Kapitel 18 ✔️

Die Party war in vollem Gange und die Leute wurden zusehends betrunkener. Angewidert kämpfte ich mich durch die Menge. Giulia hatte ich vor wenigen Augenblicken in der VIP Ecke bei Marco zurückgelassen. Mario entdeckte ich auf der Tanzfläche, wo er sich an ein Mädel aus unserer Parallelklasse heran tanzte. Matteo beobachtete das Treiben von einer Bar aus und nickte mir kurz zu. Wo Luca und Emiliano sich herumtrieben, wusste ich nicht. War mir in diesem Moment auch egal. Mich zog es an die frische Luft, bevor ich von dem Gestank nach Alkohol selbst noch besoffen wurde. Draußen angekommen kämpfte ich mich ein Stück an den Rauchern vorbei, lief um eine Ecke und atmete dann tief ein. Die kühle Nachtluft füllte meine Lungen und das kratzige Gefühl im Hals verschwand. Endlich wieder Sauerstoff. Und diese Ruhe erst. Herrlich.

„Was macht denn eine Schönheit wie du so ganz alleine hier draußen?"

Ich zuckte kurz zusammen und drehte mich dann zum Störenfried um. Er war circa ein Meter fünfundachtzig groß, breite Schultern, hatte graue Augen und blonde, nach hinten gegelte Haare. Klamotten hauteng, aber bei ihm sah es nicht heiß, sondern irgendwie schmierig aus. Der Typ war mir nicht geheuer. Schon allein sein Blick, der über meinen Körper glitt, brachte mich zum Zittern. Als er sich dann zu allem Überfluss über die Lippen leckte, schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken auf Weltuntergangsniveau. Jede Faser meines Körpers bereitete sich zur Flucht vor.

Ich schoss links an ihm vorbei. Ein brennender Schmerz durchzuckte meine Schulter, als er mich grob am Arm packte und zurückriss. Ich knallte mit dem Rücken gegen eine Häuserwand und schnappte nach Luft. Der Typ näherte sich mir mit den schleichenden Bewegungen eines hungrigen Raubtieres, seinen gierigen Blick auf meinen Körper gerichtet.

„Lass mich gehen du Idiot", zischte ich ihn an.

„Aber Schönheit, ich will doch nur ein bisschen Spaß haben." Seine Hand glitt von meiner Hüfte zu meinem Hintern und zog mich an seinen Unterleib. Igitt, war das eklig. Ich unterdrückte mit Mühe ein Würgen.

Statt ihm einen rechten Haken zu verpassen, analysierte ich erst die Situation, wie ich es in der Ausbildung gelernt hatte. Besonnen zu reagieren war hilfreicher, als in blinde Panik zu verfallen. Drogen und Alkohol schloss ich als Ursache für sein Verhalten aus. Keine roten glasigen Augen, keine fette Alkoholfahne. Also einfach so ein Schwein. Somit sprach nichts gegen ein wenig Spaß.

„Na dann lass uns etwas Spaß haben." Ich lächelte ihn zuckersüß an.
Erstaunt ließ er ein wenig locker, so wie ich es mir erhofft hatte. Blitzschnell rammte ich ihm das Knie in den Unterleib und riss mich los. Doch weit kam ich nicht. Zwei andere Typen tauchten an der Ecke auf und ich rannte voll in sie rein.
„Na meine Hübsche," säuselte einer mir ins Ohr, „jetzt werden wir ein wenig Spaß mit dir haben." Das war heute definitiv nicht mein Glückstag.
Die Kerle, deren alkoholgeschwängerter Atem mir kurz die Luft raubte, zerrten mich zurück um die Ecke. Der dritte Typ richtete sich mühsam wieder auf.

„Fickt die Kleine ordentlich durch, dann weiß sie, wie sie sich zu benehmen hat", knurrte er, presste dabei seine Hand auf den Unterleib.

