehen. Beziehungsweise der Drahtzieher hinter ihnen. Aber die Typen hatten sich die falsche Pensatori geschnappt. Idioten. Obwohl, für meine Familie war es besser so.

Was würde mir blühen, wenn die Russen herausfanden, dass ich nicht Giulia war? Ich würde ihnen mit Sicherheit nicht auf die Nase binden, dass ich Angelina Pensatori war. Vielleicht schaffte ich es, sie mit meiner Nerd-Nummer hinters Licht zu führen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als abermalig in die Rolle der Angela Miller zu schlüpfen. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Stimmen hatten sich wieder entfernt. Erneut fummelte ich an den Fesseln herum, bis ich gegen meine Armbanduhr stieß.

Aber natürlich! Wieso war mir das nicht eher eingefallen? Ich klatschte mir in Gedanken an die Stirn. Warum war ich so dämlich? Die Uhr war etwas ganz Besonderes. Mit einer speziellen Einstellung konnte ich damit meine Position an ein gekoppeltes Smartphone durchgeben. Und bevor Michael nach Cleveland geflogen war, hatte ich die Uhr klammheimlich mit seinem Mobiltelefon verbunden.

Ich drückte so lange auf einem Knopf herum, bis ein Vibrieren mir verriet, dass ich es geschafft hatte, ein Signal abzusenden. Jetzt hieß es, abzuwarten und zu hoffen, dass meine Familie mich rechtzeitig fand. Und nach meiner Rettung würde ich jeden langsam zu Tode quälen, der für Lucas Tod verantwortlich war. Und gleich darauf war dieser Hurensohn Sam Hudson fällig! Es juckte mir in den Fingern, ihm die Kehle aufzuschlitzen und zuzuschauen, wie er allmählich verblutete.

Sam Hudson. Der Nachfahre von dem Bullen, der schon meiner Ahnin Probleme bereitet hatte.

„Giulia mein Schatz. Was ist passiert? Ich bin so schnell es ging hergeeilt." Vincente kam außer Atem bei seiner frisch angetrauten Ehefrau an. Diese zitterte wie Espenlaub.

„Eine kleine Ratte von Lucchese hat sie belästigt, als sie einkaufen ging", erklärte einer von Vincentes Gorillas.
„Wer war der Typ?" Der große Italiener knirschte mit den Zähnen. Bündnis mit Lucchese hin oder her, aber dieses Schwein würde dafür büßen.

„Es war Luigi Gambino." Ein kleiner Gauner, der sich lange Zeit mit Taschendiebstahl über Wasser gehalten hatte, bevor er der Mafia beigetreten war.

„Heute Abend muss ich eh bei einem Gespräch mit dem Don von Lucchese anwesend sein. Dann knöpfe ich mir die Ratte vor."

Vincente drehte sich zu seiner Frau und nahm sie liebevoll in den Arm. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dich immer beschützen. Das verspreche ich dir."
Zufrieden lächelnd spürte er ihre schlanken Arme, die sie um seinen Körper schlang. Er liebte diese Frau über alles. Niemals würde er es zulassen, dass jemand sie verletzte.

Am Abend fuhr er mit seinem Don zum Anwesen von Lucchese. Doch auch zwei andere Gestalten machten sich auf den Weg dorthin.
Luigi Gambino begehrte die hübsche Frau des Consigliere. Er wollte ihn aus dem Weg räumen, sie zur Witwe machen, um sie dann nach einer angemessenen Trauerphase zu seiner eigenen Ehefrau zu nehmen. Behäbig kletterte er in einen Baum, der vor der Mauer zu dem Anwesen seines Bosses stand. Ja, er hinterging seinen Don, aber diese Frau war es in seinen Augen wert. Ihre sanften Rundungen, ihr hübsches Gesicht. Luigi war so in seine Überlegungen vertieft, dass er nicht die kleine Gestalt wahrnahm, die ihn beobachtete. Sie zog eine Waffe aus ihrem Mantel hervor. Luigi war mittlerweile aus seinen Gedanken erwacht und sah, dass sein verhasster Widersacher auf der Terrasse stand und eine Zigarre mit Lucchese rauchte. Der Verräter zog seine Pistole und legte an.