„Tut mir nichts", wimmerte ich in der Hoffnung, dass wenigstens einer seinen Griff etwas lockern würde. Ein Gegner war keine Herausforderung. Drei dagegen waren ein völlig anderer Sachverhalt.

Einer der neuen Kerle packte mich hart am Kinn. Seine Lippen kamen meinen gefährlich nahe. Ich ließ kurz allen Widerstand fahren, um ihn zu verwirren, dann rammte ich ihm meinen Kopf gegen Nasen- und Augenpartie.

„Verdammte Schlampe." Er taumelte rückwärts und sein Kumpan ließ mich vor Schreck ebenfalls los. Das nutzte ich aus und trat ihm mit Wucht in den Magen. Eine Mülltonne umarmend ging er mit lautem Gepolter zu Boden und blieb dort jammernd liegen. Müll zu Müll dachte ich grimmig, bevor sich der allererste Typ wieder auf mich stürzte. Im letzten Moment wich ich aus, wodurch er mit seiner Faust die Wand hinter mir traf. Ich glaubte, etwas knacken zu hören, und das war mit Sicherheit nicht die Mauer.

„War das schon alles?", verspottete ich die Männer. Dabei hoffte ich, dass ihre Wut sie zu irgendwelchen dummen Aktionen verleitete.
Der zweite und der dritte Typ packten mich gleichzeitig an den Armen. Mist, das lief nicht wie geplant. Brutal wurde ich gegen die Wand gepresst, mein Rücken ächzte von der überfallartigen Belastung. Der Blonde trat grinsend vor mich, seine Hände schossen hoch an meinem Hals und drückten mir die Kehle zu. Ich versuchte, mich aus dem Griff herauszuwinden, doch ich verlor langsam die Besinnung. Geräusche drangen nur noch wie durch Watte zu mir. Vor meinen Augen tanzten Sterne.

Abrupt bekam ich wieder Luft, nach der ich gierig schnappte. Die Umgebung nahm ich nur verschwommen wahr. Die Arschlöcher wurden von irgendwelchen in schwarz gekleideten Typen von mir weggerissen. Die Men in Black prügelten gnadenlos auf die Mistkerle ein, während ich langsam an der Wand nach unten rutschte. Jegliche mir verbliebene Energie sickerte aus meinen Körper in den kalten harten Boden. Vage nahm ich das Geräusch stetig lauter heulender Sirenen wahr. Ich schloss kurz die Augen. Dann verstummte das Geheul und rot-blaues Licht flackerte vor meinen geschlossenen Augenlidern.

„Hey Kleine, alles gut. Wir haben die Bösewichte." Die Stimme kannte ich doch! Müde öffnete ich die Augen und schaute in ein mir bekanntes, rundliches älteres Gesicht. Was suchte der denn als Streifenpolizist hier?

„Die Sanitäter sind gleich da. Als erstes, wie ist dein Name? Kannst du ein paar Angaben zum Tathergang machen?"

Ich nickte vorsichtig. Das Spiel musste ich vorläufig mitspielen, so lächerlich es auch war.

„Mein Name ist Angela Miller und ich wurde von drei Typen überfallen. Sie wollten mich vergewaltigen", keuchte ich mit schmerzender Kehle. Gekonnt liefen mir die Tränen aus einem Auge, überzogen meine Wange mit salzigen Spuren. Erschreckend, dass es nicht mal echte Tränen waren. Aber in der Ausbildung hatte ich einige üble Aktionen über mich ergehen lassen müssen. Onkel Sam hatte dafür gesorgt, dass ich abgehärtet war. Meist praktisch, doch in diesem Moment durfte ich auf keinen Fall auf Außenstehende kaltschnäuzig und gelassen rüberkommen.

„Waren es diese drei Typen?" Der Streifenpolizist zeigte auf drei mir bekannte Italiener. Hatte der eine Vollmeise? Sie für Mafiaangelegenheiten zu verhaften, kein Problem. Aber die Jungs hatten mir gerade verdammt noch mal das Leben gerettet! Das Blut kochte in meinen Adern. Wollte der einen Tritt in die Eier? Stattdessen schüttelte ich müde den Kopf. Dann zeigte ich auf die drei Arschlöcher, die bewusstlos am Boden lagen.

„Danke, das reicht fürs erste."

Ein Sanitäter kam zu uns, um mich zu untersuchen. Ich ließ ihn meinen Hals kontrollieren und die Schürfwunden an den Armen säubern. Aber als er anbot, mich ins Krankenhaus mitzunehmen, winkte ich mit einem Seitenblick auf die Streifenpolizisten ab.

„Nein, ich werde gleich bei der Polizei meine Aussage machen."

Der Sanitäter nickte mitfühlend und verschwand. Zusammen mit dem Polizisten lief ich zu einem der Streifenwagen. Stumm setzte ich mich auf die Rückbank. Dann fuhren wir los.

„Tut mir leid, dass es eben so unpersönlich war. Anweisung vom Chef."

„Schon okay, Melvin. Bring mich einfach zu meinem Onkel."

„Die Schlägerei hat uns gerade das perfekte Alibi für eine Durchsuchung des Clubs geliefert."

Schön für euch. Ich lehnte meinen schmerzenden Kopf an die kühle Scheibe und starrte raus, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Meine Gedanken flogen zu Luca, Mario und Matteo. Was, wenn sie nicht rechtzeitig aufgetaucht wären? Ich mochte gar nicht weiter darüber nachdenken. Mühsam schluckte ich den Kloß runter, der sich in meinem Hals bildete. Mann, tat mir die Kehle weh. Auf die Hämatome war ich jetzt schon gespannt.

Kurze Zeit später fand ich mich mit Melvin und Jack in einem Verhörraum wieder. Sie hatten mir netterweise Tee mit Honig organisiert, von dem ich regelmäßig einen Schluck nahm, während ich ihnen von der Beinahe-Vergewaltigung erzählte. Beide Kriminalbeamte kannte ich seit Jahren. Sie waren enge Mitarbeiter meines Onkels und gehörten eigentlich zu der Truppe, die Drogenkriminalität bekämpfte. Aber sie hatten die jungen Polizisten, die mir fremd waren und die mich ausfragen sollten, nur angeknurrt und verscheucht. Wie zwei Wölfe, die auf einen verletzten Welpen aufpassten.

„Die Italiener kamen also angerannt, um dir zu helfen", stellte Jack wiederholt fest. Ich bejahte es zum gefühlten fünften Mal. Wie oft wollte er es noch hören?
„Wie lange muss ich noch hier bleiben?" Ich war müde und sehnte mich nach einem Bett.

„Bis dein Onkel mit den Pensatori fertig ist." Melvin gähnte herzhaft. „Ich werde zu alt für diesen Scheiß."

„Hat die Razzia etwas ergeben?" Da sie von meinem Auftrag, die Pensatori auszuspionieren, wussten, war die Frage berechtigt.

„Leider nichts. Die Typen sind zu gerissen." Jack stützte den Kopf auf seinen gefalteten Händen ab. Es wirkte fast so, als ob er für einen Grund betete, die gesamte Gruppe zu verhaften.

Nur gut, dass sie nicht so kriminell sind, wie ihr hofft.

Das hatte ich jetzt nicht ernsthaft gedacht, oder? Resignierend ließ ich den Kopf auf meine kalten Arme sinken. Das Kleid war eine dämliche Idee gewesen. Zu allem Überfluss knurrte mein Magen. Na toll. Mir war kalt, ich war hungrig und wollte ins Bett. Wehe, mich nervte gleich noch jemand.

„Ich hol dir mal lieber ein Sandwich." Melvin kannte meine miese Laune, wenn ich Hunger hatte, und verschwand erstaunlich schnell für sein Alter. Kurz darauf kehrte er mit einem Käse-Schinken-Sandwich und einem weiteren Tee zurück. Er und Jack waren fürsorglicher als mein verdammter Onkel, der sich an diesem Abend noch nicht einmal hatte blicken lassen, schoss es mir durch den Kopf. Schweigend saßen wir da, während ich mein Sandwich aß und den Tee trank.