Statt einem erklangen zwei Schüsse. Der Körper des Mafioso fiel aus dem Baum und die kleine Gestalt rannte unerkannt weg.

Spät in der Nacht kehrte Vincente zu seiner Frau heim. Die Kugel von Luigi hatte ihn nur an der Schulter gestreift. Doch irgendwer hatte die kleine Ratte für ihn abgeknallt.

Giulia saß in der Küche am Tisch. Vor ihr lag ein moderner Revolver der Marke Smith&Wesson. Gedankenverloren starrte sie auf die Waffe, ihre Hände zitterten. Tränen bahnten sich einen Weg über ihre Wangen, als sie den Kopf hob und ihren Mann ansah. Er verstand und zog seine Frau in seine starken Arme.

„Niemand wird es erfahren. Das verspreche ich dir."

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Einige Tage nach dem Zwischenfall bei Luccheses Anwesen tauchte Detective Sam Hudson bei Giulia Pensatori auf, um sie über ihren Mann auszufragen. Sie beteuerte, dass er nichts mit dem Mord an Luigi zu schaffen hatte. Hudson glaubte ihr kein Wort, strebte danach, den Consigliere loszuwerden, weil er selbst der zarten Italienerin verfallen war. Doch der Don von Lucchese ließ die angesetzte Gerichtsverhandlung platzen, indem er mit mehreren Familienmitgliedern auftauchte und Vincentes Alibi bestätigte. Danach verschwanden die Luccheses aus Philadelphia.
Zwei Jahre später, Giulia hatte Vincente bereits einen Sohn geboren, brach ein Krieg zwischen der ansässigen Familie und Neuankömmlingen, den spanischen Tempestuoso aus. Sie waren davor freundschaftlich miteinander umgegangen, bis die Stimmung aus einem unbekannten Grund kippte. Die Italiener wurden nacheinander dezimiert, bis sie Vincente Pensatori zum neuen Don ernannten, da der alte seinen Verletzungen erlag und keinen Nachfolger mehr hatte. Damit begann der Aufstieg der Familie Pensatori. Systematisch jagten sie die Tempestuoso aus der Stadt. Gleichzeitig verschwand Detective Sam Hudson.
Jetzt wo ich die Geschichten mit meinen eigenen Erinnerungen abglich, kam ich zu folgendem Schluss: Der erste Sam Hudson hatte auf Grund seiner Besessenheit, Giulia besitzen zu wollen, die Tempestuoso gegen die Italiener aufgehetzt. Als dies fehlschlug, verließ er wie die Spanier die Stadt und baute ein geheimes Netzwerk an Mafiajägern auf. Doch bis zum Mord an meinen Eltern hatten sie nie etwas gegen die Pensatori erreichen können. Meine Entführung sollte ihnen nach einhundert Jahren die schwachsinnige Rache wegen einer verschmähten Liebe ermöglichen.

Mein Blut kochte in meinen Adern. Ich war von völlig Wahnsinnigen entführt und erzogen worden. Das bedeutete, dass die Entführung durch die Russen aller Wahrscheinlichkeit nach damit zusammenhing. Denn die hielten mich für Giulia. Daher hatten sie mich auch nur gefesselt und nicht verletzt. Scheiße. Ich schlug mir wieder innerlich an die Stirn. Meine Cousine war das Ebenbild unserer Ahnin. Die gleichen braunen Haare, die gleichen braunen Augen. Ich dagegen hatte die grünen Augen von Vincente. Genauso wie mein Cousin.

Ich schluckte schwer. Mein angeblicher Onkel würde mit Sicherheit bald auftauchen und mich vermutlich töten, da ich das falsche Mädchen war.

Oh Michael, wo bist du? Erneut zerrte ich an den Fesseln. Wieder war es sinnlos. Vielleicht hatte ich auch Glück und ging Hudson davon aus, dass ich weiterhin auf seiner Seite stand. Doch ich weigerte mich, an dieser Hoffnung festzuhalten. Es war besser, wenn ich mich auf das Schlimmste vorbereitete.

Auf einmal erklangen wieder sich nähernde Stimmen. Dieses Mal war auch eine dabei, die ich erkannte. Es war die Stimme eines jungen Mannes, eines Mitschülers. Ich starrte vor mich auf den Boden, bis sie direkt vor mir verstummten. Jemand packte mich am Kinn und hob es hoch, sodass ich dem Störenfried ins Gesicht schaute.