„Herren, ich müsste mal aufs Klo." Ich schwankte ein wenig nach dem Aufstehen, hielt mich krampfhaft an der Stuhllehne fest. Verflixte Müdigkeit.

„Tue dir keinen Zwang an, du kennst den Weg." Jack nickte mir zu.

Schnell flitzte ich auf die Toilette, dann lief ich zurück zum Verhörraum. Jemand stellte sich mir in den Weg. Ich sah auf und erkannte das blonde Arschloch vom Club. Nun allerdings in einer Polizeiuniform und mit verbundener Hand. Das war ein schlechter Scherz, oder?

„Hallo Schönheit. Bekomme ich jetzt einen Kuss? Weil ich doch auch auf der guten Seite stehe", säuselte er schamlos vor sich hin. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Bloß weg hier, bevor ich meine gute Kinderstube vergaß.

„Verpiss dich, du Schwein!" Ich drängte mich an ihm vorbei, doch er packte grob meinen Arm und zog mich zurück.

„Aber dein Onkel hat mir einen Kuss versprochen", schmollte er mit vorgeschobener Unterlippe. Wie ein kleiner Junge, der nicht das begehrte Spielzeug bekam. Überhaupt, was hatte Onkel Sam mit der Sache zu tun? Ich sah rot.

„Dann solltest du meinen Onkel küssen. Von mir bekommst du keinen." Wütend rammte ich dem Blonden zum zweiten Mal in dieser Nacht das Knie in den Unterleib. Als er langsam zum Boden sackte, packte ich ihn am Schopf und stieß seinen Kopf dreimal gegen die Wand. Verdammt fühlte sich das herrlich an. Jetzt hatte ich die Oberhand.

„Was ist denn hier los?" Der tiefe Bass meines Onkels holte mich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Betroffen schaute ich auf den am Boden liegenden, vor Schmerzen stöhnenden Typen und auf den roten Fleck an der Wand. Reue empfand ich keine, doch hatte ich vorsätzlich einen Polizisten verletzt. Das bedeutete Ärger. Onkel Sam zog mich in den Verhörraum.

„Ich kann mir vorstellen, dass du etwas ungehalten bist, aber dafür musst du meine Männer nicht gleich zusammenschlagen. Immerhin hatte er den Auftrag von mir."

„Er sollte mich in deinem Auftrag vergewaltigen? Herzlichen Dank aber auch", schrie ich ihn wütend an. Meine geschundene Kehle schmerzte direkt wieder. Die Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen. Drohend stapfte ich auf ihn zu. Melvin und Jack sprangen auf, ihre Stühle knallten auf den Boden. Sie packten beide jeweils einen Arm von mir und zogen mich von meinem Onkel weg.

„Gut, er hat ein wenig übertrieben. Und die anderen beiden Halunken waren nicht geplant. Aber du hast dich doch prima gewehrt." Mein Onkel hatte die Ruhe weg. Wie konnte er nur? Bedeutete ich ihm so wenig?

„Wie bitte? Wenn die Pensatori nicht gewesen wären, würde ich jetzt bei eurem Gerichtsmediziner auf dem Tisch liegen." Wütend riss ich mich los und stapfte aus dem Raum. In der Eingangshalle angekommen, atmete ich mehrmals tief durch, entspannte meine Gesichtszüge. Nervös sah ich mich um. Die Jungs warteten dort bereits. Ich vermutete, dass sie ebenfalls gerade aus dem Verhör rausgelassen worden waren.

„Da bist du ja!" Luca zog er mich an seine Brust und ich schlang die Arme um ihn. Meine Tränen tropften auf sein Sakko.

„Bring mich bitte in die Villa", brachte ich heiser schluchzend hervor. Er küsste meine Stirn, hob mich hoch und verließ das Polizeigebäude mit mir in seinen Armen. Direkt vor dem Gebäude wartete ein schwarzes Auto der Familie. Sanft setzte Luca mich auf die Rückbank in die Mitte, dann nahm er neben mir Platz. An meine andere Seite rutschte Mario. Matteo glitt auf den Beifahrersitz. Unser Fahrer, einer der Gorillas der Familie, fuhr uns im halsbrecherischen Tempo zum Anwesen. Die ganze Fahrt über hielt Luca mich fest, flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr.
Bei der Villa angekommen, stieg ich zitternd aus dem Wagen aus, meine Beine versagten. Abermals hob er meinen müden Körper hoch, aus dem die restliche Energie zusehends herausströmte und brachte mich ins Gebäude. Ich war schwach, doch er war für mich stark. Ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit breitete sich in meiner Brust aus. Im Wohnzimmer legte er mich auf eines der Sofas. Seine besorgten Augen, in denen das goldene Funkeln erloschen war, scannten jeden Millimeter meines Körpers.

„Ich hol dir ein Wasser." Er stand auf, doch ich ergriff sein Handgelenk und zog ihn zu mir.

„Bitte verlass mich nicht." Ich brauchte seine Nähe, seinen betörenden Geruch in diesem Moment wie die Luft zum Atmen. Erleichtert atmete ich durch, als er verstehend nickte. Er blieb vor dem Sofa hocken und streichelte mir über die Haare. Mario brachte mir ein Glas Wasser und ich richtete mich vorsichtig auf. Langsam trank ich das kühle Nass, das meinen schmerzenden Hals erfrischte. Meine Augen fielen mir vor Müdigkeit immer wieder zu.

„Ich bringe dich jetzt ins Bett." Luca hob mich hoch und lief mit mir zur Treppe, um mich in Giulias Zimmer zu bringen.

„Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?" Hoffnungsvoll sah ich ihn an. Seine Gesichtszüge wurden weich, seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

„Natürlich darfst du das, mein Schatz." Sanft legte er mich auf sein Bett. Dann holte er ein Shirt aus dem Schrank und warf es mir zu.

„Oder möchtest du lieber nackt bei mir schlafen?" Schelmisch schaute er mich an, die goldenen Punkte tanzten in seinen Augen.

„Idiot", krächzte ich kopfschüttelnd. Ich bemerkte, wie sich auch auf meine Lippen ein kleines Lächeln schlich.

„Aber dein Idiot", fügte er grinsend hinzu. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Ich zog das Kleid und den BH vor den Augen des völlig überrumpelten Italieners aus und schlüpfte in sein Shirt, das mir zwei Nummern zu groß war, dafür aber herrlich nach ihm roch. Dann drehte ich mich zur Wand und kuschelte mich unter seine Decke. Etwas raschelte hinter mir. Kleidung, die zu Boden fiel. Kurz darauf legte er sich zu mir und zog mich an seine harte warme Brust. Meine angespannten Muskeln beruhigten sich genauso wie mein Herzschlag. Lucas Nähe entspannte mich mehr, als ich je erwartet hatte. Das Letzte, was ich mitbekam, war ein sanfter Kuss auf meinen Hals. Dann verschwand ich ins Land der Träume.

„Maȟpíya Sápa. Maȟpíya Sápa. Maȟpíya Sápa."

Der große Indianerjunge lachte.
„Was ist denn los Ziča?" Er hob mich mit Leichtigkeit hoch. Das Kleid, das ich trug, raschelte, als er mich an seine Brust drückte.

„Ich freue mich, dass du wieder da bist." Ich versteckte das Gesicht in seinen langen schwarzen Haaren, sog seinen vertrauten Geruch ein.

„Hat meine Kleine mich so vermisst?"

Ich nickte wild. Ich hatte meinen Großen vermisst und war glücklich, dass er diesen Abend bei mir bleiben würde, obwohl meine Eltern nicht weggingen.