„Das ist nicht Giulia Pensatori, die trägt keine Brille. Das hier ist Angela Miller." Aiden sah mich mitfühlend an, dann beugte er sich zu mir vor. „Ich bring dich hier lebend raus. Versprochen", flüsterte er mir ins Ohr.

Oh Aiden, du bist sowas von tot, wenn ich hier rauskomme.

Er scheuchte die Russen weg und zog sich einen Stuhl heran.

„Guck mich nicht so vorwurfsvoll an. Zum einen habe ich dich vor den Italienern gewarnt, zum zweiten habe ich nichts mit deiner Entführung zu tun. Mein großer Bruder hat Schulden bei den Russen. Ich bin nur hier, um Giulias Identität zu bestätigen, weil ich sie ja aus der Schule kenne." Seine Stimme klang aufrichtig, aber war er es auch?

„Scheiße, was mache ich jetzt nur." Nervös fuhr er sich durch seine blonden Haare. „Ich muss kurz weg, aber ich komme wieder." Er stand auf, beugte sich zu mir runter und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel. Dann war er weg.

Hoffentlich brauchte Hudson noch ein wenig. Es war mir egal, wer mich hier befreite. Hauptsache ich kam hier irgendwie raus. Wieder zerrte ich an den Fesseln und spürte, wie sie ein wenig nachgaben. Na endlich! Ich verdoppelte meine Anstrengungen, hatte ich jetzt ein Ziel vor Augen. Mit viel Mühe schaffte ich es schließlich, mich zu befreien. Nachdem ich gefühlt eine Stunde an dem Seil herumgefummelt hatte. Von meinen Entführern hatte sich keiner blicken lassen.
Ich stand schulterzuckend auf. Sollte mir recht sein. Am anderen Ende der Halle knallte es einige Male. Pistolenschüsse! Geschrei auf Russisch, das sich schnell näherte. Sie kamen hierher. Geschwind kletterte ich an einem Metallpfeiler nach oben und versteckte mich auf einer Plattform. Dann flog auch schon die Tür krachend gegen die Wand und drei Russen stürzten herein. Entsetzt sahen sie auf den leeren Stuhl. Tja, man sollte seine Gefangenen nicht zu lange allein lassen. Auch keine kleinen Mädchen, dachte ich mir grinsend.
Von oben hatte ich einen fantastischen Blick auf das Geschehen. Die Italiener, meine Italiener, näherten sich der Tür. Plötzlich erklang ein lauter Knall an der gegenüberliegenden Wand, in der nun ein riesiges Loch klaffte. Da hatte wohl jemand mit Sprengstoff gespielt. Auch von dort stürzten Italiener in den Raum und schossen auf die Russen. Gegen diese Übermacht hatten sie keine Chance und kurz darauf lagen alle drei tot am Boden.

„Ziča!" Eine vertraute Stimme drang an mein Ohr.

„Maȟpíya Sápa!" Er sollte ruhig wissen, dass ich mich wieder erinnerte.

Michael sah zu mir hoch. Seine angespannten Gesichtszüge glätteten sich augenblicklich. Ich schwang mich über den Rand der Plattform und ließ mich in seine Arme fallen.

„Jetzt bist du sicher, meine Kleine", flüsterte er mir rau ins Ohr, wobei er mich fest an seine Brust drückte. Ich vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. Nach dreizehn Jahren waren wir wieder vereint.

„Emiliano, Luca ist außer Lebensgefahr", schrie jemand außer Atem.

Ich riss den Kopf hoch und starrte Matteo, der die Nachricht überbracht hatte, mit aufgerissenen Augen an. Luca lebte! Mein Körper zitterte vor Erschöpfung. Heiße Tränen der Erleichterung rannen mir über die kalten Wangen. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den Mann, der für mich sein Leben opfern würde.
Michael trug mich sanft nach draußen, schien mich nie wieder loslassen zu wollen. Ein entsetzter Schrei hallte von den Wagen der Familie zu uns.

„Giulia ist weg!" Mario stand fassungslos vor zwei toten Bodyguards.

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