„Angelina, jetzt lass doch mal Michael los. Du musst ins Bett." Meine Mutter lächelte mich leicht tadelnd an. Der Teenager setzte mich ab und ich umklammerte sein Bein.

„Darf Michael bei mir schlafen?" Ich schaute beide abwechselnd bittend an.

„Aber natürlich. Dann kann ich dich noch besser beschützen."

„Michael, sie muss lernen allein zu schlafen. Außerdem wollen wir dir keine Umstände machen."

„Das macht mir doch keine Umstände", wehrte er ab. „Komm Ziča, wir machen dich jetzt bettfertig." Er hob mich abermals hoch und lief mit mir ins Badezimmer.

Voller Stolz zeigte ich ihm dort, wie gut ich mir mit der neuen pinkfarbenen Kinderzahnbürste die Zähne putzen konnte. Ich hatte sie tags zuvor bekommen und sie passte in meinen Augen perfekt zu dem weißen Kleid, das ich trug.

„Klasse machst du das." Er lächelte mich mit seinen strahlendweißen Zähnen liebevoll an. „Jetzt ab ins Bett mit dir."

„Schläfst du wirklich bei mir?" Ich ergriff seine große Hand aus Angst, dass er es sich anders überlegt hatte.

„Natürlich mache ich das. Ich hab es dir doch versprochen."

Wenig später lag ich im Bett, eng an meinen besten Freund gekuschelt. Die Vorhänge ließen wir wie immer offen. Es gefiel mir, wenn der Mond ins Zimmer schien, es in ein silbernes Licht tauchte.

Mitten in der Nacht wachte ich allein auf. Michael war verschwunden und aus dem Erdgeschoss drangen Schreie zu mir. Meine Mama bettelte um ihr Leben. Eine mir unbekannte Männerstimme schrie sie an. Dann hörte ich einen Schuss und ihre Stimme verstummte. Weinend versteckte ich mich unter der Decke. Wo war nur Michael? Ich zitterte vor Angst. Warum war er nicht da, um mich zu trösten? Ich brauchte ihn doch!

Leise knarrend öffnete sich die Zimmertür und ich lugte unter der Decke hervor. Im fahlen Mondlicht sah ich den Fremden, eine Waffe in seiner Hand.

„Da bist du ja. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben. Ich nehme dich mit. Bei mir bekommst du ein schönes Leben", säuselte er mit einer Stimme, die viele Männer bei kleinen Kindern einsetzten, um sie zu beruhigen. Mir verpasste sie dagegen eine Gänsehaut.

„Nicht, wenn ich es verhindern kann." Michael trat aus der Dunkelheit hervor und stürzte sich auf den Mann. Beide kamen bei dem Gerangel zu Fall, doch der Fremde war eher auf den Beinen und schoss auf meinen großen Freund. Michael blieb regungslos auf dem Fußboden liegen. In seiner Brust ein rotes Loch. Ich stürzte zu ihm.

„Maȟpíya Sápa. Maȟpíya Sápa. Maȟpíya Sápa."

Weinend brach ich auf seiner Brust zusammen. Der Fremde packte meinen Arm, riss mich daran hoch. Ich schrie und trat um mich, aber er trug mich mühelos weg. Im Erdgeschoss sah ich meine Eltern mit weit aufgerissenen Augen bewegungslos auf dem Boden liegen. Beide waren von dem Mann erschossen worden. Doch ich wollte nur zurück zu Michael.

„Scheiß Pensatori", murmelte der Fremde, als er mich zu seinem Auto brachte. „Ich werde euch alle vernichten."

Schweißgebadet wachte ich auf. Luca schlug sofort seine Arme um meinen bebenden Körper.

„Alles ist gut. Das war nur ein böser Traum."

Ich klammerte mich zitternd an ihn. Wieder liefen mir die Tränen wie Sturzbäche über das Gesicht. Das eben war kein Traum. Es war meine Vergangenheit. Mit einigen Details, die ich zuvor vergessen hatte.

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